Die Macht der Bruxa
ein Fantasyroman in Arbeit
von LilaLilime
Achje, wie lang ist es her, dass ich anfing die Geschichte von Hava, Aqua, Terra und Ponpye zu erzählen... seit 2Jahren habe ich nun nicht mehr an sie gedacht und wollte es auch dabei belassen. Doch vor ein paar Tagen drängten sie sich mir wieder auf. Sie schrien mich an, ihre Geschichte endlich zu erzählen und dank zwei besonderer Freundinnen von mir, habe ich mich entschlossen die Geschichte nun endlich zu Ende zu bringen.(An dieser Stelle ein ganz großes und liebes Dankeschön Caro und Lissy!) Allerdings gefielen mir die bereits geschriebenen Kapitel überhaupt
nicht mehr und auch die einzelnen Charaktere wirkten platt und nicht wirklich existent, also beginne ich noch einmal ganz von vorn und hoffe es gefällt euch :)
Die untergehende Sonne ließ den Schnee auf den weiten Feldern wie tausende Diamanten glitzern. Rosa und orangefarbene Streifen malten ein traumhaftes Muster in den dunkler werdenden Himmel. Die Bäume des Waldes wiegten sich sacht in der leichten Brise. Kristallene Flocken schwebten auf die Welt herab und hüllten die Landschaft in einen kalten Mantel aus Eis. Ruhig stand das imposante Schloss auf einem Hügel, inmitten eines verträumten Dorfes, die Häuser erstreckten sich strahlenförmig wie die Sonne um die Anhebung herum. Männer
und Frauen gingen Hand in Hand durch die Straßen, zogen Schlitten mit lachenden Kindern darauf, hinter sich her. Königin Álainn stand am Fenster des großen Saals und blickte auf ihr Gefolge. Ein zufriedenes Lächeln spielte um ihre Lippen. Kräftige Arme legten sich von hinten um ihren Körper. Sie seufzte und drehte sich in seiner Umarmung herum, sodass sie in seine Türkisen Augen blicken konnte. „Ist dir kalt meine Liebe?“, fragte er mit tiefer Stimme und zog sie näher an sich, um sie zu wärmen. „Unser Glück könnte gar nicht vollkommener sein“, flüsterte Álainn und schmiegte ihr Gesicht an das ihres
Mannes. Wie aufs Stichwort drangen Babyschreie durch den Saal. Sie lachte und zog den König mit sich. Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, da vibrierte plötzlich die Erde, ein lauter Knall folgte. Panisch blickte Àlainn sich um. „Was war das?“ Der König schüttelte den Kopf. „Schick nach den Wächtern. Die Ruhe ist vorbei!“ Mit diesen Worten küsste er seine Frau auf die Stirn und eilte auf das große Eichenportal zu, das in diesem Moment von zwei starken Soldaten aufgestoßen wurde. Von Angst erfüllt eilte die Königin durch die leeren Korridore. Sie fand die Wächter in der großen Bibliothek und
weihte sie schnell in den Plan ein. Entschlossene Gesichter blickten ihr entgegen. Diese Männer wussten was zu tun war, sie würden ihre Pflicht erfüllen, was es auch kosten möge. „Ihr müsst sie beschützen, um jeden Preis! Haltet euch versteckt! Wir nehmen Kontakt mit euch auf, sobald alles überstanden ist.“ Tränen rannen über ihre Wangen als sie an die nahende Trennung dachte. Es war nur eine Sicherheitsmaßnahme, es würde nicht lange dauern, redete sie sich ein und beruhigte sich. Sie musste stark sein. Sie war die Königin, alle sahen zu ihr auf. Keines Falls durfte sie Schwäche zeigen. Also trat sie an den Wartenden vorbei, hob die Hände und murmelte die
Worte, die ihr durch den Geist schwebten. Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus, die Luft um sie herum begann zu knistern als wäre sie elektrisch aufgeladen. Grünes Licht bündelte sich vor ihren Augen zu einer kleinen Kugel zusammen, die immer größer wurde und bald größer als sie selbst war. Zufrieden trat sie ein paar Schritte zurück und gab den Umstehenden mit einen Nicken zu verstehen, dass die Zeit gekommen war. Die Tür wurde aufgestoßen, erschrocken wirbelten die Versammelten herum. Eine zierliche Frau mit blondem Haar stand mit weit aufgerissenen Augen vor ihnen
und starrte sie an. „Der König schickt mich!“ stieß sie aus. „Sie kommen, er führt sie an... es ist alles verloren!“ Schluchzend brach die Frau zusammen. Álainn eilte zu ihr und half ihr wieder auf die Füße. „Geht jetzt!“ drängte sie die Männer, die wie angewurzelt dastanden und sich keinen Millimeter bewegten. „Wir können helfen.“ brachte einer von ihnen schließlich heraus. Doch die Königin schüttelte nur energisch den Kopf. „Ihr helft uns indem ihr geht!“ Damit zog sie die noch immer schluchzende Frau mit sich aus dem Zimmer, um sich den Kämpfern anzuschließen und die Schlacht zu schlagen.
