Kapitel 44 Verluste
Jiy konnte sich nur kopfschüttelnd in der Halle umsehen. Noch immer drang Licht durch das zerstörte Dach. Nun aber wehte der Wind auch den Geruch von Rauch und verbranntem Schwarzpulver heran. Die Gejarn ließ den Blick über die Reihen aus Verletzten und Toten schweifen, die mittlerweile im Saal aufgebahrt waren. Nur das Kellvian nicht darunter war, gab ihr grade noch genug Rückhalt, das weiter durchzustehen. Das hier war so schon schlimm genug mit anzusehen.
Sie wusste nicht mehr, wie viele Männer
sie heute schon hatte sterben sehen. Entweder schon fast Tod, wenn man sie hereinbrachte oder unter ihren Händen Verblutet. Mittlerweile hinterließ es bei ihr nur noch einen faden Geschmack auf der Zunge, wenn wieder irgendwo der Lebensfunke erlosch. Wie bei einem Gericht von dem man zu viel gegessen hatte… Nur in ihrem Fall war das der Tod.
Doch seit einigen Minuten war der stetige Strom aus Verwundeten endlich einmal abgerissen. Jiy wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Andres Männer könnten schlicht und ergreifend gesiegt haben. Was das dann für die anderen bedeutete, darüber
wollte sie gar nicht erst nachdenken. Sie war einfach so müde, das jeder Gedanke ihr zu entgleiten drohte. Die Gejarn trat durch die Halle zu der Stelle, wo Waffen und Ausrüstung der Verletzten aufbewahrt wurden und nahm ein Schwert von dem Stapel. Die Klinge war überraschend schwer, aber an das Gewicht konnte man sich wohl gewöhnen. Wenn ihnen so viel Zeit blieb.
Dann sah sie zurück zu Cyrus und Zyle. Der Wolf und der Schwertmeister hielten weiter an der Tür zum Saal Wache. Beiden war die gleiche Anspannung anzusehen. Keiner von ihnen würde sich einfach ergeben, wenn Andres Männer
hereinstürmen würden. Sie zumindest nicht, dachte Jiy. Das hätte der angeblich schönste Tag ihres Lebens werden sollen. Und bis vor wenigen Stunden war er das auch. Jetzt war alles in Blut untergegangen. Dann konnte es auch so enden, dachte sie bitter.
Das Silberkleid, das sie trug war mittlerweile mit roten Flecken übersäht und zerrissen. Jiy band die Schwerthülle an ihrem Gürtel fest.
,,Könnt ihr noch frisches Wasser holen ?“ , fragte sie an Zyle gewandt. Sie wusste nicht, wie viele mit Blutdurchtränkte Wundumschläge sie heute schon ausgewaschen hatte. Irgendwann wollte man gewisse Dinge
nicht mehr zählen. Der Gejarn nickte. Irgendetwas schien ihm zu schaffen zu machen, dachte Jiy. Was immer es jedoch war, er sagte nichts, sondern ging nur seiner Aufgabe nach. Froh etwas zu tun zu haben, verschwand er durch die Tür um von unten einen neuen Eimer Wasser zu holen.
Erik nutzte die kurze Pause unterdessen und hatte sich erschöpft an eines der Fenster gelehnt. Auch sein Mantel war Blutbefleckt und seine Hände zitterten mittlerweile leicht. Jiy hätte sich nie vorgestellt, den sonst so energetischen Schiffsarzt einmal an seine Grenzen gebracht zu sehen.
Eine Pfeife im Mundwinkel musterte er
das ganze Chaos mit dem Blick eines Mannes, den das alles nicht mehr schockieren konnte. Er schien ihre Gedanken erraten zu haben, als sie zu ihm trat. Durch die gesprungene Glasscheibe konnte sie einen Blick auf die Stadt werfen. Dichte Rauchsäulen stiegen auf und verhinderten jedoch, dass sie viel erkennen konnte. Der Lärm der Schlacht war mittlerweile abgeklungen, bis auf einen gelegentlichen Schuss oderferne Rufe.
,, Keine Sorge. Der Junge kann auf sich aufpassen.“ , erklärte der Arzt beruhigend. ,, Wir können nur abwarten. Aber hört mal…“
,,Was denn ?“ , fragte sie verwirrt. ,,
Ich höre nichts.“
,, Eben.“ , gab der Arzt zurück. Jiy fiel es wie Schuppen von den Augen. Es war ruhig geworden…
,, Die Kanonen… Sie haben aufgehört zu feuern. Warum ?“
,, Meiner Meinung nach, gibt es dafür nur eine Erklärung, meine Liebe. Andre kümmert diese Stadt nicht, das hat er schon bewiesen, als er mit dem Beschuss der Häuser begann. Das bringt ihm militärisch wenig, aber es erzeugt Chaos. Würde er also damit aufhören, wenn er noch dabei ist, die Stadt zu sichern? Nein.“
Jiy wollte ihm so gerne glauben. ,, Ihr meint, es ist vorbei
?“
,, Genau das. Wir haben es geschafft, Jiy. Andre würde nicht zögern, zuerst hierher zu kommen. Er wusste sicher, dass er heute leichtes Spiel haben würde und auch wieso.“
Die Gejarn blieb zwar skeptisch, aber die Logik des Alten war bestechend. So oder so, sie würden es wohl bald erfahren. Wenn nur Kellvian und auch die anderen gesund zurückkamen…
Zachary war derweil damit beschäftigt, die Männer und Frauen zu heilen, bei denen selbst Erik nichts mehr weiter wusste. Die Verletzungen mancher waren entsetzlich. Manche waren wohl in den Gebäuden gewesen, als der Beschuss
durch Andres Truppen begonnen hatte. Andere hatten schwere Verbrennungen, die wohl von den zahlreichen feiern stammten, die in Vara ausgebrochen waren.
