Hunger
Viele wissen gar nicht, was „Hunger“ bedeutet. Sie weisen höchstens auf das Hungergefühl, auf den knurrenden Magen hin und können gar nicht beurteilen, wie es ist, wenn man wirklich Hunger hat und womöglich Gras essen würde, nur um dem beißenden Ansturm da innen Herr zu werden.
Hunger? In der heutigen Zeit? Nun, wenn man sich die wohlbeleibten Herrschaften anschaut, die träge in ihren Motorkutschen dahinstolzieren, wenn man sich selbst Harz4-Empfänger anschaut, die in der Masse der Passanten auffällig beleibt daherlaufen und wohl einen großen Anteil der Bevölkerung darstellen, fragt man sich, was macht man falsch, dass man so ein Hungerhaken ist. Vielleicht ist die Frage aber auch falsch. Vielleicht müsste es heißen, was macht man richtig, um nicht so wie die anderen zu sein? Gut, bei manchen Leuten ist das Dicksein krankheitsbedingt und hat nichts mit der Lebensführung zu tun, doch bei den meisten, die sehr wohl etwas dagegen tun könnten, liegen derartige Erkenntnisse nicht vor.
Sie sind einfach zu faul, zu träge, in ihrer Lebenseinstellung zu träge, um etwas zu ändern. Vielleicht wollen sie es auch nicht – man ist vielleicht zu sehr an das Umfeld angepasst, das ja auch so ist. Eine fadenscheinige Ausrede, die um das Problem, was vielleicht keines ist, herumführt?
Wer weiß. Spekulationen sind eine Zierde der persönlichen Psychologie.
Hunger. Vielleicht liegt es daran, dass die Lebensweise ausschweifender ist, als der Geldbeutel zulässt? Oder der Geldbeutel zu klein geraten ist, um eine vernünftige Lebensweise generieren zu können?
Aber, was ist schon „vernünftig“?
Das liegt im Sinne des Betrachters.
Hunger – ich weiß, was das ist. Das endlose Umherstreifen in der Küche, dem leeren Kühlschrank doch noch etwas zu entreißen, etwas, was eigentlich nicht vorhanden ist. Das kneifende Gefühl im Bauch; die Empfindung, dass es einem schlecht geht; dieses elendige, bohrende Beißen im Innersten! Auf der Suche nach etwas, was den Magen füllt, egal was, Hauptsache das Hungergefühl schwindet. Es muss nicht schmecken, es muss sättigen.
Gut, schmecken soll es auch, aber in erster Linie geht es ums Überleben. Man kann ja nicht ewig nur trinken! Und damit meine ich jetzt nicht den Alkohol, sondern stinknormales Wasser.
An den Geschirrspüler in der Flasche wage ich mich nicht. Ich weiß, der bekommt mir nicht und - schmecken? Weit gefehlt…! Die Küche wird kopfübergestellt, man beginnt sie kennenzulernen, unfreiwillig, bis ins kleinste Eckchen, bis man eventuell fündig wird. Vielleicht. Irgendwo muss etwas sein …! Wenn man verschuldet ist, fehlt es an allem, so ist das nun mal …
Man geht des Nachts zum Schweinestall und klaubt heimlich Schweinekartoffeln, eine minderwertige Sorte, die eigentlich zur Schweinemast dienen sollte. Es ist peinlich, doch vonnöten! Und Linsen – in Hülle und Fülle, Gewürze, Wasser alles vorhanden. Aber mehr auch nicht.
Linsen können kein Geldersatz sein. Aber den Magen füllen. Fazit: Kochbuch raus, Linseneintopf kochen. Ohne Fleisch, nur Linsen, Kartoffeln, Gewürze, Wasser. Salz ist vorhanden, zum Glück! Drei Wochen Linseneintopf. Früh, Mittag, abends. Ich kann das Zeug nicht mehr sehen! Aber der Hunger treibt’s rein. Kein Geld vorhanden, sich auf den Weg zu machen, um einkaufen zu können. Nichts. Erst in drei Wochen gibt es den nächsten Hungerlohn. Fürs Nichtstun. Arbeitslos - sagt man. Die Lebensweise war vorher eine andere. Man musste sich umstellen, mit wenigem auszukommen. Plötzlich! Von heute auf morgen! So schnell geht das aber nicht! Also weiter Linseneintopf.
Früh, Mittag, abends. Kann schon keine mehr sehen. Aber wenn der Hunger kneift, ist alles egal. Hauptsache essen und satt sein…
Drei Wochen Linsen. Dann kam Geld. Endlich! Der erste Einkauf kam mir wie Luxus vor, etwas, was anderen Leuten vielleicht selbstverständlich ist. Und die nächsten 11 Jahre gab es keine Linsen mehr. Konnte sie nicht mehr sehen. Bis irgendwann die Lust kam, doch mal „wieder“ Linsen zu kochen. Und sie tatsächlich schmeckten. Hunger… Ich weiß, was das ist. Hunger ist etwas, was einen dazu verleiten könnte, bei der Nachbarin im Kühlschrank zu stöbern und sich etwas zum Essen zu stibitzen und hoffen, dass sie es nicht merkt.
Wenn man denn Zugang hat. Wenn nicht …
Verzweifelte Aktionen, die einen zum Äußersten treiben. Ich möchte dieses nicht wieder durchmachen müssen. Doch ich spekulierte damals, dass diese Zeit irgendwann wiederkommen könnte. Aber dann unter einem anderen Stern und anderen Umständen, die diesmal nichts mit der Lebensweise zu tun haben und einen dennoch betrifft. Doch dann ist es nicht meine Schuld – doch damit umgehen muss ich dennoch.
Ich will es nicht noch mal durchmachen, was aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht bedeutet, ich würde maßlos sein. Nein, noch ist mir Vieles von dem, was anderen normal erscheint, Luxus – etwas Besonderes, was ich mir nicht jeden Tag leiste.
Und manchmal – bin ich auch einfach zu faul, mir etwas zu machen.
Bis der Zeitpunkt gekommen ist, wo ich essen muss, wo der Magen kneift, weil ich Hunger habe …