Kapitel 50 Die Clans
Es tat gut, unterwegs zu sein. Zumindest, hielt es ihn davon ab, zu sehr über all das hier nachzudenken. Die ganze Situation kam Syle nach wie vor seltsam genug vor. Und er konnte sich nur darauf verlassen, dass Melchior und Kellvian schon wussten, was sie taten. Aber ihm kam es trotzdem vor, als würden sie fliehen. Die Worte des Sehers hatten ihn anfangs genauso beunruhigt, ja er war sogar dafür gewesen, sich erst einmal von Vara fern zu halten. Doch je mehr Zeit verging, desto unsinniger
erschien es ihm. Sie konnten doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und nichts tun.
Die vier waren nun seit zwei Tagen unterwegs und waren, von vereinzeltem Wild und den Kleintieren einmal abgesehen, bisher keinem anderen Lebewesen begegnet. Zumindest war es aber Lucien gelungen, zwei Rehe zu erlegen, so ihre Vorräte etwas aufzustocken und aus den Fällen behelfsmäßige Rucksäcke herzustellen. Die Wälder der Herzlande waren schier endlos. Das letzte Mal, als er sie durchquert hatte, war jedoch im Winter gewesen, wo der Boden hartgefroren und die Zweige mit Raureif und Schnee
überzogen waren. Grau, kalt, erfroren und Leblos. Jetzt hingegen, so kam es ihm vor, summte das Unterholz vor verstecktem Leben. Mäuse und Insekten, die von dem Lebten, was das Laub und die Früchte der Bäume hergaben.
Ein kleiner Wasserlauf zog sich zwischen den Stämmen der uralten Baumriesen hindurch, die hier an den Seiten des Pfads in die Höhe wuchsen. Die Zweige waren so dicht mit dunkelgrünen Blättern bedeckt, das sie das Sonnenlicht teilweise ausblendeten und grünlich schimmernde Schatten auf den Boden malten. Eine sanfte Windböe brachte die Äste in Bewegung und das sich verändernde Muster aus Schatten und
Licht erweckte beinahe den Eindruck, auf dem Grund eines Sees zu laufen. Der Sommer zeigte sich hier von seiner schönsten Seite und Syle atmete die nach Harz duftende Luft tief ein. Ein wenig erinnerte es ihn daran, wie alles begonnen hatte. Er und Walter waren Kellvian durch die Herzlande gefolgt, bis dieser sie schließlich zurück zur fliegenden Stadt geschickt hatte. Seltsam… er hatte lange nicht mehr an den toten Adeligen und Kameraden gedacht.
Syle spähte aufmerksam in die Schatten unter den Bäumen.
Eines schien sicher. Viele Menschen verirrten sich bestimmt nicht hierher. An
den Waldrändern und um die vereinzelten Siedlungen wurden die Bäume regelmäßig gerodet oder fielen den Köhlern und Schreinern zum Opfer. Und an den viel bereisten Handelsstraßen wurden die Wälder allein schon gelichtet, um es Banditen und Deserteuren schwerer zu machen, sich zu Verstecken und Reisende oder Karawanen zu überfallen. Hier jedoch, würden sie nicht einmal merken, wenn sich jemand näherte, bevor es zu spät war. Syle wusste nicht genau, wo sie sich befanden, nur das es weit abseits der Bewohnten Gebiete sein musste. Nur die am verbotensten lebenden Clans würden hier draußen ihre Lager
aufschlagen. Normalerweise hielten sich die Gejarn mit ihren Nomadendörfern in der Nähe der menschlichen Siedlungen, wenn sie auch meist außer Sicht blieben. Alles, was sie nicht selber herstellen konnten oder was ihnen nach der Ernte übrig blieb, konnten sie so einfach in Städten und Siedlungen eintauschen. Jetzt jedoch, wo Andres Armeen durch das Land zogen, wer wusste schon, was sie tun würden?
Syle beschleunigte seine Schritte etwas und schloss zu den anderen auf.
,, Weiß jemand, wo wir in etwa sind ?“ , fragte Lucien.