Die zurückgebliebenen Männer blickten sich ein letztes Mal in die Augen, trafen so stumme Abmachungen und traten endlich einer nach dem anderem in den grünen Lichtkegel, der sich im Nichts auflöste, als der letzte durch ihn verschwand.
INITIO
-Der Anfang-
„Lass mich in Ruhe, verdammt!“ Müde zog ich mir die flauschige Decke über den Kopf und drehte mich auf die Seite. Ich zog meine Beine an die Brust und wartete, dass Ajira verschwand. Ihre Absätze klackerten über den Holzboden, doch zu meinem Verdruss nicht in die von mir gewünschte Richtung, aus meinem Zimmer heraus, sondern direkt auf mich zu. „Es tut mir Leid Miss Hava, aber Sie wissen doch, dass ich das nicht kann.“ Gab die südländische Frau kleinlaut von sich. Es tat ihr ganz sicher nicht leid und ganz sicher grinste sie genau in diesem Moment schadenfroh in
sich herein, weil ihr die Aufgabe übertragen wurde, mir mein Leben zur Hölle zu machen. Wir hätten Freundinnen sein können, ich hatte es versucht und ob ich es versucht hatte. Doch diese Frau war die falscheste Person, die mir je begegnet war. Sie war so falsch wie die Fingernägel, die an ihren schlecht manikürten Fingern klebten. Doch was ich sagte zählte nicht. Ganz und gar nicht. Also warf ich die Decke zurück und setzte mich auf. Ajira grinste breit und stolzierte an mir vorbei zum großem Fenster, um die schweren Vorhänge zu öffnen, die den Blick auf den wunderschönen Rosengarten unter meinem Zimmer freigaben.
Sonne durchflutete nun den Raum, sodass ich wie verrückt blinzeln musste. Ich streckte meine Arme aus, eine Aufforderung für Ajira, damit sie mir meinen Morgenmantel überstreifte. Eigentlich mochte ich es nicht, von vorn bis hinten bedient zu werden. Ich war ein eigenständiger Mensch, der oft genug vor seinen Eltern darauf beharrte, dass er alt genug war selbst für sich zu sorgen. Doch wie gesagt mochte ich Ajira nicht und sie war nun einmal meine Angestellte, einzig und allein dafür da, mir jeden noch so kleinen Wunsch von den Augen abzulesen und da ich sie nicht sonderlich leiden konnte, nutzte ich jede
Gelegenheit, ihr jede noch so kleine Aufgabe aufzuhalsen. Vor ein paar Jahren hatte ich sogar absichtlich mehrmals nacheinander ins Bett gemacht, nur damit Ajira es sauber machen musste. Aber irgendwann wurde es mir dann doch zu peinlich als das gesamte Personal darüber sprach und meine Eltern mich dazu nötigen wollten über Nacht eine Windel zu tragen. Heiße Dampfwolken folgen mir aus dem Badezimmer, als ich frisch geduscht vor meiner Frisierkommode platz nahm und darauf wartete, dass Ajira meine Haare entknotete und zu einem galanten Zopf flocht. Sie steckte gerade die letzte Haarnadel an meinem Kopf fest, da
klopfte es einmal kurz an meine Zimmertür und auf mein „Ja, bitte!“ trat Lucas, ein weiterer Angestellter meiner Eltern herein. Er wünschte mir mit einem wohlwollendem Lächeln einen schönen guten Morgen und verkündete, dass Mr. Kennari eingetroffen sei. Meine Wangen färbten sich schlagartig rot, was ich schnell vor Ajira verbarg, indem ich aufsprang und nach meinen Kleidern griff, die ich kurz zuvor zurecht gelegt hatte. „Du kannst gehen!“ zischte ich und meine Dienerin verließ den Raum. Schnell zog ich Unterwäsche und Jeans an. Doch bei meiner zartrosa Bluse verknöpfte ich mich ständig. Meine Finger zitterten und schafften es kaum
die Knöpfe durch die immer kleiner werdenden Löcher zu schieben. Jeden Tag aufs Neue machte mich die Aufregung zu einem Nervenbündel, das mich nicht mehr klar denken oder strukturiert handeln ließ. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich es dann aber doch geschafft, ich schlüpfte in meine weißen Sneaker und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Entgegen blickte mir ein Mädchen mit gold- blondem Haar, das üblicherweise in weichen geschwungenen Wellen über meinen Rücken fiel, heute aber zu einem hübschen französischen Zopf zusammengebunden war. Blass-graue Augen wurden von üppigen schwarzen
