Prolog
Es war einmal,… so sollte ein Märchen beginnen.
Es war einmal, vor langer Zeit, an einem weit entfernten Ort, als…
Mein Märchen beginnt anders.
Es beginnt mit:
Es sollte nie gewesen sein und doch, vor unendlich langer Zeit, an einem finsteren Ort, da ward ein Mädchen geboren.
Ein Mädchen gezeugt aus Hass und Verzweiflung.
Ihr erstes Gefühl? Angst.
Nach diesen ersten Worten wird normalerweise diese wunderschöne Hauptperson vorgestellt. Der Prinz. Die
Prinzessin.
Aber die Wahrheit ist, es gibt keine Prinzen. Und es gibt keine Prinzessinnen. Auch keine Feen oder wundersame Wesen.
Da bin nur ich.
Namenlos.
Und voller Angst.
Nun sollte etwas Erstaunliches folgen. Etwas, das so nie geschehen kann. Es ist meist etwas Wunderschönes oder Gefährliches und doch gibt es stets ein gutes Ende. Der Ritter erschlägt den Drachen. Die Fee wird gerettet. Kinderlachen.
Ein Ende?
Damit kann ich dienen. Doch dies Ende wird mein Ende.
Denn was geschah, das will ich euch heute
erzählen…
Kapitel 1
Die Luft um mich herum duftet nach Friedhof.
Ich hatte gewusst, dass so etwas geschieht. Denn der Tod kommt immer zu denjenigen, die ihn nicht verdienen.
Und er war nicht zu mir gekommen.
Nein. Er hatte ihn genommen.
Aber ich hatte es gewusst.
Wie gesagt.
In der Sekunde, als ich mich in ihn verliebte, da war sein Todesurteil geschrieben.
Meinetwegen.
Nun war es zu spät.
Voller Hass starre ich auf das braune, schlichte Kreuz. Es steht auf seinem Grab, wie ein Mahnmal. Niemand darf mich
lieben.
Ihr fragt euch, was geschah?
Ihr fragt euch, warum ich dies Schreckliche aufschreibe?
Mir bleibt keine Wahl.
Darum.
Denn dies ist mein letzter Brief. Für mich gibt es kein Weihnachtsmärchen mehr. Für mich bleibt nun bald die Zeit stehen, doch zuvor will ich euch erzählen. Von ihm. Von mir. Und von unserem Tod.
All das begann noch vor meiner Geburt.
Als ein junges Mädchen sich zum ersten Mal verliebte. Sie war sechzehn. Noch ein halbes Kind und doch sollte sie in dieser Nacht zur Frau werden.
Denn der, den sie so sehr liebte, tat ihr etwas
Unaussprechliches an. In dieser Nacht wurde ein Kind gezeugt. Ein Mädchen entstanden aus Hass und Verzweiflung. Es ist absurd, doch später wird sie sich wünschen, niemals geboren worden zu sein.
Wieso sie dies denkt?
Sie tötete ihre Mutter.
Nur neun Monate später erblickte ihr Kind das helle Blau ihrer Augen und verliebte sich.
Die Mutter aber war voller Hass. Hass auf das eigene Kind.
Darum zischte sie schlussendlich aus zusammengepressten Lippen die Worte hervor, die das Leben des kleinen Wesens für immer verändern sollten: „Du bist ein giftiger Scorpion, ich wünschte du könntest niemals lieben du dummes
Kind!“
Sie starb noch in derselben Nacht.
Das Kind aber überlebte.
Und dieses Kind. Das war ich.
Mein Name?
Scorpion.
Den Tod aber lernte ich erst richtig kennen, als ich Kind war. Doch ich will von vorne beginnen.
Mit dem 7.August vor zehn Jahren.
Mit meinem siebten Geburtstag.
Es ist, als wäre es erst gestern gewesen. So gut erinnere ich mich an ihre warmen Hände.
Ihre sanfte Berührung, als sie mich aus dem Schlaf holte.
Ihr lächelndes Gesicht, als sie leise meinen Namen
flüsterte.
„Scorpion.“
Ich drehte mich mürrisch um.
Ich wollte nicht zu den Menschen gehören, denn alles was ich bis zu diesem Tag sah war Hass.
Von allen Seiten war er mir entgegen geflammt. Als das Kind, das seine Mutter tötete gebrandmarkt. Denn sie war einst auf dem Kindbett verstorben.
Meinetwegen.
Diese Frau aber war das erste freundliche Wesen, das mir begegnete. Ich werde sie nie vergessen.
Immer wieder berührte sie meine Schulter.
Ich aber wartete darauf, dass sie mir die warme, flauschige Decke entzog und das
Fenster aufriss.
Doch es geschah keines von Beidem.
Irgendwann setzte sie sich neben mich und legte ihre Kühle Hand an meine andere Schulter. Ganz vorsichtig zog sie meinen schmalen Körper zu sich und flüsterte erneut meinen Namen.
„Scorpion.“
An diesem Tag verstand ich, was Liebe ist.
Sie ist dieses freundliche, warme Gefühl, das von anderen Menschen ausgeht und sich über dich legt, als wolle es dich beschützen.
