Kapitel 29 Von Zauberern, Kaisern und Sehern
,,Hat jemand Quinn gesehen ?“ , fragte Tamyra.
Ihre Rückkehr war abermals keine glückliche. So Erfolgreich die Überfälle in den Bergen auch gewesen waren, sie hatten nichts geändert. Sie hatten sich darauf geeinigt, keinen weiteren Angriff mehr zu wagen. Stattdessen begannen nun die Vorbereitungen auf eine Belagerung, deren Ausgang gewiss schien. Trotzdem ließ sich jetzt keiner mehr dadurch entmutigen. Ob Fenisins Wache oder die Magier des Ordens, niemand wollte einfach aufgeben, ohne es zumindest versucht zu haben. Und
tatsächlich hatten die Zauberer noch ein Ass im Ärmel. Von den Burgmauern aus, konnte sie die glitzernden Felder auf den Wiesen um die Zitadelle und auf der Straße, die hinauf zum Tor führte, sehen. Die kaum wahrnehmbaren Lichtpunkte in der Luft, markierten Fallen. Zauber, die ausgelöst würden, sobald jemand den markierten Bereich auch nur Streifte. Zwar gab es einen Pfad hindurch, aber selbst Tamyra, die zugesehen hatte, wie die Ordensoberste , Quinn und eine Handvoll weiterer Großmagier alles vorbereitet hatten, war sich nicht sicher, ob sie diesen im Zweifelsfall fände. Eine ganze Armee dort hindurch zu führen, würde noch
deutlich schwerer, vorausgesetzt, ihre Gegner bemerkten überhaupt, was vor sich ging.
Nun wurde es bereits langsam dunkel. Während Kiara und der Rest schon vor einer ganzen Weile zurückgekehrt waren, fehlte von Quinn jede Spur. Und keiner schien so recht zu wissen, wo er war. Der Magier war wie vom Erdboden verschluckt. Normalerweise hätte sie sich darüber kaum Sorgen aber das er sich ohne ein Wort in Luft auflöste…
Sie fürchtete, Quinn könnte es doch mit der Angst zu tun bekommen und lieber die Flucht gewählt haben. Deshalb beeilte sie sich, wieder in den Burghof hinab zu gelangen, als dort grade Lucien
mit einer Gruppe Späher zurückkehrte. Zwei von Fenisins Wölfen begleiteten den kaiserlichen Agenten.
Auf ihre Frage jedoch, lachte er nur laut.
,, Der füttert Eichhörnchen.“
,, Wie bitte ?“ Tamyra blinzelte verwirrt. Lucien war einer der wenigen Menschen, die sie absolut nicht einschätzen konnte. Erlaubte er sich grade einen Scherz. ,, Das ist wichtig, Lucien. Er ist seit Stunden fort und wir brauchen ihn, spätestens wenn Andres Streitkräfte hier auftauchen. Ich dachte ihr habt ihn vielleicht gesehen.“
,, Habe ich ja, wie gesagt. Wir sind ihm auf dem Weg zur Burg begegnet. Er sitzt
in dem Wald in der Nähe des Taleingangs… und füttert Eichhörnchen. Er hat gemeint, er müsse Nachdenken. Aber offenbar zieht der Kerl Kleinvieh an.“
Die Vorstellung, dass der unausgeglichene Magier sich tatsächlich irgendwo hingesetzt hatte und Tiere fütterte brachte sie zum Schmunzeln. Der Mann hatte sich wirklich stark verändert.