Wimpern umrahmt, perfekt gezupfte Augenbrauen rundeten das Erscheinungsbild ab. Ich formte meine blassrosa Lippen zu einem Kussmund und verließ eilig mein Zimmer. Als würden mich Flügel tragen, schwebte ich durch die Gänge, vorbei an großen Türen, zimmer großen Fenstern, Wandgemälden mit längst verstorbenen Vorfahren und sündhaft teuren Skulpturen. Je näher ich dem großen Studiensaal kam, desto aufgeregter wurde ich. Mein Herz schlug wild in meiner Brust, hämmerte nun so stark, als wäre sein letztes Stündchen geschlagen. Ich wischte mir die schweißfeuchten Hände an meinen Oberschenkeln ab und
betrat den Raum. Ein großer ovaler Glastisch nahm beinahe den gesamten Raum ein. Die Wand zu meiner Linken bestand vollständig aus Glas, zu meiner Rechten stapelten sich unzählige langweilige Bücher in zimmer hohen Regalen. Ich hatte nichts gegen einen guten Liebesroman hin und wieder, vor allem im Winter. Zusammengekuschelt in einer flauschigen Decke vor dem Kamin sitzend, eine Tasse heiße Schokolade und vom Koch gebackene Muffins vor mir, verbrachte ich die kalte Jahreszeit am liebsten. Doch die Bücher in diesem Raum handelten weder von romantischen Küssen, heißen Liebhabern oder
geheimen Liebschaften, im Gegenteil: hier fand man Wörterbücher, Atlanten, alles rund um Mathematik Chemie und Biologie, zahlreiche Geschichtsbände und Lexika. Im hinterem Teil des Raumes befanden sich mehrere Computer, als würde einer nicht völlig ausreichen, aber nein! Nur das beste für meine Ausbildung. Ich schlich auf Zehenspitzen den langen Tisch entlang und rutschte auf einen der bequemen Stühle, die Regalreihen in meinem Rücken. Vor mir stand eine hochgewachsene Gestalt am Fenster und starrte nach draußen. Auch von hier hatte man den Garten gut im Blick. Man konnte zwar den Rosengarten nicht
sehen, hier zeigte sich jedoch der große Teich, auf dem zahlreiche Enten und Schwäne ihr feuchtfröhliches Vergnügen hatten. „Guten Morgen Hava“ sagte der Mann leise als er sich zu mir herumdrehte. Sein blondes wuscheliges Haar fiel ihm in die Stirn, seine hellblauen Augen strahlten Güte und Wärme aus. Das Lächeln, das er mir schenkte war echt und willkommen heißend. Er trug dunkle Jeans und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er ein Stück hochgekrempelt hatte. Er hatte sich heute nicht rasiert, denn einige helle Stoppeln zierten seine Mundwinkel. Lachfältchen bildeten sich um seine Augen. Er sah einfach hinreißend aus! Und er war mein
Lehrer, Mr. Kennari. Benjamin Kennari, um genau zu sein. Er war nur acht Jahre älter als ich, liebevoll, witzig, einfühlsam, total heiß und extrem tabu! Er war mein Lehrer und mein einziger Freund. Ganz schön traurig oder? Mein Lehrer war mein bester Freund. Ich weiß nicht wie die besten Freunde anderer Mädchen so waren oder ob sie überhaupt männliche beste Freunde hatten, aber Ben war der einzige Mensch in meinem Leben, mit dem ich über alles reden konnte, über all meine Träume, meine Ängste, und Hoffnungen. Ich konnte mit ihm lachen aber auch weinen. Die Zeit mit ihm war die schönste des ganzen
Tages. Also nahm ich einfach an, dass ihn dies zu meinem besten Freund machte. „Was hast du? Du wirkst heute so nachdenklich“, stellte er fest als er mir gegenüber platz nahm. Er schlug seine Bücher auf und sah mich dann unverwandt an. Ich rollte mit den Augen, ihm entging aber auch gar nichts. „Heute ist nur wieder einer dieser Tage, an denen ich mich frage, wann ich jemals dieses Haus verlassen darf.“ gab ich zu und starrte auf meine Hände, die auf dem Tisch vor mir lagen. „Du warst doch erst letzte Woche mit Mael in der Stadt wenn ich mich nicht irre.“ begann er, doch ich brachte ihn mit einem energischen
