Vorwort
Lieber Leser
Die nachfolgende Geschichte entstand im Rahmen eines Wettbewerbs, in dem ein vorgegebenes Bild als Inspiration für den Inhalt des Textes dienen sollte, auch zu finden unter Forumsbattle 36 im Forum der Homepage: http://www.mystorys.de. Von 12 Vorgabewörtern mussten alle benutzt und bezüglich der Übersichtlichkeit fettmarkiert werden. Im Text werden alle 12 Wörter verwendet.
Viel Spaß beim Lesen des Werkes und beim Betrachten meiner Illustrationen, ausgeführt in Schraffur mit Stift und Zeichenkohle.
Außerdem möchte ich mich für die sprachliche Hilfestellung bezüglich des plattdüütschen Dialekts bei Jürgen Malewski bedanken!
Andyhank, Dezember 2014
***
Die Tiefen von ECØN. Schwarz wie die Seelen der grünstichigen Eichhörnchen, die niedlich anzuschauen sind, aber den Irrgläubigen vom Wege und ihn unweigerlich ins Verderben locken. Man munkelt, dass im ECØN die Geister ihr Unwesen treiben. Jeder erfahrene Fischer meidet diese Stelle. Selbst in höchsten Nöten, so heißt es weiterhin, kehren die, die es dennoch versuchen, nicht zurück.
An den Ufern, zwischen scharfkantigen Steinen und Kieseln, neben mannshohen Schachtelhalmen, an denen sich schon so manch Ertrinkender die Haut aufriss, im Glauben, Rettung zu finden, kleben beharrliche Nebelfetzen wie Wattebäusche fest und tauchen die Landschaft in ein
beklemmendes Zwielicht. Nur die Sterne am Firmament leuchten klar. Wenigstens anhand dieser kleinen Leuchten vermag sich der Suchende zu orientieren.
„Hol dat Helmholt faast, Pietje!“, (Halt die Pinne fest, Pietje!) raunzte Opa leise, aber bestimmend. Sein Enkel schreckte ob der rauen Stimme auf und hätte beinahe das Holz losgelassen. Es war aber auch viel zu früh für diese Art von Beschäftigung! Normalerweise würde er jetzt im Bett liegen und angenehm träumen. Doch was war schon normal? Es gab nichts zu essen. Für einen Kauf gab das klägliche Ersparte nicht viel her. Und Opa besaß nicht viel.
Nur diese kleine Jolle, die recht und schlecht geflickt ihren Dienst tun konnte. Und sogar schwamm. Pietje war ganz stolz, als Opa ihn lobte, dass er die Jolle auf Vordermann gebracht hatte. Mit Moosflechten und Lehmklumpen, jener besonderen Sorte, die es nur unter alten Baumwurzeln gab. Doch die Jolle würde nur einen Tag lang damit fahren können. Dann musste sie erneut abgedichtet werden. Und so gab es immer etwas zu tun. Wenn es doch dieses vermaledeite Essen nicht gäbe …
Pietje aß für sein Leben gern. Doch dieses Mal … Entgegen allen Ratschlägen der wenigen noch ansässigen Fischer musste Opa die Ufernähe verlassen. Es gab einfach keine Fische mehr.
Und als die Fremden kamen - seit diesem Tage an waren auch die essbaren Muscheln verschwunden. Es schien so, als hätte es nie Leben an den Ufern vom ECØN gegeben.
„Saacht …“, zischte Opa. „Wie sünd all dor!“ (Leise … Wir sind da!)
Pietje ließ den frisch geölten Wurfanker in Luv leise in die schwarzen Fluten gleiten. Hoffentlich fasste das spitze Ende Fuß. Das aufgeschossene Tau entrollte sich schnell. Noch immer kein Grund …!
„Opa …“, flüsterte Pietje, „es …“ – aber da ruckte es dumpf und das Tau straffte sich. Beinahe wäre Pietje vor Schreck wie entwurzelt umgekippt.
Leise raschelnd, wühlte Opa im Schapp, einem kleinen Verschlag des Bootes, und holte eine Flasche heraus.
„Mooch dien Klüsen op un drink wat!“, (Mach die Augen auf und trink etwas) munterte er Pietje auf. Der ließ sich nicht lange bitten und nahm einen tiefen Schluck. Uuuh, bäääh, Kujambel! Schon wieder verdünnter Fruchtsirup … und viel zu süß. Doch das kneifende Gefühl im Bauch verschwand. Dankbar gab Pietje Opa die Flasche zurück, der schon dabei war, das Netz auszuwerfen. Leicht schaukelte die Jolle. Die schwarzen Wellen sahen aus wie Ahornsirup, wenn er verkocht und in Einmachgläser gefüllt wird.
