Schnell noch einen Blick in den Spiegel. Keine Wimperntusche verschmiert.
Nicht zu viel Lippenstift aufgetragen, wobei ich den bis zu unserem Treffen sowieso wieder abgeleckt habe.
Die Haare fest gesprüht, damit sie wenigstens etwas liegen.
Ach was soll's, wenn ich erst einmal draußen bin, ist die äußere Schönheit durch kalten Winterwind hinweggefegt. Dann muss die innere Schönheit sich eben ans Tageslicht kämpfen.
Ich lächle leicht vor mich hin.
Schönheit liegt doch immer im Auge des Betrachters und ich finde mich überhaupt nicht schön.
Aber dann höre ich Elisabeth sagen: „Du
musst daran glauben, meine Schöne.
Du bist schön.“
Es ist mir echt peinlich, wenn sie so etwas zu mir sagt. Aber heute, heute will ich daran glauben.
Ich bin mit ihm verabredet.
Mit ihm, dem Mann meiner Träume.
Träume.
Ich träume im wahrsten Sinne des Wortes von ihm. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sein Gesicht. Wenn ich ins Internet gehe, ist das Erste, ich suche ihn. Mein Herz klopft wie verrückt, wenn er da ist und ich mache mir Sorgen und Unruhe befällt mich, wenn er nicht da ist.
Aber, er ist nicht mein Traummann.
Dafür ist er wahrscheinlich meinem Mann viel
zu ähnlich.
Während ich diesen Gedanken nachhänge, bin ich bereits auf dem Weg zum Alexanderplatz.
Heute werden wir uns das erste Mal treffen. Mein Herz klopft bis zum Hals. In meinem Magen rumort es und meine Beine sind vor Aufregung wie Pudding.
Normalerweise treffe ich mich nie mit Fremden. Schon gar nicht mit Männern. Elisabeth hat gesagt: „Nutze die Gelegenheit. Lebe jeden Moment des Glücks aus. Du brauchst das, meine Schöne.“
… und wenn es nun ein Reinfall wird? Wenn er nun ganz anders ist, als ich dachte? Zum Glück weiß er nichts von meinen Gefühlen für ihn. Er ist nur ein ganz normaler
Chat-Freund. Dabei soll es auch bleiben. Schnell noch mal das Spiegelbild in der Fensterscheibe der Straßenbahn begutachten. Da stehe ich. Klein, rund, graue Haare … und na ja.
Meine Winterjacke trage ich jetzt das zehnte Jahr. Hose. Stiefel. Die Stiefel sind neu, aus dem vergangenen Jahr und noch nicht getragen. Wieder einmal ganz in Schwarz. Schwarz macht schlank. Oh Gott. Sehr witzig.
Alexanderplatz.
Hier muss ich raus.
Vielleicht sollte ich doch einfach umkehren. Man bin ich nervös.
„Hallo Schuetzlein.“
Schuetzlein ... das bin ich und der vor mir ... ist er.
Ich denke, ich muss ersticken. Ein Klos sitzt mir im Hals. Ich grinse, denke ich.
„Hallo. Schön dich zu sehen.“
Ich krächze es heraus. Nur nicht anmerken lassen, dass ich total hippelig bin.
Er merkt es nicht. Oder er will es nicht merken. Eine leichte Umarmung und ich denke, man was riecht der gut. Dann setzen wir uns in Bewegung und schlendern über den Weihnachtsmarkt.
Wir sind schon ein komisches Pärchen. Ich reiche ihm gerade bis zur Brust. Schön zum Anlehnen und kuscheln.
Immer wieder schaue ich ihn verstohlen von der Seite an und suche nach Anzeichen, ob es ihm vielleicht unangenehm sein könnte, mit mir hier entlang zu bummeln. Immerhin bin
ich um viele, viele Jahre älter als er.
Aber er wirkt keineswegs enttäuscht.
Wir schauen hier und da, was es in den einzelnen Verkaufshäuschen zu erstehen gibt und reden. Reden über dies und jenes. Alles ganz normal. Auch meine Nervosität stellt sich als total unbegründet heraus. Er legt seinen Arm um meine Schultern und ich finde es … toll. Wir kaufen kandierte Mandeln, drei Stände weiter eine Bratwurst. Dann setzen wir uns in eines der Häuschen und er holt für jeden einen Glühwein.
Wir lachen und scherzen und dann schaut er mich an.