,, Und ihr müsst nicht nachdenken und deshalb habt ihr euch auch extra für die Späher gemeldet.“
,, Ach was.“ , winkte der Agent hastig ab. ,, Es ist nur so, für Gejarn machen Fenisins Leute einen ziemlichen Lärm,
beim laufen. Ohne mich fallen die doch innerhalb von Sekunden auf.“
,, Wir haben alle den Tod vor Augen, Lucien. Ich glaube, wir haben alle Angst.“
,, Angst ist vielleicht das falsche Wort.“ , erwiderte Lucien, plötzlich wieder ernst. ,, Nicht vor dem Tod zumindest. Aber wenn ich mir aussuchen könnte, wie ich abtrete, kann ich mir schöneres vorstellen, als hier darauf zu warten, dass mir jemand ein Stück Stahl zwischen die Rippen rammt. Alt und Zahnlos in einem Schaukelstuhl beispielsweise.“
Sie schüttelte nur den Kopf, bevor sie über den Hof davon ging. Die Nacht
senkte sich jetzt endgültig über das Tal und der gewaltige, steinerne Festungsbau war fast völlig dunkel. So uneinnehmbar die hohen Mauern und abweisenden Türme auch wirkten, sie wusste nur zu gut, dass sie einem gezielten Angriff nur wenig entgegenzusetzen hatten. Kanonen und Sprengladungen würden innerhalb von wenigen Stunden Staub daraus machen. Tamyra sah zu einer einzelnen Reihe erleuchteter Fenster hinauf.
Kiara blickte derweil auf den dunklen Burghof hinaus. In ihrem Rücken brannte ein Feuer in einem großen Kamin und füllte den Raum mit Wärme. Trotzdem fror sie, als sie darüber
nachdachte, was nun auf sie zukam.
Hinter ihr an einem Tisch saßen Fenisin und der Seher Melchior. Während der Älteste der Gejarn ihre Unruhe zu teilen schien, war Melchior erstaunlich ruhig. Er hatte die Hände auf den Bernsteinknauf seines Stabs gestützt und wartete stumm darauf, dass sie etwas sagte. Aber sie hatte bereits alles getan, was in ihrer Macht lag, dachte die Ordensoberste. Die magischen Fallen vor der Burg wären ihre letzte Verteidigungslinie. Und sie wusste schon jetzt, dass sie nicht ausreichen würden. Selbst wenn Andres Heer blind hineinmarschieren würde…
Die Zauber würden ihr Blut zum Kochen
bringen, sie zu Asche verbrennen oder direkt den Lebensfunken auslöschen. Und doch wäre es, trotz all dem Schrecken, den die Magie entfesseln konnte, bei dem Aufgebot, das der Herr von Silberstedt gegen sie führte, niemals ausreichen.
,,Ich bin alt verflucht.“ , murmelte sie. ,, Das ist keine Aufgabe für eine alte Frau.“
,, Aber ihr gebt doch nicht auf, oder ?“ , fragte Melchior. Der Seher klang beinahe amüsiert. Wusste dieser Mann wirklich etwas, das sie nicht wusste? Seine Ruhe schien ihn zu verraten. Oder er war eben wirklich nur ein verrückter alter Mann. Kiara sah in die Runde. Sie
waren alle Alt. Drei verrückte alte, die sich vornahmen, die momentan größte Streitmacht Cantons aufzuhalten. Sie waren alle alt, müde… und zumindest sie und Fenisin hatten Angst.
,, Nein. Ich wünschte mir im Augenblick jedoch wirklich mein Einsiedlerleben zurück. Oder zumindest, zwanzig Jahre jünger zu sein.“ Sie drehte sich zum Tisch um. ,, Dann würde ich alleine nach Silberstedt gehen und den Ort in Schutt und Asche legen.“
Kiara setzte sich, nach wie vor den Kopf voller Sorgen.
