Nicht alltäglich, aber wahr!
Der Hauptgewinn
„Wo wollt ihr denn hin?“
Schon von weitem hatte Sabine gewunken, die mit ihrem Mann Bernhard und dem Sohn Tobias einen Spaziergang machte. Im Schlepptau hatten sie Bruno, den Neufundländer von Sabines Schwester. Sabines Eltern, Heiko und Rita, wollten gerade ins Auto steigen.
„Nach Philadelphia, zum Fischerfest.“
„Wir kommen mit. Wir bringen nur Bruno zurück.“
Da beide Töchter nur einen Fußweg von fünf Minuten entfernt wohnten, bedeutete das keinen Zeitverlust. Heiko und Rita standen nicht unter Termindruck. Sie wollten sich ja
einen schönen Nachmittag machen. Dass die Kinder jetzt mitkommen wollten, freute sie besonders. Schon eine viertel Stunde später ging es los.
In einer halben Stunde hatten sie ihr Ziel erreicht. Der kleine Ort bot nicht genug Parkmöglichkeiten und hatte aus diesem Grund eine Wiese zum Parkplatz umfunktioniert. Beim Aussteigen aus dem Auto patschte Heiko in weichen Schlamm, was ihm erst einmal die Laune kurzzeitig verdarb. Doch das auf Gäste eingestimmte Dorf hatte sich fein gemacht und ließ ihn hoffen, dass das „Fischerfest“ seinen Namen auch verdiente. An den Zäunen hingen bunte Wimpelketten, Luftballons waren an den Laternen befestigt und flotte Weisen klangen
aus einem Lautsprecher, der jedoch noch nicht zu sehen war.
Sie erreichten den Anger, auf dem sich Jung und Alt zwischen Würstchenbuden, Kinderkarussells, Schießständen und einem Bierzelt tummelten. Sabine wollte ein Grillhähnchen, Rita schloss sich ihr an, Bernhard und Tobias zog es zum Schießstand und Heiko verspürte Ärger in sich aufsteigen. Er hatte keinen Budenzauber erwartet, sondern ein Fischerfest.
Wo waren die Fische? Eine Weile guckte er seinem Schwiegersohn bei seinen erfolglosen Schießversuchen zu und schlenderte dann zu Sabine und Rita, die in einer Menschenschlange standen und hofften
auch irgendwann einmal ihr Grillhähnchen zu bekommen. Heiko schlug vor, sich in zwanzig Minuten am Riesenrad, das kaum größer als die Tanne in seinem Garten war, zu treffen. Frustriert schob er sich durch die drängelnden Festbesucher und entdeckte eine kleine Gruppe, die sich unprofessionell im Trockenangeln übte. Heiko war Sportangler. Verächtlich pfiff er durch die Zähne. Eine Weile schaute er gelangweilt zu und schlug dann den Weg zu einer Menschentraube ein, die sich um etwas scharte, das sich seinen Blicken entzog. Er schlängelte sich durch und stand vor einem überdachten Stand mit einem großen Verkaufstisch. Darauf reihten sich, sorgfältig mit Glashauben abgedeckt, Räucheraale,
geräucherte Forellen und Makrelen appetitlich nebeneinander. Das leise Brummen, das an Heikos Ohr drang, deutete darauf hin, dass diese Köstlichkeiten auch vorschriftsmäßig gekühlt wurden. Zwischen den Abdeckhauben standen kleine Behälter mit Blinkern, Angelsehne, Senkbleien und anderem Angelzubehör. Neben dem Stand qualmte ein Räucherofen. Vor dem Tisch standen zwei Losverkäufer. Heikos Laune besserte sich. Er zog gerne Lose. Viele! Und er hatte Glück beim Loseziehen. Schon zückte er das Portemonnaie und kaufte zehn Lose. Und schon waren 10 € weg. Ein frisch geräucherter Aal und eine Scheibe dunkles Brot, dazu ein kühles Bier zum Abendbrot wäre nicht schlecht. Eigentlich passte ein
Klarer dazu. Aber Heiko bevorzugte ein gepflegtes Pils. Erwartungsvoll öffnete er die Lose. Gleich die ersten beiden wiesen einen Gewinn aus. Die folgenden waren Nieten. Auf dem vorletzten Los prangte ihm eine fett gedruckte 13 in roter Schrift entgegen. Heiko sah sich die Haut vom Aal lösen. Die letzte Niete schnippte er nonchalant weg. An der Gewinnausgabe konnte er zwischen Bissanzeiger und Angelsehne wählen. Stolz reichte er die rote 13 dem netten Mann, der die Gewinne ausgab. Eine Glocke erklang. Hauptgewinn! Heiko wuchs vor Stolz eine Feder! In Gedanken an sein Abendessen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. An der Wand hinter dem Betreiber der Losbude - Heiko hatte ihm mittlerweile diesen Status
zuerkannt - standen einige Kartons. Einen davon griff sich der Betreiber und reichte ihn Heiko. Erwartungsvoll schaute Heiko hinein und zuckte irritiert zusammen als ihn zwei Augen anstarrten.
