Die Titanic war sein Schicksal
Liverpool im Jahre 1912 Januar - April
Auszug aus den Erinnerungen von Mary Kelly, Mutter von James Kelly
* 17.03.1890 - ✝ 15.04.1912
Ein Reporter der Times hatte James gefragt, wo er seine Karriere begonnen hatte. Die Antwort war kurz und prägnant: „Oben!“ Das war nicht sonderlich erstaunlich, denn auf der Brücke befanden sich die Verantwort-lichen eines Schiffes meistens oben. Und seit jener Nacht verließ er die Brücke nie mehr. Sie waren Einwanderer, John und
Mary Kelly, irischer Abstammung und ihr Sohn James seinem Traum ganz nah. Bald sollte auch er ein so gigantisches Schiff, wie die Titanic, als Kapitän befehligen, so wie Edward John Smith, der ein erfahrener Seefahrer und verantwortungsvoller Mann mit gutem Leumund war. Neben Smith auf der Brücke zu stehen, das war für James das beste Gefühl, das er jemals hatte. Er war stolz und freute sich auf die Seereise nach Amerika.
Die Titanic war das Traumschiff ihrer Zeit und viele Menschen erhofften sich in der neuen Welt die mageren Jahre hinter sich zu lassen. Familien, die Hoffnung im Herzen trugen, einfache Arbeiter, die
Reichtum ersannen und die Upper-Class, die ihr Geld loswerden wollte. Ebenso hätten sie es nur in den Atlantik werfen können, so wären zwar ihre Münzen und Scheine gesunken doch ihr Leben hätten sie sich bewahrt.
Für seine berufliche Laufbahn lernte James mit enormem Fleiß. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Der blässliche Junge hatte einen durch-schlagenden Erfolg. Er machte den Eindruck, als könne er niemals etwas vergessen. Und vergessen machte ihn nur die Zeit.
Im Januar 1912 bekam er die lange ersehnte Zusage der White Star Line, auf der Titanic neben Kapitän Smith, einen
Posten auf der Brücke zu beziehen. Bei einem exklusiven Dinner im Country Club lernte sich die Besatzung kennen. Star Line hatte gut gewählt, als man James mit dieser Nebenrolle bedachte.
Von nun an war er der zuverlässigste und engagierteste Seefahrer, den die Line je eingestellt hatte. Eine tolle Karriere für einen so jungen Mann.
Was hatte er außer seinen Fleiß noch anzubieten? Eine große Portion Selbstbewusstsein und gutes Aussehen. Sicherlich hätte eine ganze Generation junger Mädchen in aller Welt ihm zu Füßen gelegen, und so hätte er den Reportern bestimmt eine Menge Gesprächsstoff liefern können. Doch
James erlag dem Zauber, der Farbe und dem Duft des Meeres. Eine windige, salzige und nasse Romanze mit der kühlen Küste von England.
So betrat er voller Zuversicht und Stolz das riesige Stahlkorsett der Titanic am 14.04.1912, die zur Jungfernfahrt im Hafen von Liverpool lag und ihren riesigen Bauch zum Eintritt für die vielen Passagiere öffnete. Die Zeitungen hatten für das modernste Schiff, das die Werft je gebaut hatte, eine Foto-Story inszeniert und das Schicksal begann bereits den Unglücksteppich zu flechten, das Muster wurde langsam deutlicher.
Alles lief noch nach Plan und bald wären in New York die „Oberen
Zehntausend“ vollständig versammelt gewesen. Die Hauptdarsteller dieses Spektakels, das so in keinem Drehbuch durchgegangen wäre.
James dürfte sich mühsam in seine neue Rolle eingelebt haben, stieß er bei den Reichen bestimmt auf Misstrauen und Ablehnung, da er nicht aus der Heimat stammte. Aber dieser Herausforderung bewältigte er sicherlich mit seinem väterlichen Zuspruch: „Be a winner“ und James war ein Gewinner. Er gewann die Herzen dieser Leute, das war ganz sicher.
Am 15.04.1912 verstarb James unter tragischen Umständen, als die Titanic in den blauen Fluten des Atlantiks
verschwand.
Sie kollidierte am 14.04.1912 gegen 23:40 Uhr mit einem Eisberg und versank zwei Stunden und 40 Minuten später. Nach Tatsachenberichten und Hinweisen vermutete man, dass die Titanic zwischen 1490 und 1517 Menschen mit in den Tod nahm.
Mütter haben eine Intuition, sie fühlen wenn ihren Kindern Gefahr droht. Auch Mary fühlte in dieser Nacht, dass etwas schreckliches Geschehen war. Sie schlief nicht und dachte unentwegt an ihren Sohn und an das unbeugsame Eismeer, der Weg nach Amerika, der für so vielen Menschen Glück und Freiheit bedeutete. Seit jener Nacht war es dunkel in ihrem
Leben. James, ihr einziges Kind, ihr geliebter Sohn, fand nur den einen Weg, ein Weg in den Tod. Mit 22 Jahren, am Anbeginn seines Lebens unterlag er den Gewalten des Atlantiks.
Von Trauer und Verzweiflung geplagt war in ihrem Herzen nur noch Schmerz und Sehnsucht zu finden. Die Tränen versiegten irgendwann, doch der traurige Ausdruck in ihren Augen blieb.
Der Platz, den James hinterlassen hatte, blieb leer und das Lächeln, das den schönen Mund von Mary stets umspielte, war mit James gestorben.
Für James
Mein Verstand ist wirr,
mein Herz trägt schwer,
so viele Tränen weinte ich,
meine Augen sind leer.
Leer ist nun auch der Platz,
an dem du gesessen,
mein Lächeln ist mit dir gegangen,
dich werd' ich niemals vergessen.
In Liebe und Trauer,Mary Kelly
© Petra Ewering