Es war Fenisin, der schließlich wieder das Wort ergriff. ,, Ich denke, ihr unterschätzt euch ja vielleicht. Ich habe
gesehen, was die Zauberer des Ordens anrichten können.“
Sie nickte. ,, Und es geschah nicht immer zum Besten, wie ich zugeben muss. Unsere Macht sollte uns der Welt gegenüber eigentlich verpflichten, Ältester. Als ihre Wächter. Und doch kann ich jetzt nichts tun, als zuzusehen, wie alles in Stücke geht. Wenn Andre Erfolg hat, gab es die längste Zeit ein Canton-Imperium. Das Kaiserreich ist Geschichte und was darauf folgt, will ich mir gar nicht vorstellen. Es ist vielleicht nicht das beste System, aber es hat den Frieden im Land für Jahrhunderte gewährleistet. Wenn man von euren Eskapaden einmal absieht,
Fenisin.“
,,Ihr müsst etwas Vertrauen haben.“ , antwortete Melchior.“
Kiara lachte bitter. ,, Vertrauen… Wenn das so einfach wäre. Wie sieht es mit euch aus Seher? Sagt mir wenigstens, das eure Gabe für euch auch eine Last ist.“
Melchior antwortete nicht sofort, sondern starrte einen Augenblick auf seine Füße. Der Seher schien lange nachdenken zu müssen.
,, Teilweise. Ich wurde dazu erzogen, oberste Zauberin. Mein Volk besitzt seine ganz eigene Form der Magie, wie ihr vielleicht wisst. Seher werden nur unter den Eisnomaden geboren… und es gab selten mehr als hundert von
uns.“
,,Man hat euch erzogen, etwas, mit dem ihr nun einmal geboren wurdet, als Belastung zu sehen ?“ , fragte Fenisin. ,, Das ist Irrsinn. Dafür kann doch niemand etwas.“
,,Vielleicht. Meine Lehrer haben mich für alles um Verzeihung gebeten. Aber mit den Jahren habe ich besser verstanden, warum. Seher brauchen eine strenge Ausbildung, nicht weil wir unsere Gabe wie ein Zauberer beherrschen lernen müssten… sondern damit wir lernen, was sie bedeutet. Neben mir gab es damals noch fünf andere Seher unter den Pyrtan.“
,, Und was wurde aus ihnen ?“ , wollte
Kiara wissen.
,, Sie sind tot. Jeder einzelne Seher wird von meinem Volk einer Prüfung unterzogen, man könnte es wohl einen Wesenstest nennen. Wer versagt… stirbt.“
,, Das ist barbarisch.“
,,Aus eurer Sicht mag es das sein. Aber ihr wisst, was ein böswilliger Zauberer anrichten kann. Stellt euch vor, welche Zerstörung ein Seher verursachen würde. Einer, der sich seiner Bürde nicht bewusst ist… Er könnte versuchen, die Welt zu beherrschen, aber das Wesen der Prophezeiungen macht das zu einem äußerst gefährlichen Unterfangen. Er würde es versuchen, aber ultimativ muss
er scheitern. Jemand, der nur nach seinen Visionen handelt, würde die Welt in den Untergang führen. Deshalb dürfen wir uns auch nicht direkt einmischen. Wir können einen Rat geben, ja, aber sich dem Schicksal voll in den Weg zu stellen ist unmöglich.“
,, Aber wenn man die Zukunft kennt, wie würd man dann versagen ? Es scheint mir, als hätte man euch das nur erzählt um euch unter Kontrolle zu erhalten. Wie Schauermärchen, die man einem Kind beibringt.“ , stellte Kiara fest.
Melchior sah auf und der unterdrückte Zorn, der in seinen Augen aufblitzte, sagte ihr, dass sie ein Stück zu weit
gegangen war. ,, Glaubt nicht, ich wüsste nicht wovon ich spreche, Zauberin. Ich weiß es nur zu gut. Glaubt ihr wirklich, mir fiele es leicht, mir das Leid der Welt anzusehen, in dem Wissen, das ich absolut nichts tun kann?“ Versöhnlicher fuhr er fort: ,, Die Zukunft ist nicht in Granit gemeißelt, sie fluktuiert, Kiara. Alle Schicksale bilden zusammen ein großes Netz, aber die Fäden darin verschieben sich ständig und es ist für eine einzelne Person unmöglich, ihnen ständig allen nachzuspüren. Manche reißen auch ganz und damit können ganze Teile des Gewebes sofort ins Nichts gerissen werden, bevor man es auch nur bemerkt.
