Kapitel 48 Bürden
Andre de Immerson traf bereits am Nachmittag ein. Der Mann, dem Jiy sich, im Schreibzimmer des Patrizierhauses, gegenüber sah, trug seine typische, schwarz-violette Kleidung. Jedoch schien er mittlerweile leicht zu hinken und stützte sich auf einen versilberten Stab. Wohl noch die Folgen einer alten Verletzung, dachte sie. Die grauen Strähnen in seinen Haaren nahmen nun endgültig überhand. Jiy wusste nicht, was sie erwartet hatte. Vielleicht Überheblichkeit oder, das er direkt Forderungen stellte. Der Mann vor ihr
erschien jedoch nicht richtig glücklich zu sein. Andre sah sich neugierig im Zimmer um. Eine ganze Weile verharrte er vor einem der dunklen Holzregale und studierte die Titel auf den Büchern, die dort dicht an dicht aufgereiht standen. Vor einem mit grünem Einband verharrte er, bevor er sich dann zu Jiy umdrehte, die ruhig wartete. Die Unhöflichkeit, sie einfach am Tisch sitzen zu lassen, während er sich umsah, entging ihr zwar nicht, aber für den Moment würde sie es wohl einfach dulden. Zyle und die anderen hatten anfangs darauf bestanden, dabei sein zu wollen. Letztendlich jedoch hatte sie sich durchgesetzt. Wenn sie schon mit diesem Mann sprach, dann
alleine, ohne das ihr jemand reinredete. Sie hatte sich bereits einmal mit ihm Unterhalten und ob ihr Eindruck von damals nun stimmte oder nicht… Jiy hoffte einfach, dadurch vielleicht mehr zu erreichen. Die Gejarn ließ den Herrn von Silbestedt auf seiner Wanderschaft durch das Zimmer nicht aus den Augen.
,, Eine schöne Sammlung.“ , meinte er und deutete auf die gefüllten Bücherregale, die, bis auf die Fenster, sämtliche freien Flächen an den Wände einnahmen. Sein Blick schweifte noch einmal über die Regale und wanderte dann weiter zu den Rosengärten, die sich draußen vor dem Haus erstreckten. Andre strahle eine Selbstsicherheit aus,
die Jiy nicht gefallen wollte. Er war sicher nicht ohne genaue Vorstellungen hierhergekommen, wie dieses Gespräch enden würde.
,, Die Bücher hier gehörten Markus Cynric soweit ich weiß,“ , erklärte sie höflich. ,, ,dem früheren Patrizier.“
,,Ich hatte auch nicht erwartet, das ihr lesen könnt…“ Es klang nicht einmal wie eine Beleidigung, nur eine trockene Feststellung, wie eine Bemerkung über das Wetter. Andre ließ sich elegant auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder.
Jiy überging die Bemerkung einfach. Auch wenn es ihr nicht leicht viel, ruhig zu bleiben. Dachte Andre wirklich, die Clans würden ihren Kindern überhaupt
nichts beibringen? Oder hatte er schlicht so eine schlechte Meinung von Gejarn? Es spielte keine Rolle, sagte sie sich. Es ging hier nicht darum, was sie beide dachten sondern eine friedliche Lösung zu finden.