,, In der Wildnis.“ , antwortet Melchior nur. ,, Ich schätze das nächste bewohnte
Dorf ist noch einmal zwei weitere Tagesreisen von hier entfernt.“
,, Und ihr wisst auch nicht, wohin wir uns danach wenden sollen , oder ?“ Kellvian war stehengeblieben und hatte sich gegen einen Baum am Wegesrand gelehnt. ,, Wenn ich schon nicht nach Vara zurück kann, muss es irgendetwas anderes geben, das wir tun können. Ich werde nicht einfach weiter durch die Gegend ziehen, während Canton brennt.“
Der Seher wurde ebenfalls langsamer. ,, Wenn wir es bis zur nächsten Siedlung schaffen, können wir uns von dort vielleicht nach Süden wenden. Ihr habt doch Verbündete in Laos, oder?“
,, Ihr schlagt also vor, nach Helike zu
gehen und dort um Hilfe zu bitten ?“ Syle sah ihn an. ,, Würde man uns dort wirklich anhören ?“
Kellvian nickte. ,, Ich habe bei den Archonten noch einen Stein im Brett. Aber es wäre ein weiter Weg. Selbst wenn wir reiten und regelmäßig die Pferde wechseln, mindestens ein Monat hin und noch einer um wieder zurück zu kommen, falls Wys und der Händlerkönig uns nicht helfen können. Wenn sie uns wirklich eine Streitmacht geben sollten wir uns eher darauf einstellen, drei Monate unterwegs zu sein.“
,,Es wäre aber eine Möglichkeit.“
,, Besser als nichts ist es allemal.“
,schloss Lucien sich dem Gejarn an. ,, Was meint ihr Seher ?“
Der Seher grübelte einen Moment, bevor er antwortete: ,, Es könnte den entscheidenden Ausschlag geben. Es gibt jedoch Dinge, die sich schlicht nicht beeinflussen lassen, egal was wir tun.“
,,Zum Beispiel ?“ , fragte Kellvian. ,, Ich verstehe ja, das ihr auch nur tut, was ihr für richtig haltet, Melchior. Aber wenn ihr wie immer nicht mit mir redet, sondern alles bis zum letzten Moment für euch behaltet müssen wir Zwangsläufig Fehler machen.“
,, Eben, Kellvian. Das muss ich euch erlauben. Fehler zu machen. Ich habe auch einst eine Prophezeiung über euch
vor Konstantin ausgesprochen. Hätte ich euch immer genau gesagt, was ihr zu tun habt und was geschehen würde, mal davon ausgehend, ihr hättet mir geglaubt, was wäre wohl geschehen? Wenn ich euch gesagt hätte, das Zyle euch benutzt, Jiy euch töten wird, wenn sie die Wahrheit erfährt und Tyrus die Macht an sich reißen will ?“
,, Vermutlich… hätte ich Jiy zu den Clans zurück geschickt, wäre Zyle losgeworden und schnellst möglich in die fliegende Stadt zurück gekehrt. Und.. Tyrus hätte mir den Mord an Markus nicht anhängen können, weil ich nicht dort wäre und hätte wohl stattdessen versucht, mich zu töten. Da der
Seelensplitter in meinen Geist nie erwacht wäre, wäre ihm das auch gelungen. Der Meister hätte auch so bekommen, was er wollte und wir wären alle nicht hier.“ Kellvian sah den Seher an, als würde ihm das erst jetzt klar werden. ,, Das macht eure Prophezeiungen aber teilweise selbsterfüllend, oder ?“
,,Eben. Ihr versteht es. Nichts ist letztlich völlig sicher. Ich kann aber meine Visionen auch nicht ignorieren, denn vieles davon ist wahr. Nur nicht immer so, wie es selbst mir auf den ersten Blick erscheint. Damit wandere ich also, auf dem schmalen Grat, eine Katastrophe zu verhindern und sie
gleichzeitig nicht erst dadurch herauf zu beschwören.“
,,Dann könnt ihr euch aber auch nicht sicher sein…“
Melchior ließ den jungen Kaiser nicht ausreden, sondern hob nur eine Hand, als er verstummte.
,, Nein. So funktioniert das nicht, Kell. Es gibt Dinge, die, egal wie sich die Umstände, die dazu führen, wandeln, immer geschehen werden. Und diese kann ich erkennen. Kehren wir nach Vara zurück, sterben wir alle, bevor dieser Krieg ein Ende findet. Ich wünschte, es wäre nicht so. Das könnt ihr mir glauben, oder wütend auf mich sein. Es ändert
nichts.“
Kellvian hatte eine Hand auf den Schwertgriff gestützt und klopfte mit den Fingern auf dem silbernen Knauf herum.