Und dann gibt es wieder vereinzelte, goldene Pfade darin, die immer ihr Ziel erreichen, was man auch versuchen mag, sie umzulenken. Jeder Seher sieht daher immer ein, ein wenig anderes, Bild der Zukunft. Früher, wo es noch mehr von uns gab, konnte sich mein Volk aus dem Wissen eine Vorhersage zusammenfügen, die sehr genau beschrieb, was geschehen würde. Jetzt bin nur noch ich übrig. Und vielleicht bin ich der letzte, den es je geben wird. Die Welt hat sich verändert, Kiara. Ob ihr es bemerkt oder nicht. Sie bietet immer weniger Platz für alte Sagen und… verzweifelte Propheten.“
,,Könnt ihr denn sehen, wie das alles ausgehen wird
?“
Melchior schüttelte den Kopf. ,, Nicht sicher. Nur eines weiß ich. So viele Fäden, wie hier auch zusammenlaufen mögen, sie sind nichts gegen das, was Kellvian umgibt. Der Junge hat eine Zukunft und wir alle werden unseren Teil darin spielen müssen. So bitter, das auch werden mag. Ich habe ihn vor zwei Jahren so gut es ging geschützt… nur um ihn jetzt dem Sturm zu überlassen, der hereinbricht. Und wir werden ihm mitten hindurch folgen, Kiara. Wir sind bereits mitten drin, fürchte ich. Ob wir lebend auf der anderen Seite herauskommen jedoch… weiß ich nicht.“
,,Ich kannte seine Mutter.“ , meinte die
Zauberin. ,, Silvia. Eine der talentiertesten Magierinnen, die der Orden je gesehen hat. Wäre sie bei uns geblieben, ich schätze, sie wäre an meiner Stadt zur nächsten Ordensoberen aufgestiegen. Stattdessen hat sie das aufgegeben. Ich bin Kellvian bisher nur einmal begegnet, aber von ihr hat er wohl seine sanftere Ader geerbt. Konstantin hätte Andre vermutlich hinweggefegt, bevor er gefährlich werden konnte. Und ihr bittet mich, mein ganzes Vertrauen trotzdem ihn diesen unsicheren Jungen zu setzen?“
Fenisin bemerkte gar nichts, sondern musterte nur die Zauberin und den Seher, die sich am Tisch
gegenübersaßen. Der Älteste, dachte Kiara, machte sich seine ganz eigenen Gedanken, auch wenn er die noch vor ihnen geheim hielt. Fenisin war kein Feigling. Aber konnten sie Kellvian wirklich einfach alles anvertrauen, grade, wenn der Ausgang so ungewiss war?
,,Ich fordere euch zu nichts auf, Kiara. Ich habe euch bereits erklärt, wieso ich dazu weder die Macht noch das Recht habe. Aber ich bitte euch darum.“
,,Ich werde wirklich zu alt für so etwas.“ , seufzte sie. ,, Vielleicht gelingt es uns auch, Andre hier zu stoppen.“ Sie glaubte nicht daran. ,, Wie ihr sagtet, die Zukunft ist nicht
festgeschrieben, Melchior. Aber wenn wir wirklich nur die Wahl zwischen Andre und Kellvian haben, weiß ich, auf welcher Seite ich stehen werde. Auch wenn ich ihn für zu unerfahren halte, der Junge hat potential. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Kontrolle über alles, was geschieht.“
Melchior schmunzelte. ,, Das sagt die Richtige.“
,, Verzeiht. Euer Dilemma ist wohl noch größer als mein eigenes.“ Sie stand auf. ,, Ich vertrete mir ein wenig die Beine und kontrolliere noch einmal die Schutzzauber. Wir sehen uns morgen. Und dann können wir nur abwarten, was der Tag bringen wird.“