DAS GRAUEN DER NACHT
Der ganze Tag heute war trübe gewesen, sodass die Straßenlaternen gar nicht ausgegangen waren. Sie hat jetzt Feierabend und freut sich auf ihr gemütliches Zuhause bei Kerzenlicht und einem Glas Wein. Und sie freut sich auf ihren Freund. Seit dem Sommer sind sie zusammen. Sie treffen sich regelmäßig in dem kleinen Café unter den Arkaden. Manchmal kommt er am Wochenende auch mit zu ihr. Sie machen es sich gemütlich. So hat sie es auch für heute geplant. Hoffentlich kommen die Kinder nicht wieder und betteln um Süßigkeiten. Sie hat nichts übrig für diese Heischebräuche. Schließlich
bekommen die Kinder ohnehin schon zu viel zum Schlecken! Und auf die Streiche kann sie getrost verzichten. Ohnehin will sie an einem solchen Abend nicht gestört werden. Und für diesen neumodischen amerikanischen Brauch kann sie sich überhaupt nicht begeistern. Aber das muss ihr Freund noch nicht wissen. Dafür wird sie ihn so richtig verwöhnen – mit allem drum und dran. Sie hat sich alles so schön ausgedacht und heute früh die ausgiebigen Vorbereitungen nicht gescheut. Ihr Freund wird ganz bestimmt große Augen machen. Und da gibt es noch etwas, was er auf keinen Fall wissen darf …
Als sie auf die Straße hinaus tritt, umfängt sie eklige Watte, eine graue, beinahe undurchdringliche, feuchte Masse. Nebel! Wie sie solche Tage hasst! Da wird der Heimweg zur Folter. Sie fühlt sich bei solchem Wetter richtig schlecht. Wenn sie doch ihr Freund heute abholen würde. Kurz entschlossen geht sie ins Büro zurück, um ihn auf seinem Handy anzurufen und ihn zu bitten, dass er sie vor dem Büro abholt. Ihr würde schon eine passende Begründung einfallen. Doch sein Handy bleibt stumm. Schließlich entdeckt sie, dass ihr Akku leer ist. Wie soll es jetzt bloß weitergehen? Von den Kollegen ist niemand mehr da, um sie zu begleiten oder heim zu fahren. Die haben
alle Kinder und durften deshalb früher nach Hause gehen. Aber zum Glück ist es bis zu dem Café unter den Arkaden nicht allzu weit. Bei klarem Wetter ist das wirklich nur eine Kleinigkeit. Aber heute … Sie seufzt tief.
Endlich rafft sie sich erneut auf. Vor der Tür greifen die feuchten Hände der Nebelweiber nach ihr. Schaudernd zieht sie den Schal enger und klappt den Mantelkragen hoch. Ihr Arbeitsplatz ist in einem der schönen alten Häuser untergebracht, die von einem Grünstreifen mit altem Baumbestand begleitet werden. Entlaubt und dunkel ragen sie schemenhaft in die graue Nebelbank. Langsam beschlägt ihre Brille und mit einem
entschlossenen Zug um den Mund nimmt sie die Gläser ab. Vielleicht ist es dann etwas besser, weil sie nicht so gut sieht. Feinste Tröpfchen sprühen ihr ins Gesicht, benetzen ihre Augenbrauen und Haare, die unter einem bunten Kopftuch hervorschauen. Und nichts ist zu hören als ihr kurzer, stoßweiser Atem. Sie versucht, den Nebel mit den Augen zu durchdringen, lauscht nach jedem Schritt auf besondere Geräusche. Da plötzlich ein Laut: Dob … Dob … Dob … Hohl und dumpf klingt es. Sie fährt entsetzt zusammen, hält den Atem an, lauscht wieder. Nichts! Dann fällt ihr ein kalter Tropfen auf die Nase. Was war das? Noch ein Tropfen! Ach ja, die Bäume … Es ist wie bei Regen! Sie entspannt sich
ein wenig.
