Der sture Igel
Wisst ihr was wirklich, wirklich unglaublich ist? Ein Freitagnachmittag in unserer Kleinstadt! Noch dazu im Hochsommer. Verkehrsmäßig ein Alptraum – vor allem wenn die A4 durch eine Baustelle eingeengt ist. Man hat das Gefühl, dass jeder Autofahrer dem Stau auf der Autobahn ausweichen will und daher durch das ansonsten recht beschauliche Städtchen fährt. Die Hauptdurchzugsstraße ist dann beinahe ein einziger Parkplatz. Und das in der größten Hitze des Tages.
Normalerweise meide ich die
Hauptstraße an so einem Wochentag zu so einer Jahreszeit wie die Pest. Doch die einzigen beiden Apotheken der Stadt liegen genau dort, sowie die Post und andere wichtige Knotenpunkte unserer Kleinstadt. Was kann man also tun, wenn man dringend ein Medikament braucht? Dazu noch einen eingeschriebenen Brief aufgeben möchte und vielleicht auch noch schnell die letzten vergessenen Lebensmittel einkaufen muss? Genau! Man stürzt sich todesmutig in den Straßenkampf voll aggressiver, unduldsamer und trotz Klimaanlange schwitzender Autofahrer.
Unter solchen Bedingungen heben sich sogar die genderspezifischen
Unterschiede zwischen Frauen und Männern auf. Beide Geschlechter stehen sich in ihrer Ungeduld und ihrem Repertoire an wohlmeinenden Worten während solcher Grenzerfahrungen von Hitze und Stau in nichts nach. Gerade sehe ich neben mir eine blonde Frau mit hochrotem Kopf sehr bezeichnende Gesten ausführen und einem Motorradfahrer so richtig die Meinung deuten. Wohl mit allen dazugehörenden netten Ausdrucksweisen. Der wiederum antwortet mit ebenso deftiger Gestikulation. Ich bin nur froh, dass ich eine Klimaanlage in meinem Auto besitze und daher meine Fensterscheiben geschlossen halten kann. Die akustische
Untermalung der Gebärdensprache beider Kontrahenten bleibt mir damit zum Glück erspart.
Während sich auf der Hauptstraße verkehrsmäßig alles noch weiter zuspitzt, biege ich mit meinem Kleinwagen bereits zur innerstädtischen Parkgarage ab. Hier zeigen sich eindeutig die Vorzüge einer Kleinstadt. Zwei Stunden darf Mann/Frau dort gratis parken, was auch viele zu nutzen wissen. Zeit genug alle meine Einkäufe und Wege zu erledigen.
Die Abfahrt zur Garage liegt direkt neben dem gepflegten Stadtpark auf der einen Seite und einem kleinen Bach – dem ‚Kalten Gang‘ – der verwilderten Pflanzenwuchs mit Büschen und sogar
Bäumen aufweist, auf der anderen Seite. Eigentlich ein sehr idyllisches Plätzchen, doch auch bis hierher dröhnt der Verkehrslärm und das ungeduldige Hupen der immer noch schwitzenden Autofahrer.
Als ich endlich alle meine Besorgungen und Einkäufe erledigt habe und natürlich mit mehr Einkaufstaschen beladen als geplant wieder in die Seitengasse Richtung Parkgarage einbiege, sehe ich ein kleines Etwas aus einem Busch am Rand des ‚Kalten Ganges‘ in Richtung Straße huschen. Ein niedliches Igeltier ist hier wohl gewillt das wilde, schattige Bachufer gegen die gepflegt zurückgestutzten Büsche des Stadtparkes
einzutauschen.
Und obwohl die Seitengasse zur Parkgarage ein eher selten befahrenes Straßenstück ist, gibt es an diesem Tag auch hier etwas mehr Verkehrsaufkommen als sonst. Sofort ist meine Tierliebe voll entflammt und ich haste, so rasch es mir mit all den Packen möglich ist, zu dem kleinen Igel, der bereits den Gehsteig verlässt und zielstrebig den Stadtpark anzupeilen beginnt.
In Ermangelung einer freien Hand stelle ich dem eifrigen Igel meinen Fuß in den Weg und schubse ihn ein wenig an, dass er wieder in Richtung des kühlen Baches gedreht
wird.
Als der Igel die Berührung meines Fußes spürt, rollt er sich sofort ein und spielt tot. Wunderbar. Ein Mann, der den Schatten eines Baumes am Bach ausnutzt und sich dort am Stamm angelehnt ausruht, blickt tadelnd zu mir. Doch ich bin mir keiner Schuld bewusst. Als der Igel sich nach einer Minute immer noch nicht bewegt, kommen aber selbst mir Zweifel und ich entferne meinen Fuß. Mittlerweile fließt mir der Schweiß bereits in Strömen herab.
