Es passierte im Spätherbst letzten Jahres. Zu dieser Zeit wurde es draußen sehr früh dunkel, keiner wollte mehr freiwillig außer Haus gehen. Doch ich musste. Die Landschaft war nur noch eine einzige Graufläche und der Nebel schlich lautlos über die Felder. Überall kahle Bäume, kein Blatt war mehr zu sehen. Nicht einmal die Wiese schien mehr so grün wie sonst immer. Das Wetter war genauso kalt und grau wie heute.
Ängstlich wie ich war, ging ich langsam am Straßenrand entlang. Gehsteige gab es hier nicht - wozu auch? Man kann von Glück sprechen, wenn man hier einen Unfall hat und noch am selben Tag
gefunden wird, denn für gewöhnlich findet man die Straße verlassen vor. Das muss daran liegen, dass in dieser Gegend auch niemand wohnt. Zumindest niemand den man gerne kennen möchte. Der alte Bauer, der sofort die Polizei ruft, wenn man auch nur mit einem Fuß auf seinem Feld landet. Die Frau die ein paar hundert Meter weiter in einem mattgelben Haus wohnt, die aber schon so alt ist, dass sie gar nie mehr außer Haus geht. Der Mann mit dem Schnauzbart, der täglich feindselig aus dem Fenster zum alten Bauern starrt, weil er noch immer glaubt, dass dieser seine damalige Katze umgebracht hat und er überzeugt ist, dass er dies garantiert
mit seiner jetzigen wieder tun wird. Und das Ehepaar, das gleich nebenan wohnt, aber von dem man nichts mitbekommt. Würde man nicht abends das Licht im ersten Stock brennen sehen, könnte man meinen, dass das Haus längst unbewohnt sei.
Warum ich mich in dieser Gegend aufhalte? Es muss einfach sein. Die Gegend war alles andere als einladend und trotzdem musste ich immer wieder hin. Nachdem man diese Häuser endlich hinter sich gelassen hat, gelangt man zu einem Wald. Meist begleitet mich die Katze des schnauzbärtigen Mannes bis hin zum Waldrand, aber niemals weiter. Sobald die ersten Bäume links und rechts
entlang der Straße erscheinen, sträuben sich die Nackenhaare der Katze und sie kehrt um. Mir soll es recht sein, obwohl ich schon ein wenig froh bin, dass sie mich ein Stückchen begleitet. Tiere sind viel treuer und ihre Gesellschaft ist weitaus angenehmer als die des Menschen. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Oder aber ich habe einfach das Vertrauen Menschen gegenüber verloren.
Wie sonst auch immer folge ich dem Weg so lange bis die Straße aufhört und verschwinde dann zwischen den Bäumen. Langsam beginnt sich ein Trampelpfad zu bilden, das heißt wohl, dass ich mir bald einen neuen Weg durchs Unterholz
suchen muss. Es muss ja nicht jeder wissen, dass ich immer noch hierher oftmals zurückkehre. Heute bin ich später dran als sonst, es dämmert schon, aber das ist mir egal. Ich muss wieder hin. Auch dass ich in letzter Zeit immer häufiger nicht in die Schule komme, ist mir egal. Wahrscheinlich genauso egal wie meinen Mitschülern und meinen Lehrern. Das soll nicht heißen, dass ich immer schon so war. Nein. Früher ging ich gerne zur Schule und es war ein Dilemma, wenn ich einmal krank war und den Tag zu Hause verbringen musste. Aber früher war ja alles anders, das behauptet zumindest jeder. Mittlerweile hab ich mich dieser Behauptung auch
angeschlossen. Vor allem dass früher alles besser war, bemerkt man leider erst viel zu spät.
Jetzt beeilte ich mich schon ein wenig mehr. Ich musste heute unbedingt noch hin. Und ich wusste nicht, ob ich mich im finsteren Wald genauso zurechtfände wie bei Tageslicht. Obwohl, zu dem Ort wo es geschehen ist, würde ich jederzeit hinfinden, sogar wenn ich blind wäre. Der Weg nach Hause wäre eher das Problem.
Dort vorne standen sie nun. Die drei großen Eichen. Dort war es passiert. Letztes Jahr. Irgendwie kommt es mir noch immer so vertraut vor als wäre es gestern geschehen und doch schon so
weit entfernt. Dieses Gefühl, das mich am damaligen Tag ergriff, geht wahrscheinlich nie wieder weg. Hier ist es am stärksten ausgeprägt. Ich habe vor nichts mehr Angst, als vor diesem Gefühl und diesem Ort. Und doch komme ich immer wieder zu meiner größten Angst zurück. Jeder im Dorf weiß, dass hier etwas geschehen ist und jeder weiß, was passiert ist. Aber keiner weiß, wie es wirklich geschah. Ich habe nie ein Wort darüber verloren. Soll jeder glauben, was er will. Ich habe mittlerweile die schrägsten Geschichten darüber gehört und hätte am liebsten immer widersprochen. Aber es macht ja sowieso keinen Sinn. Also warum sollte ich mit
Menschen reden, die mir im Endeffekt eh nicht glauben würden?