Kapitel 49 Die WahL
,,Ich glaube er kommt zu sich.“
Alle um Kellvian drehte sich. Wieder einmal hatte er keine Ahnung, was genau geschehen war. Nur das er auf dem Boden lag. Mehrere Schatten beugten sich über ihn und durch den durchscheinenden Stoff eines Zelts konnte er Baumwipfel erkennen. Etwas sagte ihm, dass das nicht richtig sein konnte. Er versuchte sich krampfhaft zu erinnern, was geschehen war. Licht… Ein Bolzen aus Energie, der sich durch Männer und Mauerwerk fraß. Götter.
Wieso war er nicht mehr in Vara ?
In der Ferne hört er Vögel zwitschern, ansonsten war alles ruhig. Er drehte den Kopf etwas und versuchte mehr zu erkennen.
Es waren drei Gestalten mit ihm hier…
,,Wer… Was ist passiert?“ , murmelte er und setzte sich auf. Er trug noch immer die, jetzt freilich zerrissene und blutbefleckte, Kleidung, die er auf der Hochzeit getragen hatte. Nur seine Waffe fehlte. Vermutlich hatte er das Schwert verloren, als er Ohnmächtig wurde.
,, Ihr hattet eine recht unangenehme Begegnung mit Andres neuestem Spielzeug.“ , antwortete ein Mann in einem grauen Umhang. Luciens grinste,
starrte dann aber wieder betrübt vor sich hin. Der Mann saß im Eingang des Zelts und stocherte in der Glut eines heruntergebrannten Feuers herum.
,, Wir dachten schon, ihr würdet überhaupt nicht mehr zu Bewusstsein kümmern.“ , gestand Syle. Der riesige Gejarn musste fast auf allen vieren Laufen um unter der niedrigen Zeltstange Platz zu finden. Die dritte Gestalt jedoch, saß auf dem Boden, die Hände auf den Bernsteingriff eines Stabs gestützt. ,,Melchior sagte uns, wo wir euch finden, bevor es zu spät war. Und das wir euch in Sicherheit bringen müssen.“
Kellvian sah zu dem Seher herüber.
Natürlich, dachte er bitter. Und natürlich hatte er auch von Anfang an von dem Angriff gewusst, nicht ? Er erlebte einen der seltenen Momente, in denen er dem Mann schlicht an die Kehle gehen wollte. Nur zwei Dinge hielten ihn davon ab. Das Wissen, das Melchior ihnen, trotz der seltsamen Art, auf die er das tat, immer geholfen hatte und noch nie geschadet. Und der Umstand, das ihm alles Wehtat. Schon sich aufzusetzen ließ Schmerzen in seinem Schädel explodieren, das er glaubte, der Knochen würde zerspringen.
,, Erinnert mich daran, mir nie wieder zweimal hintereinander einen Schlag auf den Kopf einzufangen. Was ist mit Vara
?“ Und Jiy…
,, Wir… haben verloren, fürchte ich.“ , antwortete Syle. ,, Wir drei sind grade noch raus gekommen. Ich habe es nicht gesehen, aber ich fürchte, die Stadt ist gefallen, Herr.“
,, Jiy ? Zyle ? Eden ? Wer ist sonst noch raus gekommen?“ Er fürchtete sich bereits vor der Antwort.
,,Niemand der… hier wäre Herr.“ Syle sah zu Boden.
,, Das ist nicht eure Schuld. Ich bin mir sicher sie haben es geschafft.“ Überzeugt freilich, war er davon nicht. Aber die Alternative… darüber wollte er erst gar nicht nachdenken. Gedankenverloren strich er über den Silberring an seiner
linken Hand. Sei nur in Sicherheit, dachte er.
,, Wir haben das hier gefunden.“ Melchior holte einen kleinen Gegenstand aus der Tasche seines Mantels hervor und warf ihn Kellvian zu. Dieser fing ihn auf. Es war ein gesplitterter, grüner Edelstein, in einer beschädigten Fassung. Die Kette, an der er einmal gehangen hatte war ebenfalls gebrochen und notdürftig geflickt worden, vermutlich von dem Seher.
Kellvian schüttelte den Kopf. ,, Das ist schon vorher Passiert, Melchior. In der Halle. Jiy lebt noch. “ Das musste er doch Wissen. Er war dabei gewesen, oder nicht? Wieder einmal wusste er
nicht, was der Seher eigentlich bezwecken wollte. Nur das er das Spiel dieses Mal nicht mitspielen würde.