,, Wir haben euch hierher eingeladen, Lord Andre, damit wir uns Einigen können um diesen Krieg zu beenden. Ich würde lieber keine Zeit verschwenden, die andere mit ihrem Leben bezahlen könnten.“
,,Ich frage mich, ob Kellvian einem solchen treffen zugestimmt hätte… ?“ Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände zusammen. ,, Was meint ihr
?“
,, Ich… glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.“ Sie hatte das Gefühl, auf einen gefrorenen See hinauszutreten, dessen Eisschicht jeden Moment brechen konnte. Ein schwindelerregender Schub aus Furcht und Aufregung. Was tat sie hier? Jiy zwang sich ihre Gedanken zu ordnen. Sie war früher auch selten vor etwas zurück geschreckt. Es war nur neu, das war alles. Und sie wusste, was sie wollte. Das dieser Krieg endete, aber nicht, wenn dies bedeutete, das Andre alles bekam, was er wollte. ,, Es gibt einige simple Bedingungen, die ich stellen muss, bevor wir überhaupt beginnen, darüber nachzudenken, die
Kämpfe einzustellen.“ , erklärte sie mit fester Stimme. ,, Erstens, egal auf was wir uns Einigen… ihr werdet sämtliche Gefangenen freilassen, die ihr bisher gemacht habt. Alle.“
Ihr war der schreckliche Verdacht gekommen, dass es möglicherweise doch eine gute Erklärung dafür gab, das Kellvian nicht zurückgekehrt war.
,, Das dürfte schwer zu erfüllen sein. Ich brauche diese Männer. Silbererz trägt sich nicht von alleine ab. Und ich habe durch eure… Sturheit … auch kosten. Wenn ihr jedoch an jemand bestimmtes dachtet…“
,, Alle. Oder keine.“ Wenn sie Andre ins Gesicht sagte, dass sie befürchtete, er
hätte Kellvian, würde er das ausnutzen. Ob es nun stimmte, oder nicht, er würde so tuen als ob. ,, Der Preis den ihr zu Zahlen habt, wird dann jedoch auch… sehr viel höher.“ Es war seltsam, wie leichtfertig ihr die Drohung über die Lippen kam. Langsam aber sicher erkannte sie, wo sie auf Eis treten konnte und wo es nachgeben würde. Ihre innere Anspannung wuchs. Sie durfte einfach keine Fehler machen, sagte sie sich. Nicht wenn es um Andre ging.
,, Ich werde darüber nachdenken. Dann habe ich aber auch eine Bedingung.“
,, Die wäre ?“
,, Meinen Sohn. Ein geringer Preis, für alle meine Gefangenen, was meint ihr?
Kellvian hatte mir das verwehrt…“
Darum ging es also. Jiy seufzte innerlich. Sie befürchtete sogar, er sei vielleicht nur deswegen gekommen. Auf eine Art konnte die Gejarn das sogar verstehen. Trotzdem viel es ihr schwer, sich den Lord als sorgenden Vater vorzustellen.
,, Darüber kann ich nicht entscheiden.“ , antwortete sie und hoffte, dadurch zumindest Zeit zu gewinnen. ,, Und das werde ich auch nicht.“
Andre lies die gefalteten Hände sinken. Seine Mine zeigte mühsam unterdrückter Wut.,, Man hat mir einmal eine ähnliche Antwort gegeben.“
,, Wollt ihr mir jetzt etwa drohen ?“ Jiy
rückte, ohne es zu wollen, ein Stück auf ihrem Platz zurück. Sie wusste nur zu gut, das es Kellvian gewesen war, der Andre gesagt hatte, er würde Zachary über so etwas entscheiden lassen. Nicht ihn.
,, Euer Kaiserreich hat mir schon einen Sohn genommen. Ihr nehmt mir keine zwei und wenn das bedeuten würde es mit Stumpf und Stiel auszulöschen. Ich bin ohnehin grade dabei. Vielleicht ist euch das entgangen…“ Andre war aufgestanden und starrte von der anderen Tischseite auf sie herab.
,, Und vielleicht überschätzt ihr euch.“ , antwortete Jiy, während sie sich zwang, ruhig zu bleiben. Sie konnte spüren, wie
das Eis unter ihr brach. Aber jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr. ,, Habt ihr noch weitere Bedingungen oder wollt ihr wirklich wegen eurem alten Groll jede Vernunft vergessen ?“ Sie wusste bereits, dass es dafür zu spät war. Eigentlich hätte sie darauf bestehen müssen, das Gespräch später fortzusetzen. Aber für einen kurzen Moment entglitt ihr die Selbstkontrolle, zu der sich die Gejarn gezwungen hatte. Dieser Mann vor ihr hatte so leichtfertig alles zerstört, was sie sich erträumt hatte. Er hatte sie um Kellvian gebracht… Jiy stand selber auf. Das unvertraute Gefühl in ihrer Magengrube, nackte Wut, brodelte
auf.
