"Liebe und Monster" ist gleichzeitig Kurzgeschichte wie Projekt. Jedes Kapitel hat 100 Wörter mehr wie das Vorherige.
Es ist Isabella Jeremy Summers gewidmet.
Ich brauchte meine Fantasie nicht, um mir die perfekte Frau auszumalen. Es reichte, wenn ich die Augen öffnete und einen Blick auf sie erhaschen konnte, wenn sie ihre Brille zurecht schobt oder ihre Haare zum Zopf band. Das Lächeln, das sie den Leuten schenkte, wenn sie die Post verteilte war Gold wert. Ich wunderte mich, ob ich die einzige war, die sie so sah. Vielleicht war ich der Liebe wegen geisteskrank, aber ich hatte das Gefühl, dass sie das wert sein würde. Mit einem 'Hallo' ihrerseits war es sehr viel
leichter, den Arbeitstag zu beginnen.
Jeden Tag aufs Neue.
Helena, so hieß sie. Ihren Namen wusste ich nur vom Namensschild an ihrer Weste und ich wünschte mir manchmal, sie würde meinen Namen kennen. Ich trug kein Namensschild, weil ich zu unscheinbar war. Vielleicht auch zu unsichtbar. In diesen großen Bürokomplexen war es schwierig, nicht anonym zu bleiben. Manchmal fragte ich mich, wie es wäre, sie anzusprechen. Aber worüber sollten wir reden? Ich arbeitete gar nicht in ihrer Abteilung. Wir waren zu
verschieden. Ich wette sie war unheimlich gescheit und gab sich nur der Freundlichkeit wegen mit Menschen wie mir ab. Ich hatte keine großen Erwartungen an dieses Leben. Ich lugte manchmal hinter meinem Schreibtisch hervor und starrte sie an, für wenige Sekunden, weil ich alles von ihr wissen mochte. Fragen konnte ich sie nicht. Das wäre zu seltsam. „Hallo Helena, Sie kennen mich nicht, mein Name ist Molly aber ich möchte Sie kennen lernen.“ Sollte sie denken, dass ich ein Freak bin? Mein Herz klopfte, wenn sie ihren Blick
schweifen ließ und in meine Richtung schaute. Obwohl sie mich natürlich nicht sah, aber ich bekam trotzdem schweißnasse Hände. Dann atmete ich immer tief ein und rief mich zur Vernunft.
Als ich zu ihrem Schreibtisch hinüber schielte, war sie verschwunden.
Ich widmete mich wieder der Arbeit, weil ich eine kurze Deadline hatte. Eigentlich hatte ich die immer, weil ich nie den Mund aufmachte um zu sagen, dass ich es unfair fand, das man meine Schüchternheit ausnutzte. Aber im Endeffekt konnte ich mit dem Stress umgehen, weil mein Leben sonst nicht sonderlich aufregend war. Eine Stimme holte mich aus meinen Gedanken und ich sah grübelnd auf. Da stand Helena plötzlich vor meinem Schreibtisch und lächelte auf mich
herab. „Hallo“, sagte sie mit einer Ruhe in der Stimme, die mich überraschte. Sie konnte mit fremden Personen so locker umgehen, wie ich es gern getan hätte. Stattdessen stotterte ich meist nur und gab mich damit zufrieden für einen Freak gehalten zu werden. Um ihr zu antworten, brachte ich gerade ein knappes 'Hi' heraus und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Erde an Molly, jetzt nur nicht durchdrehen. „Ich finde es schade, dass wir hier mehr oder weniger gemeinsam arbeiten, aber noch nie ein Wort gewechselt haben.“
Helena strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und hinter die Ohren, rückte dann ihre Brille zurecht. „Mein Name ist Helena Hunt. Wie die Jagd.“ Sie streckte mir die Hand entgegen, höflich. Bestimmt war das einer meiner Tagträume und ich wachte jeden Moment auf. „Also, ich jage selten. Bevorzugt Schokolade und Gummibärchen“, fügte sie hinzu und setzte ein Lächeln auf, das jemandem wie mir ebenfalls eines auf die Lippen zauberte. Ich wusste nicht, dass sie witzig war und notierte es auf meiner imaginären Helena Liste.
„Dein Name ist Molly, nicht wahr?“
Sie führte einen Monolog mit mir, aber ich bekam die Zähne nicht auseinander. Es war eine Schande, aber dafür war sie ziemlich geduldig mit mir.
Selbst wenn es ein Traum war, musste ich die Gelegenheit nutzen. Irgendwas sagen. „Ich bin irgendwie Molly.“
„So, irgendwie Molly. Nett, dich kennen zu lernen. Ich hoffe, das 'Du' ist dir nicht unangenehm.“ Helena lächelte und es wirkte nicht im geringsten aufgesetzt. Meines wahrscheinlich schon, weil ich mit dem hier absolut überrumpelt war. „Ja, ähm. Nein, das ist mir nicht unangenehm. Mit Flip Flops ins Büro zu kommen wäre eine Qual.“ Im selben Moment schalt ich mich für meine Dummheit. Da hatte ich die Gelegenheit mit ihr zu sprechen und dann kam ich mir gleich so hilflos vor. Sie würde nie wieder mit mir reden, wenn ich mich
nicht anstrengen würde. „Ich bin nicht verrückt, keine Sorge“, fügte ich hinzu und versuchte, ruhiger zu werden. „Ich sorge mich selten. Das gefällt meinen Eltern weniger, aber ich habe dadurch weniger...“ Sie schien für einen Moment abwesend, wohl suchte sie nach einem Wort oder es hatte ihr die Sprache verschlagen. „weniger Sorgen, irgendwie. Da siehst du mal, dass nicht nur du aufgeregt bist. Nicht, dass ich dir unterstellen würde, dass du aufgeregt bist. Bin ja nur ich.“ Sie kratzte sich verlegen am Kopf und tief in meinem Gehirn vergraben, legte sich ein Schalter um und mir ging ein Licht auf.
Versuchte sie gerade mit mir zu flirten? „Ich rede mich immer um Kopf und Kragen, eigentlich wollte ich dich nur fragen, wo du deine Mittagspause verbringst, ich würde sie gern mit dir verbringen. Also, nur wenn du das auch willst, natürlich.“ Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach, denn diese Situation hier war für mich völlig surreal. Lange genug hatte ich sie über den Schreibtisch an geschmachtet und jetzt sprach sie mit mir, bot mir sogar an, mit mir die Mittagspause zu verbringen. Das hier musste definitiv ein Traum sein, aus dem ich jederzeit aufwachen würde! Vorsichtig zwickte ich mich in den Arm,
doch nichts änderte sich. „Also?“ Sie erwartete eine Antwort, Panik ergriff mich. Es war gar nicht so schwer, einfach 'Ja' zu sagen, aber ich hatte auch Angst, mich wie eine Idiotin zu verhalten. Doch eigentlich war es einfach. Ich wäre eine Idiotin gewesen, nicht zu bejahen. „Ach, weißt du was? Ich wollte gar nicht so aufdringlich sein, es tut mir leid“, unterbrach sie meine Gedanken und aus Reflex hob ich mich geräuschvoll aus meinem Stuhl, woraufhin sie zusammen
zuckte. „Ich würde liebend gern die Mittagspause mit dir verbringen, Helena“, sagte ich schnell und ihre Augen wurden vor Überraschung ganz groß.