„Was ist das?“, flüsterte er erschrocken.
„Na, das sieht man doch“, antwortete der nette Mann hinter dem Verkaufstisch.
„Eine Ente.“
„Ich wollte einen Aal!“
„Grüne Zahl, Aal - rote Zahl, Ente.“
Damit war das auch geklärt. Heiko war ratlos. Aber nicht lange.
„Stellen Sie den Karton wieder nach hinten. Mein Enkel holt ihn nachher ab.“
Er ließ sich das Los wiedergeben und ging zum verabredeten Treffpunkt, wo seine
Familie schon auf ihn wartete.
Tobias hielt eine Papierblume in der Hand und war enttäuscht, dass sein Vater nicht die Hülse getroffen hatte, an der ein kleiner Plüschbär hing. Den hätte er Carina schenken können. Tobias war zwölf und das erste Mal verliebt.
Rita und Sabine meckerten über das Grillhähnchen, das nicht durchgegart war und Bernhard brachte die Sache auf den Punkt.
„Also ein Fischerfest habe ich mir anders vorgestellt.“
„Ich habe etwas für dich, Tobias“, schaltete sich Opa Heiko ein und wedelte mit dem Los.
„Das ist bestimmt ein Hauptgewinn. Eine rote 13! Schenke ich dir!“
Heiko zeigte seinem Enkel wo der Gewinn abgeholt werden konnte und Tobias stürmte freudestrahlend los. Die anderen schlenderten langsam hinterher. Auf halbem Wege kam ihnen Tobias mit dem Karton entgegen. Alle schauten hinein. Auch Heiko.
„Na, was ist das denn?“, rief er.
„Eine schöne weiße Ente“, antwortete Tobias ... „und jetzt fahren wir nachhause.“
Bernhard blickte recht nachdenklich auf die Ente, Rita und Sabine lachten sich kaputt und Heiko überlegte, wer im Dorf wohl die Ente schlachten könnte. Aber da würde sich schon jemand finden. In seinen Pupillen kreiste ein Teller mit leckerer Entenbrust und Rotkohl. Kein Gedanke galt der Tierliebe, die seinen Familienclan auszeichnete.
Das Auto war mit fünf Personen voll besetzt, also wurde der Karton mit Lebendinhalt, unter Protest von Tobias, im Kofferraum deponiert.
Für die Rückfahrt benötigten sie weniger Zeit. Die Ente sollte ja befreit werden. Zuhause angekommen wurde die Ente sofort auf den Rasen des Grundstücks ins Freie gelassen. Sie fühlte sich sichtbar wohl und zeigte Tobias ihre Dankbarkeit, indem sie ihm ständig hinterher watschelte.
„Wir müssen ihr einen Namen geben“, sagte Tobias.
„Das lohnt nicht“, antwortete Heiko.
„In drei Tagen ist sie in der Bratröhre.“
Ein empörter Aufschrei der anderen ließ den Teller mit Entenbraten aus seinen Pupillen
verschwinden.
„Paula“, entschied Tobias.
„Der Name passt zu ihr.“
Bernhard hatte inzwischen eine halbe Rolle Maschendrahtzaun aus dem Geräteschuppen geholt.