,, Ihr könntet einfach aufgeben.“ , erklärte er. ,, Das wäre der einfachste Weg um Leben zu retten, wenn euch daran so viel liegt. Zumindest wäre ich dann bereit euch zu verschonen.“
Andre nahm sie einfach nicht ernst. Er sah vor sich sicher alles, nur nicht die momentane Anführerin der kaiserlichen Garde. Nur eine Gejarn auf einem Platz, den sie in seinen Augen mit nichts verdiente. Jiy schüttelte den Kopf. ,, Nein!“
,, Wir würden beide bekommen, was wir wollten, oder ?“ Andre lachte leise. ,, Kellvian ist tot. Wofür wollt ihr eigentlich weiterkämpfen? Ihr ergebt
euch und ich erhalte damit einen legitimen Anspruch auf den Kaiserthron. Und ihr… bekommt euren Frieden. Was immer das auch heißen mag. Kein Blutvergießen mehr. Ich mache dieses Angebot nur einmal.“
,, Raus…“ Jiy deutete in Richtung Tür. Einen Moment glaubte sie dort eine Bewegung wahrzunehmen, dann galt ihre ganze Aufmerksamkeit jedoch wieder Andre.
,, Ihr seid keine Kaiserin, kleine Gejarn. Und ihr solltet besser nicht anfangen zu glauben, ihr könntet jemals eine sein. Ihr werdet mich noch darum anbetteln euer Leben zu verschonen.“
Jiy vermied es, irgendetwas zu erwidern.
Dieser Mann war ein schlichtes Monster. Hatte er wirklich geglaubt, sie einfach einschüchtern zu können, damit sie alle die Waffen niederlegten? Geister, sie war sich selten so verloren vorgekommen.
Andre machte seinerseits keine Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten. Der Mann war mindestens so wütend wie sie.
,, Verschwindet.“ , murmelte sie erneut. ,,Jetzt.“
,, Ihr gebt mir keine Befehle, kleine Gejarn. Ich fürchte ihr habt schlicht vergessen, wo euer Platz ist.“ Bevor sie reagieren konnte, hatte der Mann eine Hand zum Schlag erhoben. Ein
entfernter Teil ihres Verstandes wollte es schlichtem Wahnsinn zuschieben, aber sie konnte die Abscheu in seinen Augen sehen. Als hätte er ein widerliches Insekt vor sich, kein anderes denkendes Lebewesen… Der Hieb jedoch traf sie nie. Stattdessen wurde Andre auf einmal rückwärts gerissen, als hätte ihn die Faust eines Riesen getroffen. Im Sog des Luftstroms, der den Lord zu Boden warf, wirbelten Papiere auf und der plötzliche Abfall im Luftdruck, ließ Jiys Ohren schmerzen. Die schweren Teppiche dämpften Andres Aufprall zwar, aber sie konnte hören, wie er aufschrie.
Hinter ihm an der Tür stand Zachary, eine Hand nach wie vor erhoben, die
Augen jedoch abgewandt und zu Boden gerichtet. Jiy konnte es von ihrem Platz nicht erkennen aber… der Junge weinte doch nicht etwa.
Andre blieb schwer atmend liegen, während sein Blick den Angreifer nun auch erkannte. Er streckte eine Hand aus. ,, Sohn…“
,, Verschwinde hier. Jetzt.“ Zachary sah auf und Jiy konnte tatsächlich erkennen, wie ein paar vereinzelte Tränen seine Wangen hinab liefen. Das Gesicht des Magiers war gerötet vor Wut und Scham, die ihn zum Zittern brachte. ,, Und nenn mich nie wieder so.“
Andre richtete sich umständlich auf. Alle Wut schien verflogen und war
ersetzt worden durch einen Ausdruck absoluter Verlorenheit ,, Zac…“
Jiy hätte beinahe Mitleid mit ihm haben können. Aber nur beinahe. Das Recht auf Mitleid hatte er sich grade verspielt.