Opa krümmte die Finger wie eine Baumwurzel und machte eine wischende Bewegung mit beiden Händen. Von Luv nach Lee und wieder zurück.
Dann starrten die Beiden in die unruhige Tiefe. Pietje hüllte sich in eine Decke. Opa hingegen saß einfach so da, die Beine angewinkelt, die Knollennase und den Vollbart aus dem wettergegerbten Gesicht gestreckt. Warten ... Viele Stunden … Vielleicht etwas schlafen. Opa würde ihn schon wecken. Die Müdigkeit war groß, doch der Zweifel nagte. Pietje kannte den Fluch vom ECØN. Es gab sogar einen Abzählreim:
Een, Twee, Dree – de Daak flegen
Veer, Fief, Söss – wenn de dich kregen
Söven un Tach – keen geit af?
Negen un Tein – du musst goh'n!
(Eins, Zwei, Drei – die Nebel fliegen
Vier, Fünf, Sechs – wenn sie dich kriegen
Sieben und Acht – wer rennt hinfort?
Neun und Zehn – du musst geh’n!)
Doch er würde keine Ruhe bekommen! Ein smaragdenes Licht durchbrach die klebrigen Nebelfetzen. Ein Motor (war es überhaupt einer?) brummte auf. Überhaupt … Hier? Mitten auf dem Wasser? Es gab keine Straße! Die Fremden …!
Es war Zeit, sich zu verstecken!
Doch wo? Wohin? Wie?
„Rünner!“, (Runter!) zischte Opa bestimmend, und duckte sich hinter die Bordwand. Pietje tat es ihm nach. Doch die Neugier war größer. Er musste sehen! Auch Opa lugte über den Rand. Was sie erblickten, erschien unglaublich!
Zuerst ging das Motorgeräusch aus. Dann kam ein leises Brausen auf. Es klang eher wie ein flapprig, ledriges Rauschen, ähnlich wie von wattiert musizierenden Eulenschwingen, wenn sie wie aufgeplustert die Noten der Lüfte bestreichen.
Dann senkte sich ein abgerundeter Kegel durch die Nacht und blieb etwa einen Meter
über der Oberfläche des ECØN stehen.
Etwas fuhr daraus herunter. Eine Art Plattform wurde sichtbar. Zwei Männer (?) hoben eine Kiste hoch und ließen sie in die Tiefe gleiten. Dann fuhr die Plattform wieder hinauf und der Kegel verschwand in der Nacht. Der Motor klang auf und das komische Licht huschte wie ein Fingerzeig auf die Stelle, in der die Kiste ihre letzten blubbernden Töne von sich gab. Dann wurde es wieder dunkel wie die Nacht. Eine unheilgeschwängerte Stille machte sich breit. Noch lange wagten Opa und Pietje nicht, ihre Köpfe zu heben. Doch irgendwann rosten die Gelenke und die Gliedmaßen wollen bewegt werden.
„Dat weer abstruss, dat wie dat beleven doon …“, erklärte Opa.
(Das war eine Inklusion …)
„Eine was …?“, staunte Pietje.
„Dat weer to afdreit di dat to verkloor'n, wat ik meen.“, (Das kann ich dir nicht erklären.) brummte Opa schon wieder wie ein alter Seebär. „Een weet dat, or een weet dat nicht, is dat kloar!“ (Entweder man weiß es, oder nicht, basta!)
Pietje zuckte mit den Schultern. Dann eben nicht. Es war ja auch nicht wichtig. Wichtig wäre zu wissen, was in der Kiste sein könnte.
Opa schien seine Gedanken teilen zu können, denn er schaute sich vorsichtig um.
Nichts! Nichts und niemand teilte ihre Anwesenheit auf dem ECØN.
Als wenn überhaupt nichts passiert wäre.
Das Netz hing noch immer über der Reling, der Anker hielt die Jolle und die Wellen schaukelten leise, wenn sie sich bewegten. Kein Sturm, keine Gischt, kein Durcheinander der Wogen, wenn etwas Schnelles die Wasser gepflügt hätte, wie es eigentlich hätte sein sollen. Aber nichts! Als wenn überhaupt nichts passiert wäre.
Pietje war drauf und dran, das Ganze als Traum abzuhaken. Wenn da nicht Opa noch wäre … Können zwei Menschen den gleichen Traum haben? Verwundert schaute er zu, wie Opa das Netz einholte. Jetzt schon? War es schon soweit?