,, Ich bin nicht wütend auf euch, Melchior. Ihr habt oft genug auf uns geachtet, auf eure Art. Also gut. Dann eben nach Laos. Gehen wir weiter.“
Syle rückte den Gurt Gewehr und die Tasche auf seinen Schultern zurecht, dann setzten sie ihren Weg unter dem kühlen Blätterdach fort.
Gegen Mittag wurden die Wälder sogar noch dichter. Die Stille war hier, bis auf ihre eigenen Schritte, vollkommen und genau das machte Syle nervös.
Normalerweise sollte er überall das Rascheln im Laub und die Rufe von Vögeln hören. Irgendetwas hatte vor nicht allzu langer Zeit alle Tiere vertrieben. Bevor sie dazu gekommen waren. Jemand war hier vorbei gekommen.
Der Gejarn äußerte seinen verdacht noch nicht. Es war nur ein Gefühl. Aber auf seine Gefühle konnte er sich meist verlassen. Geräuschlos ließ er das Gewehr von seinem Rücken in seine Hände wandern.
,,Ihr spürt es auch, oder ?“ , fragte Lucien neben ihm. ,, Gesellschaft.“ Der kaiserliche Agent hielt die Armbrust, gespannt, unter seinem Mantel
verborgen, jederzeit bereit zu reagieren, sollte sich irgendetwas rühren.
Kellvian und Melchior schienen es nun ebenfalls zu bemerken. Der Seher packte seinen Stab mit beiden Händen, während Kell überprüfte, ob die Klinge sich im Notfall richtig ziehen ließ.
Mittlerweile war Syle davon überzeugt, dass sie nicht mehr alleine waren. Wer immer die Vögel vertrieben hatte, war noch in der Nähe. Aber auf dem Weg war nichts zu sehen. Der Gejarn witterte, sog die Luft tief ein… Vielleicht verriet sich, was immer dort draußen war, durch seinen Geruch. Was ihm jedoch in die Nase stieg, verbrannte ihm lediglich die Nüstern. Tannenpech. Eingekochtes
Harz, das sich mit dem Duft des Waldes überdeckte. Normalerweise. Jedoch war dem Anwender scheinbar ein kleiner Fehler unterlaufen. Es war zu stark konzentriert, als das es einem Gejarn entgehen würde, der wusste, worauf er achten musste. Die Späher der kaiserlichen Garde benutzten die gleiche Substanz, wenn sie wussten, dass sie es mit Gejarn zu tun bekamen. Eine kleine Dose, die man geöffnet in der Tasche mit sich führte, reichte, damit einen nicht einmal mehr ein jagender Wolf fand.
Jemand da draußen hatte sich nicht nur verdammt gut versteckt… er hatte selbst daran gedacht, seinen Geruch zu
maskieren.
Jetzt hatten sie wirklich allen Grund, nervös zu sein, dachte er. Ein einfacher Bandit würde diesen Aufwand nicht betreiben. Noch weniger ein harmloser Reisender.
Und dann geriet der Wald plötzlich in Bewegung. Syle konnte nur erstaunt zusehen, wie Blätter und Unterholz mit einem Schlag zum Leben zu erwachen schienen. Er erkannte seinen Irrtum noch im selben Moment. Es waren Gejarn. Ein dutzend mindestens, die fast alle grüne Kleidung trugen, in die sich Zweige und Blätter eingeflochten hatte. Syle musste ihnen zumindest das zugestehen: Bis auf das Tannenpech hatten sie an alles
gedacht. Klingen und Musketen wurden auf die kleine Gruppe gerichtet, während die Gejarn rasch einen Kreis um sie bildeten. Vermutlich ein Spähtrupp eines Clans, überlegte Syle. Das war halb so schlimm. Wenn sie ohne es zu wissen, Clanland betreten hatten, ließ sich das aufklären…
Das war jedoch, bevor er sie sich genauer besah. Die meisten waren Wölfe. Grimmig dreinsehende Gestalten in braunem oder schwarzem Pelz. Darunter jedoch befanden sich auch ein Fusch, einige Bären und eine Löwin… wussten die Götter, was die so hoch im Norden zu suchen hatte.