,, Ich bin hergekommen, weil ich mit dir reden wollte, ohne das Eden oder sonst jemand dabei ist. Du kommst wirklich hierher und glaubst du ganz so weitermachen wie…“ Zachary schluckte schwer. ,, ich habe gedacht, du hättest dich vielleicht geändert, weißt du… Andre.“ Nicht Vater. ,, Ich war viel jünger damals, ich hatte vielleicht nur den falschen Eindruck… Aber jetzt muss ich sehen dass ich mich in keiner Weise
geirrt habe. Weißt du, das Eden mich damals sogar zurück gebracht hätte? Vor all diesen Jahren ?“
,,Was… Was soll das heißen…“
,, Das heißt, dass ich nicht zurück wollte. Aber als du um Verhandlungen gebeten hast… Ich dachte wirklich, vielleicht habe ich dich falsch eingeschätzt. Ich muss dir wohl dankbar sein… Vater. Ich habe mich kein bisschen geirrt. Und jetzt verschwinde.“
Zachary versetzte Andre einen weiteren, magischen Stoß, der ihn durch die Tür trug. Er schlug auf dem Boden auf und schlitterte über den polierten Marmor, bis er von einem Teppich gebremst wurde. Zac folgte ihm wortlos, während
Jiy nur staunend zusehen konnte. Die Dinge gerieten grade endgültig außer Kontrolle.
,, Lass ihn am Leben.“, rief sie.
,, Keine Sorge. Ich bin nicht er. Geh endlich.“ , erklärte der junge Magier, als Andre zum zweiten Mal auf die Füße kam. ,, Bevor ich zumindest zulasse, dass jemand anderes das für mich tut. Verschwinde!“
Jiy überlegte, ob sie Zachary schon jemals so wütend gesehen hatte. Oder überhaupt wütend. Es war ein schrecklicher Anblick. Die Magie schimmerte in seinen Augen und schien der Luft um ihn herum eine dickflüssige Konsistenz zu geben. Und das Ziel dieses
Zornes konnte nur langsam rückwärtsgehen und nach dem Türknopf tasten.
Von der Treppen oben erklangen Schritte und Eden rannte die Stufen hinab. Vermutlich hatte sie mittlerweile gemerkt, dass der Junge sich davon gestohlen hatte. ,, Zachary, was…“ Sie verstummte, als sie nicht nur den Zauberer, sondern auch Andre und Jiy erblickte. ,, Was ist passiert ?“
,,Nichts.“ , antwortete der Junge nüchtern. ,, Gar nichts.“
Andre schien endlich den Schock zu überwinden und zog die Tür in seinem Rücken auf. ,, Zachary, bitte…“
Der junge Magier drehte sich um und
ging langsam die Stufen hinauf zu Eden. ,, Das recht mich um etwas zu bitten, hast du verloren.“
Jiy rechnete schon damit, dass Andre erst gehen würde, wenn sie ihn von den Wachen rauswerfen ließ. Schließlich jedoch trat der Herr Silberstedts nach draußen und wurde sofort von einer kleinen Gruppe Gardisten in Empfang genommen, die ihn zum Tor bringen würden. Jiy jedoch trat zurück in das Schreibzimmer und durch die zweite Tür hinaus in die Gärten.
,,Ich will… eine Weile niemanden sehen.“ , erklärte sie zwei Posten, die am Durchgang Wache hielten. Die Männer nickten nur, bevor sie sich
umdrehten und die Tür sicherten. Jiy hingegen lenkte ihre Schritte über die Sandwege zu dem kleinen, von Säulen getragenen, Pavillon, etwas abseits vom Haus.