Kopfschütteln zum Schweigen. „Mit dem Chauffeur in eine abgelegene wie ausgestorbene Boutique zu fahren, damit ich dort shoppen kann, hat nichts mit Ausgehen zu tun!“ lud ich meinen Frust bei ihm ab. Ich hatte meine Eltern wochenlang bekniet mich endlich einmal in die Stadt zu lassen damit ich mal so richtig ausgiebig einkaufen konnte. Nachdem sie endlich zugestimmt haben, bin ich freudestrahlend durch das ganze Haus getanzt. Doch statt einer Shopping-Tour im Zentrum Londons wurde ich mit der schwarz getönten Limousine in irgendein ausgestorbenes Dorf chauffiert, dort ließ mich Mael nicht für eine Sekunde aus den Augen. Nachdem er
sogar vor der winzig kleinen Umkleidekabine, die nur durch einen dünnen Vorhang vom Rest des winzigen Ladens abgetrennt wurde, Wache stehen musste, hatte es mir gereicht. Ich stapfte ohne etwas gekauft zu haben wieder zurück zum Auto und gab meinem Begleiter die Anweisung mich nach Hause zu bringen. Ben streckte seine Hand über den Tisch hinweg aus und legte sie behutsam auf meine. Ich hob meinen Blick und sah ihm in die Augen. Mitfühlend sah er mich einfach nur an und berührte meine Hand. Sofort fühlte ich mich besser. Wir begannen mit dem Unterricht, was das einzige an den Treffen mit Ben war,
das mir nicht gefiel. Er langweilte mich mit einschläfernden Aspekten der Könige Eduard III und Phillipp VI und wie ihre Differenzen 1337 den Hundertjährigen Krieg auslösten. Ben war ein guter Lehrer, er konnte jedes Thema mit Begeisterung unterrichten und riss auch mich hin und wieder mit seinem Enthusiasmus mit. Heute schaffte er dies jedoch nicht. Immer wieder drifteten meine Gedanken ab, ich konnte mich kaum auf seine Worte konzentrieren. Auch starrte ich ihn nicht wie üblich wie hypnotisiert an. Mein Blick glitt an ihm und den Landkarten, die er zwischen uns ausgebreitet hatte vorbei aus dem Fenster. Ein Vogel zog seine Bahnen
über den großen Teich, ein kleines Entenbaby beobachtete ihn dabei. Geistesabwesend spielte ich an meiner Kette herum, die ich seit ich denken konnte trug. Die feingliedrige silberne Kette hielt einen ringförmiger Anhänger, der von mehreren geschwungenen Linien durchzogen war und somit aussah wie ein eingeschlossener Lufthauch. Ich zuckte zusammen als ich plötzlich eine warme Hand auf meiner Schulter spürte. Ben stand neben mir und sah auf mich herab. Seine Augen drangen in meine, sofort fühlte ich mich schuldig. Er versuchte mir etwas beizubringen und ich hörte ihm nicht einmal zu. Ich schüttelte den Kopf, um so wieder einen klaren Kopf zu
bekommen. Ben zog einen Stuhl neben mir zurück und setzte sich. Er nahm meine Hand in seine, was mir viele kleine wohlige Schauer durch den Körper jagte und sah mich einfach nur an. Es war eine stumme Bitte mich ihm anzuvertrauen und meinen Kummer bei ihm abzuladen. Also erzählte ich: „Weißt du, seit ein paar Tagen habe ich ständig diese Träume. Es ist nichts schlimmes, ich stehe einfach nur da, in der Dunkelheit. Mir ist kalt und ich habe Angst, doch ich weiß, dass ich nicht allein bin, kann aber niemanden entdecken. Also laufe ich los. Die Gasse, in der ich gestanden habe ist eng und feucht, es riecht nach modrigem
Holz und verbrannter Asche. Ich komme nur sehr mühsam voran, werde von irgendetwas zurückgehalten. Nie komme ich meinem Ziel nahe genug, um zu sehen was es ist. Hin und wieder entdecke ich jedoch eine kleine grüne Kugel, die sich zu einer größeren ausformt und mich lockt durch sie hindurch zu gehen...“ „Bist du jemals durch das Licht hindurch gegangen?“ fragte Ben mit ernster Stimme. Er war blass geworden während meiner Erzählung, sein Gesicht wirkte gequält und unsagbar traurig. Ich verstand seine Reaktion nicht, es war ja nicht so, dass ich ihm gerade erzählt hätte, ich würde Nacht für Nacht träumen wie ein
geliebter Mensch brutal ausgeweidet wurde. Ich verneinte seine Frage was ihn etwas zu erleichtern schien. Was war bloß mit ihm los?