Der Junge war vielleicht nicht ein so begabter Heiler wie Kell, aber ihm stand ein Verständnis von Magie zur Verfügung, das dessen eigenes weit übertraf und er konnte auch Falamirs Träne zurückgreifen. Trotzdem ging das Ganze auch an ihm nicht spurlos vorbei. Die Heilzauber kosteten ihn jedes Mal aufs Neue Überwindung und Kraft und Jiy fürchtete, er würde nicht jedem helfen können, bevor die Erschöpfung auch ihn zwang, eine Pause zu machen.
Ganz davon abgesehen, das er nichts hiervon sehen sollte. Jiy konnte ihr Gewissen nur damit beruhigen, das Zachary auch schon das gleiche durchgemacht hatte, wie sie alle.
Eden hatte jedoch offenbar ähnliche Bedenken und behielt den Jungen genau im Auge. Zachary ging langsam von Trage zu Trage und besah sich die darauf liegenden Personen. Die, die Erik bereits versorgt hatte, schliefen unruhig. Der Schiffsarzt hatte ihnen Mohn verabreicht, der zumindest die Schmerzen etwas betäuben würde. Die meisten würden auch ohne seine Hilfe durchkommen, nur bei manchen nickte ihm der Arzt aufmunternd zu, worauf
der junge Zauberer eine Hand vorstreckte. Blaues Licht flutete dann für einige Augenblicke oder manchmal auch Minuten den Saal, während sich Fleisch wieder zusammenfügte, Verbrennungen sich in Haut zurück verwandelten und selbst Organe wieder an ihren Platz zurück wanderten. Für Jiy würde dieser Vorgang wohl nie an Faszination verlieren, so groß die Furcht anderer davor auch sein mochte. Sie wusste, dass dahinter nichts Böses stand, auch wenn die heilende Magie den Menschen Schmerzen zufügen konnte, es rettet sie letztendlich. Dieses Mal jedoch zuckte der Junge plötzlich zusammen und das blaue Licht riss ab, bevor der Zauber
seine Wirkung ganz getan hatte. Es war genug, den Mann zu retten, um den er sich grade noch gekümmert hatte, aber viele kleinere Verletzungen blieben deutlich sichtbar.
Vornübergebeugt stolperte Zachary ein paar Schritte zurück.
,, Vorsicht.“ Eden stützte ihn, bevor er fallen konnte. ,, Du brauchst einen Moment Pause.“
Der junge Zauberer sah sie nur Verständnislos an. Er schüttelte den Kopf.
,,Zac, hörst du mich überhaupt ?“
,,Nein.“
,, Nein ?“ Eden sah hilfesuchend zu Erik. Der Arzt zuckte nur mit den
Schultern, dann jedoch riss Zachary sich von ihr los und trat ohne Vorwarnung wieder an die Trage. Erneut leuchtete blaues Licht auf und einen Moment später war alles vorbei. Auch die letzten sichtbaren Wunden des Mannes hatten sich geschlossen.
,, Ich kann ihnen helfen Eden.“ , erklärte der Junge darauf. Selten hatte Jiy Zac mit so viel Autorität in der Stimme sprechen hören. Auf eine Art war es beängstigend. ,, Nur ich. Nicht Erik, nicht du, nicht Jiy, noch sonst jemand. Also lass es mich auch tun!“
Jiy fragte sich insgeheim, ob es wirklich nur darum ging. Oder gab der Junge sich vielleicht nach wie vor die Schuld an
Walters Tod? Walter de Immerson, Zacharys älterer Bruder, war vor einem Jahr in der fliegenden Stadt gestorben. Der Mann war praktisch das schwarze Schaf der Familie de Immerson gewesen, oder, wenn man Andre bedachte wohl eher das Weiße. Und war es nicht das erst gewesen, was Andres Abneigung auf Kell wachgerufen hatte? Jiy wusste es nicht. Fest stand, es spielte wohl eine Rolle. Aber ob es auch der Grund für Zacharys Verhalten war… So oder so, sie war einfach nur froh über die Hilfe, wenn das bedeutete, heute ein paar Leute weniger sterben zu sehen.
