Kapitel 32 Die Lichtschleuder
Syle hastete die Stufen zur Mauer hinauf. Er wollte selber sehen, was vor sich ging. Nachdem die Schreie draußen vor dem Tor schließlich verstummt waren, war es bereits viel zu lange ruhig, doch von seinem Posten im Burghof aus, konnte er nur die Rücken der auf der Mauer stehenden Männer und Frauen erkennen. Die Ordensmagier, die er passierte hatten sich, als Schutz vor der morgendlichen Kälte, in ihre türkisfarbenen Umhänge gehüllt, trotzdem zitterten manche von ihnen.
Und das, dachte der Gejarn, lag offenbar weniger an der Temperatur.
Er gab Melchior und Fenisin Anweisungen, im Burghof zu bleiben. Die beiden würden dort auch ohne ihn die Wache übernehmen können. Melchior schien sich als einziger, keine allzu großen Sorgen über ihren bevorstehenden Tod zu machen. Der Seher wirkte beinahe entspannt, wie er da, in eine schwarz-blauen Robe gekleidet, am Torpfosten lehnte.
Fenisin hingegen hätte Syle heute bei Tagesanbruch fast nicht wiedererkannt. Der Gejarn trug tatsächlich ein Schwert, das gar nicht so fehl am Platz wirkte, trotz seines Alters. Hinzu kam ein
schlichter Kürass, den wohl irgendjemand in den Katakomben der Festung aufgetrieben hatte.
Seine Leibwache, auch die, die auf der Mauer Dienst schoben, ließen den Ältesten der Wölfe nicht aus den Augen. Syle trug nach wie vor das Messer, das dieser ihm geschenkt hatte. Die kostbare Waffe steckte, in einer schützenden Lederscheide, in Syles Hosenbein. Mittlerweile war der Tag hereingebrochen und die Sonne schien als helle, runde Scheibe vom Himmel, auch wenn es noch nicht ganz reichte, um den Frost von den die Burg umgebenden Feldern zu vertreiben. Oder besser, dort, wo diese Wiesen noch
vorhanden waren. Ein breiter Streifen Land vor den Mauern sah aus, als hätte ein zorniger Gott darüber gepflügt. Gewaltige Steine, so groß wie Ochsenkarren, lagen willkürlich verstreut, an anderer Stelle war das Gras von der Erde gebrannt worden und an wieder anderer Stelle, lagen versreute Knochen, die aussahen, als hätte irgendetwas sie blank poliert. Das war also der Grund für die Schreie gewesen, dachte Syle, bevor er zu der gewaltigen Streitmacht herüber sah, die, scheinbar unentschlossen, auf der anderen Seite des Ödlands wartete.
,,Worauf warten die ?“ , wollte er wissen, als er Lucien, Tamyra, Quinn
und Kiara entdeckte, die ebenfalls an den Zinnen standen.
,, Wir haben ihnen wohl Angst gemacht.“ , antwortete die Ordensoberste. ,, Und das mit Recht. Ich wette, Erland dürfte Schwierigkeiten haben, seine Männer dazu zu bewegen, so schnell einen zweiten Angriff zu wagen.“
,,Wie lange stehen sie jetzt schon da ?“
,, Etwa eine Stunde.“ , antwortete Tamyra. ,, Erland ist es wohl nicht gelungen sie zu überzeugen. Der General ist… verschwunden.“
Syle zog eine Augenbraue hoch. ,, Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen
?“
,, Das wüsste ich auch gerne.“ , warf Lucien ein. ,, Die sind schon viel zu lange ruhig. Und sobald das endet fürchte ich… können wir mit dem Zähneklappern anfangen.“
,, Wenn ich das wüsste…“ Die Diplomatin sah zu Quinn. Der Zauberer hatte während ihres gesamten Gesprächs die Augen nicht von der nahen Armee gelassen.
,, Irgendetwas tut sich da.“ , meinte er und deutete hinaus zu den Reihen uniformierter Musketiere und Kavalleristen. Die Männer formten eine Gasse, um einem einzelnen Reiter Platz zu machen, in dem Syle sofort Erland
erkannte. Der Mann setzte sich mit seiner auffälligen Kleidung wirklich einem Risiko aus, dachte der Gejarn. Entweder legte er es darauf an, in einer Schlacht vom Feind auch gefunden und erkannt zu werden, oder es war simpler Eitelkeit zuzuschreiben. Irgendwie glaubte Syle aber nicht, das letzteres zutraf.