Opa entfuhr ein Laut der Befriedigung:
„Verdammich, de Düvel schull mi holen!?“ (Tausendsassa, ist das denn die Möglichkeit) Pietje schaute und freute sich mit. Fische! Nicht viele, aber immerhin. Fünf, um genau zu sein. Fünf Mahlzeiten für ihn und Opa! Da wird es wohl gleich zurückgehen. Pietje holte den Anker ein und legte das Tau spiralförmig zusammen. Dann ging er daran, die Segel zu setzen. Doch kam alles anders …
„Treck dat Tuch in!“, (Reff die Segel!) befahl Opa, auf die gewisse Stelle zeigend. „Wie hebbt dat oordig mit den Dusel, amenn ok dor …..“ (Das Glück ist uns hold. Vielleicht auch da …)
„Du meinst …?“, fragte Pietje erstaunt.
„Ik meen!“ (Ich meine) Nun klang Opas Stimme schon fester. Nun ja, was sollte schon passieren? Auf einem Gewässer, auf dem ein Fluch liegen sollte? Wovon es noch niemand geschafft hatte, zurückzukehren? Mit fünf Fischen im Netz? Was sollte da eigentlich noch passieren …
So glitt die Jolle auf die Stelle zu, an der die Kiste versenkt wurde. Wenn es eine war. Sie sah zumindest so aus. Nächte können trügerisch sein. Und der ECØN sowieso. Da war sie wieder, die kleine Befangenheit … So glitt die Jolle darauf zu. Opa schien nun zu allem entschlossen zu sein!
Dann hingen sie darüber.
Opa zauderte nicht lange:
„Pietje, nümm den Marlspiker de Deep to loden. Mi dücht, de Dusel is bi us!“ (Pietje, nimm den Marlspiker und lote die Tiefe. Vielleicht haben wir Glück) Er fügte hinzu:
„Un moog to! Lot fallen Anker!“ (Und beeil dich. Und wirf den Anker!)
Pietje sputete sich. Die Jolle war schnell festgemacht, und es lag noch viel Tau ungenutzt im Boot. Pietje nahm den Piker und tauchte ihn ins Wasser. Bamm… – Schon steckte die Spitze fest. Fest? Hier …? Wie konnte das sein? Opa war verzückt.
„Ik heff mi dat dacht!“, (Dachte ich’s mir) murmelte er vergnügt. „Treck emm rut! Ik wull wat proevern.“
(Zieh raus, ich will was probieren.)
Sprach’s und zog sich die Sachen aus. Dann tauchte er den großen Zeh in die schwarze Suppe.
„Huuh …., dat Tüchs is woarm, kann een dat vööraff weeten …“, (Huuh …, das Zeug ist wärmer, als es aussieht …) und sprang, sich am Tauende festhaltend, vollends hinein. Und … stand! Opa stand mitten im ECØN - eigentlich eine schiere Unmöglichkeit! Vorsichtig watete er um sich herum, nicht ohne das Tau loszulassen. Dann schien er sich an etwas zu stoßen. Er bückte sich und machte einen Knoten unter der Wasseroberfläche. Opa kam schnaufend und prustend zum Vorschein.
„Pull!“, (Zieh!) sah er fordernd zu Pietje.
Opa stemmte sich dagegen.
Erst passierte gar nichts, doch dann ertönte ein dumpfes Schmatzen. Die Kiste kam zum Vorschein. Opa und Pietje zogen und schoben was das Zeug hielt. Endlich stand sie auf den Planken. Opa hangelte sich an der Reling hoch. Ein triumphierendes Glitzern blitzte in seinen Augen auf. Dann strich er über den makellosen Deckel des Behälters, der einen mattschimmernden Nimbus aufwies. Begehrlich und doch wiederum ehrfurchtsvoll begann Opa die Oberfläche zu untersuchen. Er suchte lange, doch nach gefühlten zwei Stunden gab er es auf.
„Dummelbüx …“(Nichts …), schimpfte Opa enttäuscht. Pietje fühlte mit ihm! Die ganze Schufterei! Wofür? Und nun?
Er tippte ärgerlich, doch nicht allzu grob, mit dem rechten Fuß dagegen. Es zischte. Opa schreckte auf und sah die Kiste mit großen Augen an. Pietje zuckte verlegen mit den Schultern. Der Deckel hob sich etwa einen Zentimeter in die Höhe und klappte dann mit einer schaukelnden Bewegung zur Seite. Opa sah neugierig hinein.
„Dat …. is Soochgspöhn.
Nix as Soochgspöhn …!“, (Das … sind Sägespäne. Nichts als … Sägespäne …!) ließ er aufgewühlt verlauten. Seine Hände strichen behutsam über die Oberfläche. Staunend sah Pietje zu. Was wollten die Fremden mit Spänen? So ein Aufwand deswegen. Pietje konnte das nicht verstehen.