Eden nahm es gespielt Ruhig zur Kenntnis. Aufhalten konnte den jungen
Zauberer ohnehin keiner von ihnen, wenn er dies wünschte. ,, Schön… aber bitte pass auf dich auf.“
,, Das mache ich doch immer.“ , gab Zachary nur zurück, bevor er sich erneut in seine Zauber versenkte. In diesem Moment kehrte auch Zyle mit dem Wasser zurück. Und nicht nur der Gejarn, wie Jiy feststellte, als sie sich zur Tür umdrehte. Dem Schwertmeister folgten zwei weitere Gestalten, von denen sie eine sofort als den dunkelhaarigen Roland erkannte. Der andere schien sein genaues Gegenbild zu sein. Der hochgewachsene Nordmann wurde von einem eher kleinen, blonden Menschen begleitet, der trotz des ihn
umgebenden Chaos gute Laune zu haben schien. Zumindest spielte ein schwaches Lächeln um seine Lippen, das Jiy nicht richtig deuten konnte. Beinahe hätte man meinen können, er Belächle den Tod um sich herum. Beide Männer trugen die gleiche Uniform der kaiserlichen Garde, die sie als höhere Offiziere auswies, auch wenn bei Roland noch die Überreste der Zierelemente, die er für die Hochzeit befestigt hatte, zu sehen waren. Die meisten davon lagen jetzt wohl in den Straßen Varas verteilt.
,,Herrin.“ Roland machte eine kurze Verbeugung und bedeutete auch dem Blondschopf, es ihm gleich zu tun. Dieser runzelte verwirrt die Stirn,
verbeugte sich aber.
,, Herrin ?“ , fragte er und sah sich in der Halle um. ,, Wo ?“ Jiy war ebenfalls über die förmliche Anrede überrascht und überließ es lieber Roland, das aufzuklären.
,,Sie steht vor euch.“ , erklärte dieser und deutete auf die Gejarn in ihrem zerrissenen Silberkleid., bevor er fortfuhr : ,, Es ist uns gelungen, die Stadt wieder vollkommen unter unsere Kontrolle zu bringen, Herrin. Falvius Truppen haben Andres Leute vertrieben oder getötet. Es gab… keine Gefangenen.“
Kellvian hätte sich darüber wohl empört. Sie hätte auch gerne etwas gesagt, aber
da war einfach nur die unendliche Müdigkeit, die sich jetzt endgültig bemerkbar machte. Sobald er hier wäre, könnte sie sich etwas ausruhen, sagte sie sich. Im Augenblick jedoch war sie offenbar diejenige, die Entscheidungen treffen sollte.
,, Ich verstehe… Nächstes Mal jedoch, werde ich so etwas nicht tolerieren und der Kaiser auch nicht. Trotzdem, das war… gute Arbeit. Ihr habt uns gerettet.“
,, Das ist unsere Aufgabe, Herrin.“ , gab Falvius zurück, warf dabei aber Roland einen Blick zu, der zu besagen schien, das dieser ihm später besser erklärte, warum er sich vor einer Gejarn
verbeugte.
Zyle hatte unterdessen den Wassereimer zu Erik geschafft, der sich eine Handvoll des kalten Inhalts ins Gesicht spritzte, bevor er dazu überging, es mit einer Schöpfkelle an die Verletzen zu verteilen, die bei Bewusstsein waren.
,,Auch wenn wir Verluste hatten.“ , gab Roland zögerlich zu. ,, Zu viele und zu große… Die Stadtwache wurde fast vollständig ausgelöscht. Aber vorher ist es ihnen gelungen, eine Waffe des Feindes zu sichern. Vermutlich… war diese für die Verluste verantwortlich.“
Jiy spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Als ob die Vorstellung von über zweitausend Toten nicht schon
genug wäre. Kellvian hatte die Stadtwache persönlich angeführt. Und er… Er war nicht hier. Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, was das bedeuten mochte.
,, Wen… Wen haben wir verloren?“
Falvius schwaches Lächeln erlosch und Roland räusperte sich umständlich. Er sah zu Boden. ,, Wir… haben … wie gesagt die Stadtwache Varas ist fast völlig ausgelöscht worden. Sie haben heute wie Helden gekämpft. Soviel steht fest. Ihre Namen werden im Register der Garde verewigt werden. Dazu… wir haben ihre Leichen bisher nicht unter den Toten gefunden, Herrin, aber wir vermissen den kaiserlichen Agenten
Lucien Valaris. Den Gardisten Syle… den alten Seher. Und… wir können den Kaiser nirgendwo finden. Wir hatten gehofft, er wäre hier. Aber… Unser Kaiser Kellvian Belfare ist genauso verschollen, wie die drei anderen. “
Stille senkte sich über die Halle, nur noch durchbrochen von dem knistern der Feuer, draußen in der Stadt. Erik hielt in seiner Tätigkeit inne und ließ die Kelle zurück in den Wassereimer fallen. Zyle hingegen sank nur unter dem scheppern von Stahl auf die Knie. Zachary drehte sich mit Eden zu den zwei Neuankömmlingen um, die Heilzauber erloschen fürs erste wieder. Und Cyrus schien die gleiche Mine
aufgesetzt zu haben, um die Jiy sich bemühen musste. Weltfremde Gleichgültigkeit, bis sie die Nachricht vollauf Verstand.