Unheimlich wabern die Nebelschwaden durch die Straße, verfangen sich in den herbstlich kahlen Bäumen. Sie starrt ins Geäst, versucht das eintönige Grau mit ihren Blicken zu durchbohren. Wenn doch die Dunkelheit nicht wäre. Und plötzlich erscheint dort oben eine Fratze. Der breitgezogene Mund mit seinen schwarzen Zähnen, die knochigen Finger, die nach ihr greifen wollen, die dunkel glühenden Augen … Ihr Atem stockt. Sie wird erneut von Panik erfasst. Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn. Ein leises Rascheln verursacht Gänsehaut. Als sie direkt unter dem Baum steht, erinnert sie sich an die
Plastiktüte, die hier schon seit Tagen hängt. Sie entspannt sich wiederein wenig. Die Lichter der Straßenlaternen werden im Nebel immer schwächerund die kaum sichtbaren Äste der kahlen Laubbäume stoßen scheinbar wie knorrige Finger durch die Feuchtigkeit. Sie scheinen in Bewegung geraten zu sein und richten sich auf sie. Ein kalter Schauder lässt ihre Nackenhaare sich aufstellen. Sie hat Angst. Panische Angst. Wovor eigentlich? Kein Mensch, kein Auto, kein Lebenszeichen rundum. Jedes Geräusch wird verschluckt. Selbst als sich plötzlich zwei fahrende Autos nähern, wirken diese mit ihren kleinen zusammengekniffenen Augen wie Fisch, welche geräuschlos in einem Aquarium
dahin gleiten.
Plötzlich ein dumpfes Klopfen auf dem Pflaster, klack, klack, klack ... Sind das Schritte? Hätte sie doch jetzt bloß ihren Freund an ihrer Seite! Sie bleibt stehen und lauscht angestrengt. Nichts zu hören. Nach einem weiteren Augenblick des Zögerns geht sie mit kleinen, vorsichtigen Schritten weiter. Wieder das Klack, Klack, Klack. Wer verfolgt sie? Der Nebel verschluckt wirklich jedes andere Geräusch, das auf Leben hinweist. Wo sind die Autos, die Busse, die vielen Fußgänger, die sich sonst hier tummeln? Alles ist wie verhext. Und sehen kann sie schon gar nichts. Ob sie sich nicht doch getäuscht hat? Sie geht
vorsichtig weiter, ebenso vorsichtig folgen ihr die Schritte. Sie wagt sich nicht umzusehen. Stattdessen tritt sie leise in einen dunklen Hauseingang, um ihren Verfolger abzuschütteln. Als die Schritte verstummt sind, atmet sie erleichtert auf. Bedachtsam tritt sie nach einigen Minuten erneut auf den Gehsteig hinaus und schaut nach rechts und links. Niemand. Doch, dort neben dem Baum … was ist das? Jetzt bewegt sich doch etwas. Und ein kleiner, gelber Lichtpunkt beginnt auf und ab zu tanzen, schaukelt hin und schaukelt her und verschwindet wieder. Der Nebel gibt den Blick nicht frei! Soll sie schreien oder lieber wegrennen? Es würde sie ja doch niemand hören. Entschlossen setzt sie ihren Weg
fort. Doch nun folgen ihr die Schritte ebenso entschlossen. Soll sie sich umdrehen? Soll sie sich ein Taxi rufen? Soll sie sich verstecken? Und wenn ja, wo eigentlich? In diesem dichten Nebel sieht alles völlig anders aus. Sie fühlt sich hilflos und Tränen rinnen ihr aus den Augen. Wie kann sie ihren Verfolger abschütteln?
Von einem der höher gelegenen Fenster des nächsten Hauses leuchtet schwach ein Kürbiskopf, unter dem ein weißes Laken herabhängt. Die Frau läuft gesenkten Hauptes dicht an der Hauswand entlang, sucht nach einer erneuten Versteckmöglichkeit, als ihr etwas Weiches, Feuchtes durch das Gesicht
wischt. Mit einem entsetzten Schrei stolpert sie weiter. Nur nicht hinsehen, damit das Grauen kein Gesicht bekommt … während der Kürbis über ihr grinst.