Er stand auf, auch wenn sein Kopf bei der Bewegung erneut protestierte. Kellvian schwankte etwas, fand dann aber sein Gleichgewicht wieder und trat nach draußen. Sie waren tatsächlich mitten im Wald. Das Zelt stand auf einer kleinen, kreisförmigen, Lichtung, die von hohen Buchen und Fichten umgeben war. Der Geruch von Harz und Laub füllte die Luft. In Helike war die Luft dagegen oft völlig geruchslos gewesen. Die Hitze hatte sie schlicht sauber gebrannt. Einem Teil von ihm hatte das Gefehlt. Auf seinen Reisen hatte er sich
daran gewöhnt, öfter unter freiem Himmel zu sein. Lucien hatte seinen Posten am Eingang des Zelts mittlerweile Aufgegeben und kehrte grade mit einem Arm voll Feuerholz zurück, den er auf die Glut warf. Der kaiserliche Agent ließ sich vor dem Feuer nieder und stapelte das Holz so auf, das s gleichmäßig abbrennen konnte.
,, Der Alte ist seltsam.“ , meinte er, als er Kellvian entdeckte.
,, Das sagt grade ihr ?“ , fragte Kell, als er sich zu dem Mann ans Feuer setzte.
Lucien schmunzelte. ,, ich glaube wir verstehen uns.“ Mit diesen Worten zog er einen Rucksack vom Eingang des Zelts zu sich heran, in dem sich Syle und
Melchior grade gedämpft unterhielten. Vermutlich versuchte der Seher den Bären von seiner Sichtweise zu überzeugen. Sollte er ruhig, dachte Kell. Am Ende würde er so oder so tun, was er für richtig hielt. Er war die Spielchen leid.
Lucien zog derweil einen Topf aus dem Gepäck, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn am Rand des Feuers ab, so dass es zu kochen begann. Dann warf er nacheinander einige Streifen Trockenfleisch, Brot und ein Sammelsurium aus getrocknetem Gemüse hinein und wartete, das der Eintopf fertig wurde.
,, Wer hat die Vorräte mitgebracht ?“ ,
wollte Kellvian wissen. Sie hatten doch sicher keine Zeit gehabt, irgendetwas einzupacken, wenn sie mit ihm auf der Flucht gewesen waren. Die Antwort schien offensichtlich, aber er wollte es trotzdem genau wissen.
,, Melchior hatte den Rucksack schon dabei, als wir euch auf der Straße gefunden habe.“
Der Seher und Syle waren ihm inzwischen gefolgt. Eigentlich hatte er gehofft, die beiden würden ihn einen Moment alleine lassen. Er musste nachdenken…
,,Wollt ihr wirklich hier herumsitzen und nichts tun ?“ , fragte der Seher vorwurfsvoll.
,, Im Gegenteil.“ , antwortete er. ,, Wir werden jetzt folgendes tuen, Melchior. Erst einmal, Essen wir, dann packen wir alles zusammen und machen uns auf den Rückweg nach Vara. Solltet ihr nicht mit kommen wollen, steht euch das frei. Aber ich weiß, wo mein Platz ist.“
Melchior sah ihn nur entsetzt an.
,, Ihr wollt wirklich nach Vara zurück laufen, nur um dann direkt Andre in die Hände zu fallen ? Er wird nach euch suchen, Kellvian, wir können nicht zurück.“
,, Das heißt, nur wenn ihr die Wahrheit sagt.“ , ergänzte er. ,, Ich habe nicht vor, mich Hals über Kopf in Richtung
Stadtore zu stürzen, Melchior. Wir nähern uns in einem Bogen von der anderen Stadtseite und sehen uns erst einmal alles genau an. Ich habe nicht vor, Andre den Gefallen zu tun, mich praktisch selbst auszuliefern.“
,, Mit einem hat er aber recht.“ , meinte Syle. ,, Wenn Andre die Stadt erobert hat, wäre es in jedem Fall ein unnötiges Risiko, zurück zu gehen.“
,, Wenn.“ , ergänzte Kellvian wieder. ,, Keiner von euch muss mich begleiten, aber ich muss wissen, was geschehen ist. Oder aber, Melchior, ihr sagt mir endlich die Wahrheit. Ich brauche schon einen verdammt guten Grund, um nicht erst einmal zurück zu gehen. Wir wissen
überhaupt gar nicht, ob die Stadt überhaupt gefallen ist. Ihr geht einfach alle davon aus, weil Melchior das behauptet.“
,,Und ihr kennt mich gut genug, das ich einen guten rund bräuchte, um zu Lügen. Bitte, Kellvian, vertraut mir. Wir können nicht zurück, oder ihr würdet euch das Leid nicht vorstellen können, das das zur Folge hätte.“
,,Vielleicht, wenn ihr mir einfach die Wahrheit sagt, Melchior. Ich bin nicht unvernünftig. Meistens. Das wisst ihr. Und ich weiß, dass ihr auf unserer Seite steht. Aber das ergibt einfach keinen Sinn…“
,,Prophezeiungen sind nicht für die
betroffenen bestimmt.“ , antwortete der Seher ruhig.
