Es war Abend. Die Sonne stand schon tief am Horizont und der Abendhimmel schimmerte rot. Noah aber war noch nicht müde. Er hatte sich auf das Fensterbrett gesetzt und schaute durch das offene Fenster hinaus in die Welt, als ein Marienkäfer herein flatterte und sich auf seinen Arm setzte. „Du hast es gut, Glückskäferchen. Du kannst hinaus fliegen bis zum Sonnenuntergang. Ich aber muss hier am Fensterkreuz hocken und kann
nur hinausschauen.“ sagte Noah traurig. „Kannst du mich nicht das Fliegen lehren?“ „Ach.“ meinte der Marienkäfer „das Fliegen ist leicht, du öffnest deinen Schutzpanzer und schlägst mit den Hautflügeln und schon hebst ab und fliegst.“
Dann musterte er Noah, flog flatternd um ihn herum , setzte sich wieder auf Noahs Arm und fuhr fort: „Aber du hast ja gar keine Flügel?“
„Nein, Flügel habe ich nicht.“
„Und nicht einmal sechs Beinchen!“
„ Nein, nur zwei. Und zwei Arme“ erwiderte Noah. „Was bist du nur für ein seltsamer Käfer“ sprach der Marienkäfer und stellte seine roten Deckflügelchen mit den sieben schwarzen Pünktchen auf. „Versuche doch einmal mit den Armen zu schlagen, so wie ich mit den Flügeln.“ Und Noah flatterte mit seinen Armen, doch es gelang ihm nicht, sich auch nur ein winziges Stück in die Luft zu erheben.
„Schade, Noah,“ meinte das Käferchen „aber vielleicht versuchen wir es morgen noch einmal.“
Sprach´s und schwang sich mit leise knatternden Flügeln in die Luft. Noah sah ihm nach bis sich der Käfer im Abendrot verlor.
Am folgenden Vormittag saß Noah wieder am Fenster und träumte davon, frei wie ein Vogel unter dem Dach der Welt von Wolke zu Wolke zu schweben. Von der Straße drang das Lachen spielender Kinder an sein Ohr, als ein Papierflieger ins Zimmer schwebte und auf seiner Schulter landete.
„Hoppla,“ grinste der Papierflieger, ,,aber ich konnte dir nicht mehr ausweichen.“
„ Du schlägst nicht mit den Flügeln, so wie der Käfer. Sag mir, warum kannst du dennoch fliegen.“
„Ach,“ meinte der Papierflieger, „ das ist doch ganz einfach, ich bin aus Papier gefaltet und so leicht, dass ich mich auf den Wind legen und mich von ihm hinwegtragen lassen kann, bis ich endlich langsam zur Erde sinke. Aber du, Noah, wirst niemals fliegen können. Mir scheint, du bist zu groß und zu schwer, als das der Wind dich Huckepack tragen könnte. Aber du kannst mir zuschauen, wie ich es mache. Nimm mich einfach zwischen
Daumen und Zeigefinger und setze mich wieder auf den Rücken des Windes.“
Und Noah nahm den Papierflieger und setzte ihn mit sanftem Schwung auf eine leichte Brise, die ihn durch das Fenster hinausgleiten ließ. Dann verfolgte er den Flug des Papierfliegers bis dieser endlich in taumelnden Kreisen auf dem Kopfsteinpflaster der Straße landete.
Am Nachmittag des gleichen Tages hockte Noah wieder vor dem Fenster. Sanft strich der Wind über sein blondes Haar und spielte mit seinen Locken. Hoch oben am blauen Himmelszelt standen rote und gelbe Drachen, die die Kinder aus seiner Straße aus schmalen Holzleisten, dünnen Schnüren und leichtem, fast durchsichtigen Papier gebastelt hatten. Noah überlegte, wie es wohl sei, wenn er wie die bunten Papierdrachen unendlich hoch über dem
Stoppelfeld schweben könne, wie er kopfüber in schnellen Kreisen in die Tiefe stürze, um schließlich im gewagten Bogen wieder aufzusteigen bis zu den Wolken.
„Holla, Noah.“ Eine fremde Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Wer ruft mich?“ fragte sich Noah verwundert.
„He, schau hinaus aus dem Fenster.“
Noah beugte den Oberkörper vor, legte den Kopf in den Nacken, äugte nach
oben und erblickte einen Papierdrachen, der mit schwarz-weißem Zeitungspapier bespannt war.
„Ich bin ein Windvogel.“ wisperte die Stimme. „Kannst du mir helfen? Mein Schwanz hat sich an einem Ast des Baumes, der an deinem Fenster steht, verfangen. Und ich habe keine Arme und Hände, um mich loszubinden. “
„Ich will´s versuchen!“ rief Noah, stemmte sich auf das Fensterbrett und versuchte den Schwanz des Drachens, der mit einigen Strohbüscheln versehen war, zu greifen. Mit einiger Mühe gelang
es ihm schließlich, das Ende des Schwanzes zu packen und aus dem Geäst
zu befreien. „Sag, Windvogel, du hast keine Arme und keine Flügel und kannst doch fliegen. Kannst du mich nicht das Fliegen lehren, denn möchte wie du frei am Himmel meine Kreise ziehen.“ fragte Noah hoffnungsvoll. „Ach, Noah, du kannst doch fliegen, weitaus besser noch als ich. Meine Freiheit reicht nicht weiter als die lange Leine, die mich hält. Nicht ich bestimme, wohin ich fliege, nein, die
Winde zerren an mir und treiben mich mal hier hin, mal dort hin. Aber du, Noah, du bist frei. Du kannst gehen, wohin du willst, du kannst fliegen, wann immer du es willst. Nutze nur die Kraft deiner Fantasie.“
Der Windvogel sprach´s und schwang sich dankbar wieder auf in die hohen Lüfte.
Enttäuscht sank Noah zurück in seinen Rollstuhl.
„Was weiß ein Windvogel aus billigem, bedrucktem Zeitungspapier schon."
dachte er traurig.
"Ich habe zwei Beine, die nichts taugen, aber keine Flügel, die mich tragen können. Wie sollte ich gehen oder gar fliegen können?“
Am Abend des gleichen Tages fand Noah auf dem Fensterbrett ein Buch. Zunächst blätterte er gelangweilt darin herum. Schließlich begann er zu lesen, tauchte ein in ein spannendes Abenteuer, das ihn aus seiner Traurigkeit, aus seiner Gegenwart heraus riss und ihn in eine völlig neue Welt führte, die ihn nicht wieder losließ.
Und Noah verstand nun die Worte des Windvogels.
© Peter H. Carlan 2014