Sie beginnt schneller zu gehen, ihre Absätze klappern gedämpft auf dem Pflaster. Jetzt sind auch die Schritte des anderen dumpf und dennoch deutlich trotz Nebel zu hören. Er muss unmittelbar hinter ihr sein! Nur keine Angst und keine Schwäche zeigen. Kleine Schweißbäche rinnen ihr den Nacken hinunter. Hätte ich bloß heute keine Pumps angezogen, hadert sie mit sich. Dann könnte ich wenigstens rennen und hätte vielleicht meinem Verfolger gegenüber eine Chance. Die Angst beginnt
ihren Körper hinauf zu kriechen wie giftige, kleine Raupen. Noch enger zieht sie den Schal um ihren Hals. Sie bekommt fast keine Luft mehr.
Da … vor ihr scheinen im Nebel zwei Personen über den Gehweg zu schweben. Ob Schreien hier und jetzt etwas nützt? Vielleicht können sie mir helfen. Aber im nächsten Wabern des Nebels lösen sich die beiden Gestalten auf! Und die gelben Flecken der Straßenlaternen wirken heute alles andere als Vertrauen erweckend. Wenn doch niemand außer mir auf der Straße ist, wer soll mir dann helfen?
Und die Nebelschwaden werden immer
dichter und wabern und wabern, fast schon umhüllt sie die klebrige Nebelfeuchte so fest, dass Atmen unmöglich scheint. Auch Rennen macht wenig Sinn, denn die sprichwörtliche Hand vor den Augen hat auch der Nebel verschluckt. Fast blind tastet sie sich nur noch mit den Füßen über den Gehweg. Ihren Verfolger nimmt sie im Augenblick nicht mehr wahr. Ein klatschendes Geräusch lasst sie auffahren. Was ist das? Ein kaum wahrnehmbares Krächzen aus dem Straßenbaum über ihr. Sie schaut vorsichtig hinauf. Nein, da hängen sie, die bösen Geister, die toten Seelen, die hier ihr Unwesen treiben … Und das Krächzen bedeutet nichts Gutes, denn bald wird der Nächste sterben. Entsetzt
schaut sie um sich. Schwankende Nebelgestalten ziehen mit Knarren und Ächzen und schaurigen Köpfen zwischen den Straßenbäumen umher … Sie müsste doch schon längst an dem mit Büschen bestandenen Kreisverkehr vorbei sein … dann wäre sie mit wenigen Schritten zuhause. Ihre Unsicherheit und Angst wachsen. Was wenn der Verfolger schon ganz dicht hinter ihr ist? Ich will mutig sein und mich jetzt umdrehen, denkt sie und bleibt stehen. Keine Geräusche mehr. Als sie hochschaut, zeichnen sich vor ihr schemenhaft zwei kaum beleuchtete Torbogen ab. Als sie losrennen will, legt sich etwas Feuchtes und kaltes über ihren Mund. Sie will schreien, doch unmöglich. Ihr
Hals ist zugeschnürt und ihre Stimme versagt. Als sie sich an den Hals greift und schreien will, bringt sie keinen Laut hervor. Da beginnt sie in ihrer Panik zu rennen, der Verfolger rennt mit, das Würgen wird immer schlimmer, ihr Herz rast, zerspringt fast … und sie kann nicht schreien. Mit aller Kraft greift sie sich an den Hals, will das wegreißen, was sich da immer enger um ihren Hals legt …. Da ist die Öffnung des Torbogens … schnell hinein … sie stolpert über ihre eigenen Füße, ihre Hände reißen an dem feuchten Tuch, welches so fest um ihren Hals liegt … Dann im Fallen ihr Schrei …
Nur wenig später beugt sich ein Mann über
sie, entfernt vorsichtig den Schal vor ihrem Mund, tätschelt ihre Wangen … als sie die Augen aufschlägt, hört sie eine vertraute Stimme, die sagt: „Ich wollte Dich nach Hause bringen, aber der Nebel …
©HeiO 26-11-2014