,, Aber Zyle habt ihr eine erzählt.“
,, Eine harmlose. Es änderte den Ausgang nicht, dass er sie kannte. Aber ich kenne auch euch, Kell.“
,, Dann wisst ihr aj auch, das mich nichts anderes überzeugen wird. Was genau ist los?“
Lucien rührte derweil den Eintopf um, während der Seher seine Antwort hinauszögerte. Kellvian fürchtete schon, er würde sich einfach weigern. Dann bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich auf sein Gefühl zu verlassen. Alles in ihm schrie danach, herauszufinden, ob es den anderen gut ging. Aber Melchiors
fast panischer Einwand gegen eine Rückkehr ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
,, Wenn ihr zurück geht… werden wir verlieren. Canton wird in Feuer untergehen, wenn ihr die Truppen zu diesem Zeitpunkt selbst führt. Soviel weiß ich.“
Kellvian seufzte. Zumindest, was den Inhalt seiner Visionen anging, darüber würde Melchior wohl nicht Lügen. Das hieß aber auch, er säße in der Falle. ,, Und wenn ich weiterhin so tue, als würde ich euch glauben und einen großen Bogen um Vara mache um… sonst wo hin zu gehen ?“
,, Dann gibt es vielleicht eine Chance.
Völlig sicher bin ich nicht. Aber es ist die einzige Alternative, die wir haben.“
Kellvian war mittlerweile von seinem Platz am Feuer aufgestanden und lief unruhig auf und ab.
,, Also nochmal. Ihr wollt, das ich meine Freunde, schlimmer, die Frau die ich Liebe, fürs erste in dem glauben lasse, ich sei Tod oder Verschollen, weil wir dadurch, vielleicht, eine kleine Chance auf den Sieg haben? Ich soll dem allen den Rücken kehren nur um dann am Ende vielleicht doch zu versagen?“
,,Ja. Das ist die Wahl, die ihr habt, Kell.“ , antwortete der Seher. ,, Das sind eure zwei Möglichkeiten.“
,,Das ist keine Wahl, vor die ihr mich
stellte Melchior…“ Kellvian war stehen geblieben. Götter, das war zu wenig, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Eine Chance ? Er schloss einen Moment die Augen. Aber wenn es eine gäbe, müsste er sie eigentlich ergreifen, oder? Wenn Melchior Recht hatte, gab es nur eine richtige Wahl.
Lucien holte derweil den Topf vom Feuer und folgt Kellvians Bewegungen mit den Augen. Zehn Schritte vom Feuer weg. Umdrehen. Zurück gehen. Also ob ihm das einer Lösung näherbrächte.
Kellvian sah seinerseits zu dem kaiserlichen Agenten, der, während die anderen auf seine Antwort warteten, einfach schon mal mit dem Essen
begann. Syle warf ihm einen säuerlich-amüsierten Blick zu, während Lucien den Eintopf löffelte.
,, Was denn ?“ , fragte er mit vollem Mund. ,, Bis der sich endlich entscheidet, bin ich verhungert. Was immer ihr auch tut, Kellvian, wir stehen hinter euch.“
Syle nickte , bevor er noch einmal im Zelt verschwand, als hätte er etwas wichtiges vergessen. Wenige Augenblicke später kehrte er auch schon zurück, einen mit Silber beschlagenen Degen in der Hand.
,, Euer Schwert, Herr.“ Der Gejarn hielt ihm die Waffe hin, während Kellvian sie einen Moment unsicher betrachtete. Die
Entscheidung stand.
,, Ich will es nicht.“ , antwortete er. Aber welche Wahl hatte er ? Wiederstrebend nahm er Syle die Waffe ab und warf sich den Tragegurt über die Schulter. ,, Noch weniger jedoch, will ich das all die Leute in Vara umsonst gestorben sind. Und nach euren Worten Melchior, sind sie das, wenn ich jetzt zurück laufe.“ Der Krieg hatte grade erst begonnen und er hatte jetzt schon genug davon. ,, Sehen wir also zu, das wir uns in Bewegung setzen. Wohin auch immer. Hauptsache, wir machen einen großen Bogen um die Stadt.“
,,Ihr tut das richtige.“ , meinte der Seher, der mitleidige Ton in seiner
Stimme war jedoch nicht zu überhören.
,,Das hoffe ich.“ , antwortete Kellvian. Sie aßen, was Lucien ihnen übrig gelassen hatte, dann brachen sie die Zelt ab. Nach einer halben Stunde war von dem Lager nur noch ein Haufen schwelende Glut übrig, die langsam erkaltete. Dann brachen sie auf. Wohin wusste er noch nicht. Syle schulterte seinen Rucksack, während Kellvian selbst die Zeltplanen zusammenband und auf seinen Rücken hievte. Sie würden sich bei nächster Gelegenheit darum bemühen müssen, ihre Ausrüstung zu ergänzen. Für den Moment jedoch hieß es: Auf die Straße und sich einen Weg tiefer in die Wälder der Herzlande
suchen. Kellvian hatte diese Art des Reisens vermisst. Er wünschte nur, er würde keinen so hohen Preis dafür zahlen. Hoffentlich ging es Jiy und den anderen gut. Vielleicht konnte er in der nächsten Ortschaft ja wenigstens unauffällig nach Vara fragen und so erfahren, wie es wirklich um die Stadt stand.