Der Gejarn überlegte einen Moment, ob er den General auf die Entfernung mit dem Gewehr erwischen konnte. Die Muskete lehnte neben ihm an der Mauer. Die Antwort lautete, vermutlich nicht. Und selbst wenn, würde sich die Armee kaum zurückziehen, nur weil ihr Anführer fiel. Es gab mehr Offiziere als
nur Erland.
Dieser ritt einem seltsamen Karren voraus, den eine ganze Reihe von Soldaten durch das Gras zog. Syel hätte damit gerechnet, das Andres Männer es jetzt mit Kanonen und Geschützen versuchen würden. Die Mauern der Burg zu Fall zu bringen war einfacher, als sich noch einmal in die Todeszone davor zu wagen. Aber was dort auf dem hölzernen Wagen montiert war, erinnerte nicht einmal im Entferntesten an eine Waffe, dachte er.
Es war komplett aus dunklem Holz gefertigt. Ein seltsames Gestellt, in dem an Lederriemen und Scharnieren mehrere blank polierte Spiegel und Glaslinsen
montiert waren. Syle hatte einmal ein Mikroskop gesehen, wie es die Gelehrten in Vara benutzten. Viele Adelige besaßen ebenfalls solche Instrumente und sei es nur, als Dekoration oder zum Zeitvertreib. Irgendwie erinnerte ihn das Konstrukt entfernt daran.
Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit, als Erland Befehl gab, das Konstrukt etwas hinaus auf die sonnenbeschienenen Felder zu ziehen. Was sollte das ? Licht spiegelte sich auf den versilberten Glasscheiben wieder. Wollte er sie einfach nur Blenden, damit sie nicht sahen, was er tat ? Syle spürte, wie Tamyra neben ihm unruhig wurde.
,, Das gefällt mir gar nicht.“ , bemerkte
sie, während sie die Augen mit der Hand abschirmte. Besonders gefährlich schien es nicht zu sein.
,, Da seit ihr nicht die einzige.“ , antwortete Quinn. ,, Haben wir irgendetwas, womit wir das Ding von hier aus Treffen können ?“
,, Könnt ihr das nicht erledigen, oh großer Zauberer ?“ , fragte Lucien.
,, Nein. Die Zauber vor dem Tor haben sich aus der Kraft von uns allen gespeist. Soweit kann ich einen Feuerball nicht mehr aufrechterhalten und lenken. In ein paar Minuten vielleicht wieder…“
,, Ich glaube nicht, das wir die haben.“
Erlands Männer waren mittlerweile auf das Gerüst geklettert und begannen, die
Spiegel und Linsen einzustellen. Syle blinzelte verwirrt, als die blendenden Lichter verschwanden. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Schließlich waren alle Spiegel in zwei konzentrischen Kreisen angeordnet, die allesamt auf eine Aufeinanderfolgende Reihe von Linsen gerichtet waren. Im nächsten Moment glühten diese der Reihe nach rot auf, so als wäre das Glas kurz davor, zu schmelzen…
,, Ein kleines Geschenk aus Silberstedt, Ordensobere !“ , rief Erland, bevor er sein Pferd herumriss und auch die Soldaten, die eben noch an der Maschine gearbeitet hatten, ihr Heil in der Flucht
suchten.
,,Ich glaube wir sollten alle sofort…“ , weiter kam Syle nicht mehr. Ein gebündelter Lichtstrahl zuckte über das verwüstete Feld zwischen feindlichem Heer und Ordensburg. Der Gejarn hatte noch nie etwas Derartiges gesehen und alles geschah so schnell, das er sich später nicht einmal mehr sicher war, überhaupt etwas gesehen zu haben. Der Blitz schlug direkt ins Burgtor ein, brannte Holz zu Asche, schmolz Metallstreben und trieb die dahinter Wache haltenden zurück. Holzsplitter wurden umhergeschleudert und prasselten über den ganzen Burghof verteilt nieder. Syle konnte nur
fassungslos zusehen, wie sich ihre Verteidigung innerhalb eines Herzschlags in Rauch verwandelt hatte.