„Die ist ja süß“, rief Britta, die mit ihren Eltern gerade das Grundstück von Sabine und Bernhard betrat. Britta, Tobias´ Cousine und genauso alt wie er, wohnte gegenüber und war hier häufiger Gast. Claudia, ihre Mutter war Sabines Schwester. Carsten, ihr Vater, war nicht nur durch verwandtschaftliche Bande mit ihrem Onkel Bernhard verbunden. Dieser war auch sein bester Freund.
„Wo habt ihr denn die Ente her?“, lachte
Carsten.
„Opa hat ein Los gekauft und es mir geschenkt“, antwortete Tobias.
Bernhard hatte inzwischen die Maschendrahtrolle auseinandergerollt.
„Irgendwie müssen wir ein Areal für die Ente abteilen“, sagte er zu Carsten.
„Das ist zu wenig. Die Ente braucht Platz“, erwiderte Carsten.
„ ... und sie ist ein Wasservogel“, rief Britta.
Ratloses Schweigen breitete sich aus.
„Was frisst eigentlich eine Ente?“, meldete Rita sich zu Wort.
Heiko warf ihr einen bösen Blick zu. War denn sein Familienclan nun vollkommen durchgedreht?
„Was ist denn hier los?“
Max, der 14jährige Bruder von Britta stellte sein Fahrrad an den Zaun und gesellte sich zu den anderen. Alle redeten durcheinander, doch letztlich hatte auch er verstanden um was es ging.
„Wir können die Ente doch zu uns nehmen. Hinten am Zaun ist soviel Platz. Wir könnten ein schönes großes Areal für sie abtrennen“, schlug er vor.
„Ach ja“, rief Claudia.
„Ich wollte schon immer einen Gartenteich haben.“
Und schon begab sich die Großfamilie auf das gegenüberliegende Grundstück. Tobias hatte die Ente auf dem Arm, die sich offensichtlich wohl dort fühlte.
„Rita, wir fahren jetzt nach Hause“, sagte
Heiko.
„Du kannst ja schon rüberfahren. Ich gehe mit den Kindern mit und laufe nachher nach Hause.“
Das gefiel Heiko auch nicht. Also schloss er sich seinem Clan an.
Carsten und Bernhard begannen sofort mit der Errichtung eines weiträumigen Areals für Paula. Material war ausreichend vorhanden. Heiko hatte die Bauaufsicht übernommen. Bruno hatte die Ente freudig begrüßt und als neues Familienmitglied akzeptiert. Die beiden Katzen hatten zwar ihre Neugier bekundet, aber schnell das Interesse verloren. Max und Tobias waren mit den Fahrrädern unterwegs um Futter für die Ente zu besorgen.
Noch vor Sonnenuntergang hatten Bernhard
und Carsten ein Gebiet für Paula abgetrennt, das Platz für weitere einhundert Enten bot. Eine alte Waschschüssel aus Emaille wurde mit Wasser gefüllt und Paula vor den Schnabel gestellt. Paula schätzte diese freundliche Geste falsch ein. Ihre Schwimmversuche in der Schüssel misslangen. Beim Verlassen der Schüssel kippte diese um.
„Ich will einen Gartenteich“, tönte Claudia mit Nachdruck.
„Und die Einzäunung gefällt mir auch nicht. Dort kommt ein niedriger weißer Friesenzaun hin.“
Max und Tobias, denen es gelungen war, bei einem Bauern aus dem Ort, einen Sack Geflügelfuttermischung zu besorgen, stellten
fast synchron die berechtigte Frage:
„Wo schläft Paula heute Nacht? Sie kann ja nicht im Freien bleiben.“
Ratloses Schweigen. Carsten schlug den Geräteschuppen vor. Er erntete kaum Zustimmung. Doch eine andere Möglichkeit gab es nicht.
„Wir brauchen einen Stall!“, entschied Claudia. Bernhard und Sabine wurde es langsam peinlich. Tobias, Britta und Max fanden den Vorschlag gut. Heiko verfluchte das Fischerfest. Paula fühlte sich wohl.
„Rita, komm, wir fahren jetzt!“
Rita, die sich bis jetzt mit ihren Ratschlägen zurückgehalten hatte, wendete sich an Carsten und machte ihn darauf aufmerksam, dass Paula vielleicht Depressionen
bekommen würde, wenn sie so allein sein würde. Heiko fühlte heimlich seinen Puls.
Carsten gab Rita recht.