Was hat er doch für sexy Augen. … und die Wimpern. Schwarz, lang. Jede Frau würde ihn darum beneiden. Ich bin echt versucht,
meinen Blick von seinen hellbraunen Augen abzuwenden. Aber ich …
Er schaut mich noch immer an und langsam beugt er sich vor. In unseren Augen ist wahrscheinlich schon das Verlangen nach dem anderen zu sehen. Mein Herz klopft wieder bis zum Hals. Ich spüre die Hitze meines Blutes. Es kribbelt. Sekunden, gefühlte Minuten vergehen und dann finden sich unsere Lippen.
Zu erst nur eine zaghafte Berührung. Ein Tasten. Wie weit dürfen wir gehen. Dann fordernder. Seine Zunge öffnet sacht meine Lippen und begehrt Einlass. Als hätte ich nur darauf gewartet, beginnen unsere Zungen ein neckendes Spiel.
Ich war im siebten Himmel, ... aus dem ich jäh
auf die Erde zurück plumpste.
Er löste sich von meinem Mund und flüsterte mir ins Ohr: „Ich möchte so gern mehr von dir. Wollen wir gehen?“
Entgegen meinem Verlangen versteife ich mich. Da ist es. Das was ich mir von ganzen Herzen wünsche und doch nicht bereit bin zu nehmen und geben. Ich kann es nicht.
„Was ist? Was hast du?“
Er sieht mich fragend an, ob er jetzt nicht vielleicht einen Fehler gemacht hat.
„Ich kann es nicht. Nicht, dass ich nicht wollen würde. Ich kann es schlicht nicht. Ich weiß nicht wie. Ich habe total null Ahnung.“ Das versteht er nicht. Ich sehe es ihm an. „Du weißt was nicht? Wovon hast du keine Ahnung?“
Irritiert rückt er ein kleines Stück von mir ab, nur um mich besser sehen zu können.
Ich werde rot. Es ist mir so was von peinlich. Wie soll ich einem wildfremden Menschen erzählen, dass ich von Sex keine Ahnung haben.
Ganz leise flüstere ich: „Na Sex. Mit jemanden schlafen. Ihn anfassen. Mich anfassen lassen.“
Er kann es fast nicht gehört haben und doch …
„Aber ich denke du hast drei Kinder? Du warst verheiratet? Du musst doch ...“
Ich unterbreche ihn mit einem flüchtige Kuss. Das ist auch nicht meine Art, jemandem einen Kuss aufzudrücken.
„Ich bin verheiratet. Aber das ist nicht der
Grund. Es ist anders … und sehr kompliziert.“, versuche ich zu erklären.
„Ich höre. Erzähl es mir. Warum hast du mir nichts davon geschrieben?“
Zärtlich schaut er mich an und ich merke, wie ich immer mehr erröte.
„Ich habe davon geschrieben. Nicht dir, aber bei myStorys. Ein ganzes Buch. Briefe. Gedichte. Aber du hast es nicht gelesen. Du warst lange nicht da.“
Er nimmt mein Gesicht in seine Hände, haucht mir einen Kuss auf die Nasenspitze und meint: „ Erzähle es mir. Jetzt. Wir nehmen uns alle Zeit der Welt.“
… und so erzähle ich ihm meine Geschichte.
Ich komme aus ..., wie soll ich es sagen ...
Während meine Mutter versuchte, die Familie mit dem bisschen was da war, einigermaßen annehmbar durchzubringen, drückte mein Vater nebenbei die Schulbank für ein Diplom und noch ein Diplom ... Man kann nie genug lernen. Nur studierte Leute verdienen viel Geld und Geld schafft Ansehen.
Das war bei uns zu Hause die Devise.
Lernen – Geld – Ansehen.
Ich ... ich bin da wohl etwas aus der Art geschlagen. Ich bin nicht dumm, nein, aber ich hatte einen „Hang zum Niederen“, was man mir mitnichten durchgehen lassen konnte. Also gab es Verbote.
Keine Jungs. Keine Disco. Spätestens
22:00 Uhr zu Hause. Freundinnen mussten zu
Hause vorgestellt werden.
Zuerst die Schule, die Familie, Hausarbeit, … lange Zeit nichts … und dann ich.
Ich weiß gar nicht, wie oft ich unsterblich in einen Jungen verliebt gewesen war. Aber sagen konnte ich es ihm nicht. Ich war doch ein … Nichts? Wenig wert?
Wir sind nach Berlin gezogen.
Meine Eltern bekamen jeder einen besser bezahlten Job. Dafür kann man getrost ignorieren, dass ich in der Schule gemobbt wurde. Ach nein, so was gab es zu der Zeit ja noch nicht. Egal.
Ich war unglücklich.
Mit 15 von meinem Freundeskreis getrennt. Von der Kleinstadt in die Großstadt.
Von Sachsen nach Berlin.