Ich aber habe keine solche Wärme, die ich weitergeben kann.
Mich traf einst der Fluch meiner Mutter.
Drum war es so erstaunlich, dass diese Frau jetzt plötzlich neben mir
saß.
„Scorpion. Ich habe ein Geschenk für dich, aber du musst leise sein, damit die anderen Kinder nicht aufwachen.“
Da endlich schlug ich die Augen auf und sah in ein Augenpaar, das mir bisher nie aufgefallen war. Ich würde jetzt gerne sagen, sie war eine der Küchenhilfen oder eine Nonne, doch ich kann es nicht. Denn ich sah sie heute zum ersten Mal und später würde ich es nie erfahren.
Es gibt kein später.
Um ihre Augen waren schon einige zarte Fältchen und wenn sie lächelte bildeten sich jedes Mal kleine Grübchen an ihren Wangen. Sie sah so freundlich aus.
Ihr Gesicht sollte sich für immer in meine
Gedanken brennen.
In diesem Moment aber dachte ich nur an das Geschenk und quietschte erfreut: „Zeig es mir. Oh bitte, bitte zeig es mir.“
Kaum, dass diese Worte ausgesprochen waren, legte sie auch schon den Zeigefinger ihrer rechten Hand über meine Lippen.
„Das mache ich, aber du musst leise sein, sonst weckst du es auf.“
Sofort kehrte Stille ein und mein erwartungsvoller Blick traf sie direkt.
„Dreh dich um, es liegt neben dir, aber pass auf, es schläft.“
Und da lag es.
Mein Geschenk.
Auf der anderen Seite des Bettes.
Es schlief tatsächlich. Wenigstens sah es für
meine Kinderaugen so aus.
Das friedlichste Wesen, dass ich je gesehen hatte, es lag dort und schlief.
Was es war?
Nun, es war ein Teddy.
Mein Teddy.
Niemand kann beschreiben, was ich in diesem Augenblick empfand. Nicht nur für den Teddy, nein, auch für sie.
Diese mir unbekannte Frau, dort auf der Kante meines Bettes.
Doch in dieser Sekunde zählte es nicht, wer sie war, ich würde sie ja später wiedersehen, dann könnte ich sie fragen. Das dachte ich damals.
Heute weiß ich. Es war mein größter Fehler. Ich hätte sie fragen sollen. Hätte erfahren
sollen, wer sie war. Aber ändern kann ich es nun doch nicht mehr. Keiner kann die Zeit zurück drehen.
Also drehte ich den Teddy vorsichtig zu mir um. Meine Angst ihn nicht zu wecken, war zu groß, um ihn an mich zu pressen. Drum starrte ich minutenlang in seine schwarzen, wunderschönen Knopfaugen.
„Er ist wach.“, flüsterte ich leise und drehte mich wieder zu der Frau auf meinem Bett um.
Sie war inzwischen aufgestanden und lächelte wieder.
„Er möchte in den Arm genommen werden. Dann könnt ihr beide gut schlafen.“
Kaum, dass diese Worte im Raum standen legte ich meine dünnen Arme um seinen pelzigen Körper und zog ihn an
mich.
Es war das erste Mal, das ich lächelte.
Und zugleich auch das letzte Mal.
Bis ich sie endlich fragend ansah: „Und du?“
„Was meinst du?“, sie verstand mich nicht sofort.
„Legst du dich nicht zu uns?“
Sie schüttelte traurig den Kopf: „Nein, aber ich wecke dich morgenfrüh. Versprochen.“
Sie hielt ihr Versprechen nicht.
Am nächsten Tag war sie nicht hier.
Sie war nicht bei mir.
Und sie würde auch keinen Tag wieder bei mir sein.
Denn ich hatte sie lieb gewonnen und alle Menschen die ich jemals liebte und noch lieben
würde…
Ich mag nicht daran denken.
Sie starb.
Es war ein Unfall. Am nächsten Morgen erzählte es eine der Nonnen. Eine geliebte Schwester hatte ihren Kreis verlassen. Sie war morgens hinausgegangen um Brötchen zu holen.
Doch sie war bis jetzt nicht zurückgekehrt.
Später sollten wir erfahren, dass sie gestolpert war. Gestolpert. Mehr nicht. Auf dem steinigen Pfad, welcher aus dem Kloster hinaus führte.
Zuvor hatte sie mir noch diesen Teddy geschenkt.
Ein Stein beendete ihr Leben.
Er lag an der falschen
Stelle.
Wie ich davon erfuhr?
Die Nonnen erzählten es unter sich. Wir Kinder, die Namenlosen, wir belauschten sie manches Mal. Wenn sie nachmittags beim Kaffee saßen.
Ich erfuhr nie den Namen dieser lieben Frau oder ob sie wirklich eine der Nonnen war und doch werde ich nie vergessen, wie sie mir diesen Teddy schenkte.
Meinen Teddy.
Dies war der erste Tod in meinem Leben.
Am 7.August vor zehn Jahren besuchte er mich das erste Mal.
Es sollte nicht das letzte Mal sein.