Eines schien Syle jedoch klar, sie hatten
ein Problem. Die Clans arbeiteten nur sehr selten zusammen. Und diese bunte Truppe schien beinahe völlig unmöglich. Oder ?
Die Löwin war auch die einzige aus der Truppe, die nicht wie eine Kämpferin wirkte, auch wenn er sie ganz sicher nicht für harmlos halten würde. Ein buntes Sammelsurium aus Amuletten hing um ihren Hals. Glas und Metallringe, die das spärliche Licht einfingen und reflektierten. Gekleidet war sie in eine simple, braune Wollrobe, die der Gestalt jedoch wenig von ihrer Ausstrahlung nahm. Autorität. Eine Älteste ? , dachte Syle verwirrt. Warum sollte sie eine simple Schutztruppe
begleiten? Und noch etwas an ihr war seltsam. Syle schob es erst auf das unstete Licht, aber das Fell der Löwin war, bis auf wenige sandfarbene Streifen, vollständig ergraut. Entweder, dachte er, war diese Frau älter, als er sich vorstellen wollte, jemals zu werden, oder…
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sie schließlich sprach: ,, Wer seid ihr und was sucht ihr auf unserem Land? Ihr seid weit weg von euren Siedlungen, Menschen.“
Offenbar stellte sie die Anführerin des ungewöhnlichen Trupps da. Syle überließ es lieber Kellvian für sie zu
antworten.
,,Verzeiht, wir wussten nicht, das wir uns schon auf eurem Gebiet befanden. Ich hoffe aber, dass es keinen Grund für Feindseligkeiten gibt. Mein Name ist Kellvian Belfare…“
Falls sie den Namen kannte ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
,, Ich heiße Mhari. Wir haben die umgebenden Dörfer gewarnt. Ihr habt in unseren Wäldern fürs erste nichts mehr verloren. Uns ist durchaus klar, was in den Herzlanden vor sich geht. Armeen, die durch das Land ziehen, der Geruch von verbranntem Pulver im Wind… Und jetzt ein Haufen Fremder, die durch unser Land ziehen wollen. Könnt ihr mir
einen guten Grund nennen, euch nicht für Spione zu halten?“
Ein schwaches Lächeln spielte über ihre Lippen, als könnte sie die Antwort gar nicht abwarten. Sie glaubte selber nicht daran, dachte Syle. Ob Mhari nun wusste, wen sie vor sich hatte oder es nur vermutete… das hier war offenbar nur ein Spiel für sie. Nun, dann konnte er ihr vielleicht etwas zum nachdenken geben.
,, Ich hätte da vielleicht etwas.“ , antwortete er, während er vorsichtig nach dem Messer an seinem Gürtel tastete. Der zu einem Wolfskopf geformte Griff aus Elfenbein fühlte sich kühl an. Vorsichtig, damit ihn niemand
ausversehen erschoss, zog er den Dolch aus der Scheide und hielt die Waffe ins dämmrige Licht. ,, Fenisin von den Wölfen hat mir diese Waffe gegeben. Mit dem Versprechen auf freies Geleit.“ Und noch etwas mehr, dachte er, aber dass er ein Ausgestoßener war, behielt er besser für sich.
Mhari streckte eine Hand nach dem Dolch aus und Syle übergab ihr die Waffe. Sie besah sich den Gegenstand nur einen Moment, dann reichte sie ihn an den Bären zurück.
,, Ich denke, wir sollten eure Behauptung auch überprüfen.“ , erklärte sie.
,, Wie das ?“ , fragte
Kellvian.
,, Wir bringen euch zu Fenisin.“ Sie drehte sich zu ihren Leuten um. ,, Nehmt sie in die Mitte. Wenn einer von ihnen versucht Dummheiten zu machen… tut was ihr tun müsst. Solange sie uns unauffällig Folgen, haben wir keinen Grund, sie zu verletzen.“
Der Älteste war hier? Die verschiedenen Gejarn arbeiteten tatsächlich für einen Clan? Syle schossen ein halbes Dutzend ähnliche Fragen durch den Kopf. Was immer hier vorging, es war höchst seltsam.