Über Beziehungen bin ich ein Jahr später in eine Ausbildung gerutscht, durfte aber nun meinen Eltern keine Schande machen.
Okay, zwei Jahre stehst du durch und dann was anderes. Habe ich mir immer eingeredet. Was sind schon zwei Jahre. Mit achtzehn von zu Hause weg … war nicht.
Ehekrach, Scheidung, Entscheidung für ihn oder sie oder keinen von meinen Eltern? Dann meine Freiheit.
Ich bin nach Thüringen zum Studium für ganze drei Jahre.
Die schönsten Jahre meines Lebens.
Endlich frei. Machen, was ich will. Jungs, Disco, und und und.
Doch so sehr ich mich danach gesehnt hatte, so deprimierte mich dies auch.
Ich wurde von allen gemocht. Ich war eine gute Freundin, ein guter Kumpel. Aber ich war auch immer die, die auf die Taschen und die Drinks aufgepasst hat.
Das war es dann auch schon.
Küssen … das erste Mal mit 18 und mehr? Einmal. Ich war so darauf fixiert, mir jede Kleinigkeit, die da ablief, zu verfolgen und zu merken. Rauf, runter, fertig. Peinlich und erniedrigend … für mich. Er war ein lieber Kerl. Aber ob er merkte, was in mir vorging? Ich glaube es nicht.
Mehr war nicht. Nie wieder.
Ich begann zu grübeln, gab mir jegliche Mühe, nicht in Depressionen zu verfallen. War ich zu dick? Zu hässlich? Zu verklemmt? Ich wusste nicht mit Jungen umzugehen.
Ich konnte es nicht. Es war wie ein Schalter „Achtung Mann“.
Nach dem Studium bin ich dann wieder bei meiner Mutter und meinen beiden Geschwistern eingezogen. Eigene Wohnung war nicht und zum Vater mit seiner jungen Frau erst recht nicht. Also ging's da weiter, wo es vor dem Studium aufgehört hatte.
Erst die Arbeit, die Familie, … dann … ich.
Meine Freundinnen waren mittlerweile verheiratet. Hin und wieder gingen wir etwas Trinken, aber für mehr war keine Zeit.
Keine Gelegenheit.
Zwei „One Night Stands“, mehr anstrengend, als denn befriedigend und … peinlich für mich. Zum Glück hab ich diese Typen nie wieder gesehen.
Mit 25 dann endlich meine eigene Wohnung. Jetzt konnte ich leben. Kommen und gehen, wann ich wollte.
… und dann traf ich ihn. Ihn ... meinen Mann. Ich war fast sechsundzwanzig und wollte unbedingt ein Kind. Ich war schon nicht mehr ganz jung, für ein erstes Kind. Und er ... er sollte es sein. Es hat gleich beim ersten Mal geklappt und er zog ohne große Umschweife bei mir ein.
Ich war so blöd. Anstatt ihn wieder vor die Tür zu setzen, habe ich ihn behalten.
Ich hätte es besser wissen müssen. Doch da war endlich jemand, der an mir interessiert war. Dachte ich.
Da ich gleich in der ersten Woche schwanger geworden bin, konnten wir auf weiteren
Beischlaf verzichten. Es war wieder so ein „Rauf-Runter-Fertig“ - Ding. Kein Sex, wie ich ihn mir vorstellte. Also musste ich es nicht haben.
Die Zeit verging, Arbeit, Familie, Arbeit, Familie … Ich wollte weitere zwei Kinder mit minimalsten Aufwand an Geschlechtsverkehr. Kein Problem. Berechnung ist alles.
Nach der Geburt der Jüngsten war nichts mehr mit „Sex“. Er war schlicht nicht nötig. Nicht dieser. Nicht so. Nicht mit ihm.
Wir haben nie darüber gesprochen. Ich habe einmal "nein" gesagt und das war's.
Wir leben seit fast 28 Jahren in einer Zweckehe.
Er kümmert sich um handwerkliche Kleinigkeiten in der Wohnung, sofern ich ihn
mehrmals darum angebettelt habe.
Und ich … ich kümmere mich um den Rest … ohne Aufforderung, ohne Murren, ohne Aufbegehren.
Dann kam der Moment, in dem mein Job gekündigt wurde, die Kinder flügge wurden und das Nest verließen und mir nur der Haushalt und der Mann blieben.
Ich stürzte mich in Bücher und musste feststellen, es gibt so vieles, was mir entgangen ist.
Wärme. Zugehörigkeit. Zuneigung. Romantik. Liebe. Sex.
Das war der Preis dafür, nicht allein zu sein, drei wundervolle Kinder zu haben.
Aber ich. ... Ich habe mich irgendwo in all den Jahren Stück für Stück verloren.