„Morgen kaufe ich noch zwei Enten.“
Nach vier Wochen hatten Paula und Claudia einen Gartenteich, dessen Ufer nur noch bepflanzt werden mussten, einen hübschen weißen Friesenzaun und Paula sowie ihre Gesellschafterinnen, zwei Pekingenten, einen Stall, neben dem sich das im Ort entstandene Begegnungszentrum für Senioren, bescheiden ausnahm. Der Sinn und Zweck des eingebauten Panoramafensters erschloss sich Heiko nicht. Sollte es Paula die Möglichkeit bieten den nächtlichen Sternenhimmel zu bewundern
oder wollte sich Carsten eine Möglichkeit schaffen, nachts mit einer Taschenlampe in den Stall leuchten zu können, um zu kontrollieren, ob die Enten nicht dem plötzlichen Ententod zum Opfer gefallen waren.
Der Familienclan war zum Kaffeetrinken bei Claudia und Carsten. Von der Terrasse beobachteten alle wie Paula elegant ihre Runden im Teich schwamm. Erst nachdem sie den Teich einige Zeit für sich allein genossen hatte, gestattete sie den Pekingenten den Zutritt zu diesem. In der hintersten Grundstücksecke lagerte, säuberlich abgedeckt, Stroh und eine Rolle Heu.
Die Kosten für den Gartenteich und den Zaun trugen Carsten und Claudia, die Kosten der übrigen Investitionen hatten sich die beiden jungen Familien geteilt. Paula gehörte ja schließlich Tobias. Die Urlaubsrücklagen waren geschrumpft. Heiko brauchte sich an den Kosten nicht beteiligen. Er hatte das Los bezahlt und es großzügig verschenkt.
„... und die wilden Tiere?“
Alle schauten zu Rita.
„Na ja ...“, setzte sie zur Erklärung an.
„Was soll das, Rita?“
Heiko war sichtlich nervös. Carsten wusste sofort, was Rita meinte.
„Sie hat ja recht. Der Wald grenzt direkt ans Grundstücksende. Wir haben Füchse, Marder, Waschbären, Minks, der rote Milan ...
und zweihundert Meter weiter auf dem Strommast ist der Horst eines Fischadlers.“
„Jagen Fischadler auch Enten?“, kicherte Britta. Max und Tobias waren mit den Fahrrädern unterwegs. Tobias hätte es gewusst. Die anderen guckten erst sich dann Bruno an. Bruno wusste es auch nicht und drehte den Kopf verlegen zur Seite, als wüsste er, was man von ihm erwartete.
„Auf Bruno ist kein Verlass“, sagte Carsten.
„Er freut sich über jeden, der zu Besuch kommt, und freundet sich unter Umständen mit einem Fuchs an.“
Bruno stand auf, sprang über den niedrigen Friesenzaun und verschwand im Entenstall.
Eine heftige Diskussion entbrannte, in der das Für und Wider der Anschaffung eines
Hirtenhundes abgewogen wurde.
Heiko bekam Hirnsausen. Waren denn jetzt alle verrückt? Und dann hatte Carsten die Idee.
„Nächste Woche kaufe ich drei Gänse. Die sind besser als jeder Wachhund. Wenn ein Fremder das Grundstück betritt oder Gefahr droht, machen die einen Rabatz, den hören auch Rita und Heiko bei sich.“
Heikos Hand zitterte leicht als er die Kaffeetasse absetzte.
„Gänse wollte ich eigentlich nicht“, maulte Claudia.
„Ich finde Gänse toll“, jubelte Britta.
„Ist das wirklich notwendig?“, zweifelte Sabine.
„Ja“, entschied Carsten, „oder was sagst
du, Bernhard?“
Bernhard fand die Idee brillant. Gänse waren preiswerter als ein Hirtenhund.
Schon zwei Tage später wurde der Federviehbestand um drei Junggänse erweitert. Paula hatte jetzt nicht nur zwei Gespielinnen, sie hatte auch noch drei Bodyguards. Sie war und blieb die ungekrönte Königin dieses Enten- und Gänseparadieses.
Im Spätherbst besuchten Heiko und Rita in einem benachbarten Dorf ein Kürbisfest. An der Losbude ging Heiko mit starrem Blick vorbei.
© KaraList 02/2015
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