Opa griff beherzt zu.
Bald lag schon ein ansehnlicher Haufen davon im Boot. Pietje steckte sich ein paar Handvoll ein. Vielleicht zum Feueranmachen. Oder ins Kopfkissen? Wer weiß, welches Geheimnis in diesen Spänen steckte. Dann stockte Opa. Seine Hand umschloss etwas Griffiges. Etwas, was in den Spänen steckte! Zögernd brachte er den Gegenstand hervor.
„Hm …“, überlegte er laut, „wat schall dat sien?“ (Hm …. was soll das sein?)
„Sieht wie Omas Schmuckschatulle aus.“, meinte Pietje, „Nur anders, graziler und …“
„Aver gräsiger!“, (Hässlicher!) stellte Opa fest. „Er Doos weer een beten anners, un ik heff de Doos nich moogt. Oma weer eegens, jümmers, wat se moog, moog se. Wat nich,
kannst er ok nich to sabbeln.
Dat weer för us Hochtied sotoseggen. Un dit hier … is jo wedderlich!“ (Oma hatte schon immer einen seltsamen Geschmack. Ich hatte ihr diese nur damals gekauft, weil sie sie unbedingt haben wollte. Als Hochzeitsgeschenk sozusagen. Und das hier … ist ja widerlich!)
Opa warf die Schatulle achtlos zurück und kippte die neben der Kiste liegenden Sägespäne darüber. Er drückte den Deckel herum, der sich mit einem leisen Zischen wieder auf die Öffnung drückte. Pietje schaute bekümmert. Die Kiste wäre eigentlich ganz gut zu gebrauchen. Den Inhalt hätte man ja verheizen können.
Aber – vielleicht war es auch ganz gut so.
Wer weiß, was die Fremden gemacht hätten, wenn sie eines Tages wiedergekommen wären.
Und keine Kiste vorgefunden hätten …!
„Kumm, hölp mi mol!“, (Komm, hilf mir mal!) forderte Opa Pietje auf, mit anzupacken. Gemeinsam stemmten sie sich gegen die Kiste. Bald schon verrieten nur leise blubbernde Geräusche vom Untergang des vermeintlichen Schatzes.
„Kumm, Pietje, lot us tohuss gohn. Ik bün mööd.“, (Komm, Pietje, lass uns heimwärts fahren. Ich bin müde) bat Opa. Pietje zuckte zusammen.
Die Nacht schien noch lang, aber die Aussicht der Heimkehr ließ die Zeit kürzer erscheinen.
Pietje setzte die Segel und begab sich dann zur Ruderpinne.
Opa hängte sich als Gegengewicht in Luv, damit das Boot nicht kentern konnte. Die Luft war frisch und roch nach salzigem Tang. Der Kiel pflügte durch die Wellen und nichts schien die Stimmung trüben zu können. Nebel kam auf. Dichter, wattriger und klebriger als je zuvor. Wie wenn ein warmes Messer weiche Butter trennt, fuhr die Jolle hinein, und …
.... verschwand.
Die Tiefen von ECØN. Schwarz wie die Seelen der grünstichigen Eichhörnchen, die niedlich anzuschauen sind, aber den ihnen Folgenden vom Wege und unweigerlich in die Tiefen locken.
Man munkelt, dass im ECØN die Geister ihr Unwesen treiben. Jeder erfahrene Fischer meidet diese Gewässer. Selbst in höchsten Nöten, so heißt es weiterhin, kehren die, die es dennoch versuchen, nie zurück.
Ein paar Tage später hätte man eine verlassene, unversehrt gebliebene Jolle am Strand auffinden können.
Auf ihrem Boden lagen fünf tote Fische und ein kleiner Haufen Sägespäne, die sich bei genauerem Hinschauen als Goldspäne entpuppen würden …
Das Geheimnis der Kiste jedoch versank wie deren Inhalt. Wo man nichts weiß, kann man nichts mutmaßen. Nur die Legenden munkeln so einiges …
Jedoch …, wer konnte ihnen schon Glauben schenken?
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Sachwortverzeichnis
Aufschießen – ein Tau/Seil wird spiralförmig zusammengelegt
ECØN – frei erfundener Name für ein Gewässer
Inklusion – Zugehörigkeit, Gegenteil von Ausgrenzung
Kujambel – ein undefinierter Mix aus Fruchtsirup und Wasser
Lee – dem Wind abgewandte Seite des Bootes
Luv – dem Wind zugewandte Seite des Bootes
Marlspiker – länglicher Dorn zum Öffnen von z.B. Tauwerk
Reffen – Segelfläche einholen, oder verkleinern
Schapp – kleiner Verschlag oder Schrank