Das war meine Geschichte.
… nun sitze ich hier, drehe mein Glas mit dem inzwischen kalt gewordenen Glühwein zwischen meinen Händen hin und her.
Ein bedrückendes Schweigen ist zwischen uns entstanden. Wie wird er wohl reagieren, jetzt wo er weiß, dass ich mit meinen 55 von Sex keinerlei Ahnung habe und mir beim besten Willen keine Vorstellung davon machen kann, für einen Mann begehrenswert zu sein.
Still nimmt er mein Glas, steht auf und holt uns einen neuen Glühwein.
Noch immer Schweigen.
Wie gern würde ich wissen, was in seinem Kopf vor sich geht. Aber er schaut mich nur an.
Jetzt. Jetzt wird er mir bestimmt gleich zu verstehen geben, dass er sich wohl in mir geirrt hat.
„Warum hast du dich nie durchgesetzt? Warum hast du nie die Gelegenheit genutzt, das für dich Beste zu suchen? Du hättest dein Leben so gestalten können, wie du es willst. Du bist doch eine wundervolle starke Frau.“
Das hat er jetzt nicht wirklich gefragt und gesagt. Ungläubig schaue ich in sein Gesicht. Sehe seine braunen Augen, die Wangen mit den winzigen Bartstoppeln, seine vollen Lippen.
„Ich konnte es nicht. Es war nie der richtige Zeitpunkt. Da war immer jemand, der mich brauchte.“
Er schüttelt den Kopf. Also sehe ich mich gezwungen, es zu erklären.
„Ich … es ist meine Art … Ich kann nicht aus meiner Haut heraus. Ich traue mich schlicht weg so vieles nicht. Ich bin keine starke Frau. Ich muss wissen, dass, wenn ich etwas tue … ich muss wissen, dass es sicher ist.
Ich kann nicht ins kalte Wasser springen und um mein Leben schwimmen.
Ich springe nur, wenn mindestens ein Rettungsring zur Verfügung steht und ich sicher sein kann, das rettende Ufer zu erreichen. Ich brauche die Sicherheit.“
Leise, nur ganz leise sage ich ihm das und merke, er kann es nicht glauben.
Da fallen mir Ferdinands Worte aus myStorys ein.
„Aber der Widerspruch zu einigen Eigenschaften, die du dir angeeignet hast, bleibt, ansonsten hätte ich dich total falsch eingeschätzt und das würde mir leid tun.“
Ob ihm das jetzt auch so geht?
„Pass auf, ich bin so, wie im Internetprofil beschrieben. Muss ja, sonst hätte ich gelogen oder getäuscht. Im Netz bin ich ganz anders als im wahren Leben. Im Leben traue ich mir echt sehr wenig zu. Da bin ich äußerst zurückhaltend und schüchtern, eher ruhig, eben ein kleiner "Schisser". ... Das ist jetzt aber auch arg verzwickt. Ich will sicherlich nicht falsch rüber kommen. … Ach ich weiß nicht, wie ich es dir begreiflich machen soll.“ Verloren und ratlos zucke ich mit den Schultern und beobachte ihn vorsichtig von
der Seite.
Er sieht nicht böse aus. Eher ein wenig verwirrt, hilflos.
Was wird er mir jetzt sagen?
Ich habe das Gefühl, wieder einmal eine fantastische Gelegenheit zerredet zu haben, eine der wenigen glücklichen Momente verschenkt zu haben. Ich ärgere mich über mich selbst.
Elisabeth hätte mir jetzt wahrscheinlich gegen das Schienbein getreten und mich eine dumme Kuh geschimpft.
Aber ich bin, wie ich bin.
Wer mich haben will, nur so.
Ich kann mich nicht verbiegen.
Vielleicht langsam geformt werden, aber das hängt von ...
Bling .... bling …. bling .... bling .... bling ....
"S I E H A B E N P O S T"
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch.
Automatisch öffne ich die Mail.
… ich blinzle verwirrt und schüttle den Kopf, als ich da lese:
-------------ERINNERUNGSMAIL---------------
Der Abgabetermin für den Beitrag zur Storybattle „Lebensgeschichten“ endet in fünf Minuten!
Schuetzlein, hol deinen Kopf aus den Wolken.
Meine Hände streichen zärtlich über das Bild im Laptop.
Ich habe schon wieder meinen Fantasiegespinnsten nachgehangen. Bin mit meiner Sehnsucht ins weite Land der Träume geflogen.
Entrückt jeglicher Realität.
Fünf Minuten.
Keine Geschichte meines Lebens. Nur einen Traum.
Mit dem Resultat...
Eine ungenutzte Chance – ein verschenkter Moment.