Noch bevor er sich aus seiner Erstarrung lösen konnte, war die Luft erfüllt von wütenden Rufen und den Schreien der Verletzten. Ihrer Verletzten…
Und die wütenden Rufe aus dem gegnerischen Heerlager, die plötzlich immer mehr anschwollen, als Andres Streitkräfte einen zweiten Sturmangriff wagten. Diesmal, auf eine Burg, die über keine Tore mehr verfügte.
Die Erkenntnis traf Syle wie ein Schwall eiskaltes Wasser. Sie hatten nichts mehr, was sie einem erneuten Angriff entgegenstellen konnten. Mal von
blankem Stahl abgesehen und selbst daran mangelte es ihnen.
Kiara gewann als erstes die Oberhand über die lähmende Angst, die sich ihrer bemächtigt hatte.
,,Alle in den Hof. Gebt die Mauern auf, beeilt euch. Sichert das Tor. Sie werden sich nicht mehr die Mühe machen, heraufzuklettern. Los, sichert das Tor, treibt sie dort zurück. Sie können nicht mit voller Wucht angreifen, wenn wir nur das Tor halten.“
Syle wusste, wären die Zahlen ausgeglichener gewesen, oder würden sie nur über hundert Mann mehr verfügen, Kiara hätte Recht behalten können. So jedoch spielte es keine Rolle, ob der
Feind sie aus einem Engpass heraus angriff. Sie hatten keine Möglichkeit, ihre eigenen Männer zu ersetzen, wenn auch nur einer fiel.
Syle verbot sich, weiter darüber nachzudenken, sondern hastete nur die Stufen hinab vom Mauerkamm in den Innenhof. Unten angekommen, vergewisserte er sich mit einem raschen Blick, wie viel Schaden die seltsame Lichtwaffe angerichtet hatte. Die Tore waren nicht mehr zu retten, alles was noch übrig war, waren einige lose Bretter, die an den halb geschmolzenen Scharnieren hin und herschwangen. Durch die entstandene Lücke konnte er bereits die näherkommenden Soldaten
aus Silberstedt sehen. Ihnen blieb vielleicht eine gute Minute, bevor sie hier sein würden.
Der Gejarn riss das Kommando an sich. Musketenschützen nach vorne, bildet eine Zweierreihe. Ein Fuß Abstand zum Nebenmann. In die Lücken, alle Schwertkämpfer. Die erste Linie feuert und zieht sich dann hinter die zweite zurück um Nachzuladen. Wiederholt das, haltet die Position und die Formation und vielleicht… bringen wir ihren Vorstoß zum Stocken.“
Die Männer waren zu verängstigt, um lange Nachzufragen. Die meisten waren wohl einfach nur froh, dass sie klare, kalte Anweisungen erhielten, die ihnen
zumindest ein Gefühl von Sicherheit gaben.
Sie taten , was er ihnen sagte. Syle selbst stellte sich zwischen die Schützen der ersten Linie. Sie wären am gefährdetsten, wenn die Armee die Tore durchbrach. Mit einem Blick vergewisserte er sich, das alle sich an die Anweisungen hielten. Tamyra und Lucien stellten sich, jeweils ein Schwert in der Hand, links und rechts von ihm.
Kiara erteilte derweil mit Quinn Anweisungen an die Magier und Fenisin befahl seinen Leibwächtern, die Flanken der Schützenlinien zu sichern. So formten die Männer einen Halbkreis um das offen stehende Tor. Wer immer
hineintreten würde, würde im Kreuzfeuer untergehen. Aber nur, bis die Übermacht zu erdrückend wurde, dachte Syle.
Kiara und Quinn verteilten die überlebenden Zauberer derweil in einem zweiten Kreis um die Kämpfer. Sollte es zu einem Durchbruch kommen, würde der Orden jeden erledigen, der auf den Hof hinaus trat.
Und dann war Andres Heer auch schon über ihnen. Die grau und schwarz uniformierten Männer brachen durch die Überreste der Tore und stürmten, Schwerter und Pistolen schwingend, auf den Platz hinaus. Bevor sie jedoch die Reihen der Verteidiger erreichten, gab Syle den
Befehl.