Doch der Igel ist unerbittlich. Zuerst bleibt er liegen, als hätte ich ihm tatsächlich mit meinem Fuß den Garaus gemacht, dann erhebt er sich blitzschnell
und eilt noch verbissener als vorhin auf die Mitte der Straße zu. Sofort stelle ich ihm wieder meinen Fuß vor die Nase, was ihn erneut in die Haltung ‚toter Igel‘ fallen lässt. Eine Pattsituation.
Hinter mir, auf der hektischen, vollgestopften Hauptstraße, hört plötzlich sämtlicher Verkehrslärm auf. Jedenfalls erscheint es mir so. Ich kann förmlich die Blicke der Autofahrer auf meinem schwitzenden Rücken spüren. Mir ist auch, als könnte ich auf einmal in dieser Ausnahmesituation mit Sturzbächen an Schweiß vor Hitze und Anstrengung, im Kampf gegen die Sturheit des Igels, mit den Augen anderer sehen.
Wie Pfeile spüre ich nicht nur die Blicke in meinem Rücken, sondern sehe auch – wie wohl alle Autofahrer auf der Hauptstraße, die in die Seitengasse Richtung Parkgarage blicken können – eine Frau, mit schweren Packen beladen, mitten auf der Fahrbahn stehen. Mit ihrem Fuß vollführt sie dabei die seltsamsten Bewegungen und scheint absolut nicht gewillt zu sein, die Fahrbahn für den Verkehr freizugeben. Das kleine Igeltier, das sich wieder einmal tot stellt, sieht niemand.
Einige Autofahrer, die in die Seitengasse Richtung Parkgarage einbiegen, blicken mich an und schütteln den Kopf, als hätte
ich nicht alle Tassen im Schrank. Niemand sieht diesen sturen Igel, der von meinem Fuß verdeckt in erbarmungswürdiger, krummer Haltung vor mir liegt. Nur die Autofahrer die aus der Garage selbst kommen, erkennen mein Dilemma und weichen brav aus, so es denn der Gegenverkehr zulässt.
Irgendwie kommen der Igel und ich nicht weiter. Ich will das Tier auf keinen Fall weiterlaufen lassen und der Igel will auf keinen Fall auch nur einen Millimeter von seinem Weg abweichen. Schließlich bücke ich mich und schiebe meine Taschen mehr schlecht als recht an das Tier heran, um es fassen zu können. Das Bild, das sich mir bietet, als ich
wieder eine Sinneserfahrung eines der Autofahrer auf der Hauptstraße bekomme, ist jetzt noch skurriler. Dieselbe Frau, die vorhin mit verrenktem Fuß dagestanden hatte, kniet jetzt auf allen Vieren auf dem Asphalt und werkelt mit ihren Beuteln herum. Einen ganzen Fahrstreifen blockiert sie bereits. Ich spüre richtiggehend wie einer der Autofahrer schon nach seinem Handy kramt, um wohl den Notruf zu wählen. Ich gebe wirklich kein gutes und schon gar kein gesundes Bild mehr ab.
Umso mehr beeile ich mich den Igel, der plötzlich nicht mehr in seiner Totenstarre verharrt, zu fassen und ihn über die gesamte Fahrbahn in Richtung
Stadtpark zu tragen. Zu fest will ich nicht zugreifen, um ihn nicht zu verletzen, zu sanft aber auch nicht, damit er mir nicht entgleiten kann.
Schließlich schaffen wir – der sture Igel und die schwitzende Frau mit den vollbeladenen Taschen – es irgendwie doch glücklich beim Stadtpark anzukommen. Erleichtert setze ich den Igel ab, der plötzlich wieder – wie kann es anders sein – seine Totenstarre angenommen hat. Selbst als ich mich zwei Schritte von ihm entferne.
Mittlerweile fahren weitere Autos an mir vorüber, deren Insassen kopfschüttelnd das Geschehen kommentieren.
Mir kamen bereits die Tränen. War mein
Einsatz unter diesen schweren Bedingungen vielleicht doch umsonst gewesen? Hat den armen Igel zwar kein Autoreifen, dafür aber der volle Beutel einer einkaufswütigen Frau erdrückt?
Der Igel ist aber scheinbar nicht nur eigensinnig, er ist auch hart im Nehmen. Zuerst zucken seine kleinen Beinchen, dann steht auf und eilt stur seiner Richtung entsprechend tiefer in den Stadtpark hinein. Wohin auch immer es den kleinen Kerl mitten am Tag so eilig hinzieht, er dürfte es endlich geschafft haben, sein Ziel zu erreichen.
Die Begebenheit macht mich trotz aller Mühen und dem Verlust meines guten
Rufes dennoch zutiefst zufrieden. Aller Widrigkeiten zum Trotz hat die Tierliebe gesiegt. Weder hundert aggressive Autofahrer noch die Sturheit des Igels selbst konnten den glücklichen Ausgang dieser Aktion vereiteln.
Mit einem wohlwollenden Strahlen begebe ich mich in die Parkgarage und will mich schon in mein Auto setzen, als ich erkennen muss, dass mir irgendwo auf der Straße, während meiner aufopfernden Rettungsaktion, der Autoschlüssel aus der Tasche geglitten sein muss.