,,Erste Linie…. Feuer.“
Der ohrenbetäubende Klang von vierzig gleichzeitig abgefeuerten Musketen übertönte selbst einen Moment die Schlachtrufe der Angreifer. Rufe, die nun rasch durch Schmerzensschreie ersetzt wurden. Auf die kurze Entfernung hätte selbst ein blinder nicht verfehlen können. Die getroffenen Soldaten stürzten , tot oder verwundet übereinander, wurden von den Nachrückenden überrumpelt oder stolperten gar in diese hinein und brachten noch mehr zu Fall. Das Chaos gab den Verteidigern jedoch kaum eine Atempause. Die Luft war erfüllt von
Kordit und Blutgeruch.
,, Zweite Linie !“ , rief Syle und zog sich mit den anderen zurück, während die zweite Schützenline vortrat. Er brauchte gar nicht erst den Befehl zum Feuern geben. Die Hoffnung gab den Männern etwas Disziplin und geradezu einen Hauch von Todesverachtung mit. Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, legte die aus Dienern und Arbeitern bestehende Miliz an und feuerte.
Erneut kam der Sturm aus Angreifern kurz zum Erliegen, wurde zurückgedrängt… dann jedoch waren Andres Männer heran und der eigentliche Kampf begann. Stahl prallte auf Stahl,
Pistolenschüsse lösten sich und jagten als Blindgänger davon oder fanden Fleisch. Zauber zuckten und brannten sich durch Stahl und Haut. Die Reihen der Verteidiger wurden von der schieren Masse aus Angreifern zurück gedrängt…
,,Formation auflösen. Lasst sie sich etwas im Hof verteilen. Schützen zurück auf die Mauer, beharkt sie von oben. Aber achtete darauf, dass keiner von uns dazwischen gerät.“ , rief Syle, bevor er das Gewehr wegwarf und zum Schwert griff. Er verlor die anderen im Chaos rasch aus den Augen und fand sich bald auch schon mitten im Getümmel wieder. Degenklingen stachen nach ihm. Eine Kugel pfiff an seinem Kopf vorbei…
Syle duckte sich unter dem Schlag eines schwarz gekleideten Offiziers weg. Offenbar hatte der Mann nicht Gedacht, dass jemand von der Größe des Bären, so flink sein könnte. Syles Klinge fand ihr Ziel und sein Gegner brach mit durchbohrter Lunge zusammen. Nur damit sofort weitere Nachrückten… Er wusste jetzt schon, dass es Hoffnungslos war. Zwei Männer gleichzeitig gingen mit erhobenen Schwertern auf ihn los. Bevor sie ihn jedoch erreichten, zuckte einer von ihnen zusammen, als ihm ein Bolzen die Schulter durchbohrte. Der zweite zog seinen Verwundeten Kameraden mit sich, zurück in die Reihen der Angreifer. Syle nutzte die
kurze Atempause und sah sich nach Lucien um. Der kaiserliche Agent nickte ihm von der Mauerkrone aus zu, während er sich schon ein neues Ziel suchte. Syle war mal hier mal dort, half aus, wenn die zunehmend zurückgedrängte Front aus Verteidigern zu brechen drohte… Am Ende zögerte es das unvermeidliche Ende nur hinaus. Aber er hatte sich geschworen bis zum letzten zu Kämpfen und das tat er auch.
Syle wehrte eine weitere Klinge ab und sah sich plötzlich einer Gestalt in einem weißen Umhang gegenüber. Einen Moment verharrten sie beide, wo sie waren, während die Kämpfe um sie weitergingen. Gefangen, in ihrer eigenen
Welt, in der die Zeit langsamer zu laufen schien. Erland Reiksson musste die Uniform der kaiserlichen Garde erkennen. Der Garde, der fliegenden Stadt. Die Einheit, aus der er ausgeschlossen worden war.
,,Sieh mal einer an….“ Andres General richtete die Waffe auf ihn. ,, Wer hätte Gedacht, dass es hier auch noch Krieger gibt und nicht nur Bauern.“
Syle antwortete nicht, sondern hob nur die eigene Klinge. Wenn er Andre wenigstens noch um seinen Heerführer brachte, wäre es all die Mühen schon fast wert gewesen, dachte er.
Ihre Schwerter prallten aufeinander, unhörbar in dem sie umgebenden Chaos
aus Verwundeten, Sterbenden und denen, die immer noch weiterkämpften.