„Ben...?“ begann ich, doch er stand abrupt auf und ließ dabei meine Hand los. „Es ist nur ein Traum Hava! Nichts weiter. Einbildung. Deine pure Fantasie.“ stammelte er und nahm wieder seinen Platz hinter den Karten ein. Das alles war äußerst merkwürdig. Er hatte sich noch nie so verhalten. Doch schon bald war ich zu beschäftigt mit dem Hundertjährigen Krieg, als dass ich mir weiterhin Gedanken hätte machen können.
Jeder Tag lief nach einem bestimmten Schema ab, so auch heute. Mein Wecker klingelte, ich stand auf, schlurfte in das kleine Bad am Ende des Flurs, duschte, zog mich an und putzte mir die Zähne. Anschließend ging ich in die Küche, bereitete Frühstück für die Kleinen vor und gönnte mir eine Minute Ruhe, in der ich die Zeitung des Vortages las, die Mum von der Arbeit mitbrachte. Heute lehnte ich mich jedoch auf meinem Stuhl vor zu Amado, meinem Kater und erzählte ihm von meinem Traum, den Traum, der mich bereits seit Tagen heimsuchte. Ich redet mit dem kleinem
Tier wie mit einem Menschen. Denn er benahm sich die meiste Zeit über auch wie einer, er hörte mir aufmerksam zu, nickte oder schüttelte mit dem Kopf, wenn ich ihm eine Frage stellte und schien auch sonst an allem äußerst interessiert zu sein. Er war ein ganz besonderes Lebewesen.
Nachdem ich Amado von der dunklen Gasse und dem seltsam grünem Licht erzählt hatte, sprang der Kater von seinem Stuhl und lief schnell davon in mein Zimmer, vermutlich um aus dem geöffnetem Fenster nach draußen zu gelangen. Somit ging ich den schmalen Flur entlang und klopfte an Carlos´ Tür, um
ihm zu signalisieren, dass sein Wecker bereits vor einer viertel Stunde geklingelt hatte und es nun Zeit wurde aufzustehen. Ein Zimmer weiter schliefen die Zwillinge Lill und Jill. Ich holte sie aus ihren Betten und scheuchte sie ins Badezimmer. Dann suchte ich ihnen passende Kleidung heraus, die ich mit in die Wohnküche nahm und sie für sie zurechtlegte. Nach zehn Minuten drehte ich die nächste Runde. Ich klopfte erneut an Carlos´ Zimmer und rief ihm durch die geschlossene Tür zu, er würde zu spät kommen, wenn er nicht endlich aufstand. Aus dem Bad hörte ich Schreie, als die Mädchen sich nicht einigen konnten, wer heute die kleine Sanduhr
umdrehen durfte, die ihnen verriet, wie lange sie noch ihre Zähne putzen mussten. Ich nahm Jill die Uhr aus der Hand und schickte sie in die Küche, wo sie sich erst einmal anziehen und frühstücken sollten. In diesem Moment kam meistens unsere Mutter von der Nachtschicht nach Hause, so auch heute. Die Tür knarrte als sie ins Schloss fiel, Mum hing ihre Jacke auf, schlüpfte aus ihren Schuhen und setzte sich mir gegenüber. Sie sah müde aus. Sie war erst Mitte 40, trug die kastanienbraunen Haare kurz geschnitten und brachte stets ein paar Kilo zu viel auf der Waage. Ich liebte sie, als wäre sie meine eigene
Mutter, denn ich lebte bereits mein gesamtes Leben bei ihr. Sie las mir Geschichten vor als ich klein war, klebte mir ein Pflaster aufs Knie, wenn ich mal wieder zu schnell die Schotterstraße entlang gerannt und gestürzt war und gab mir auch sonst immer das Gefühl aufrichtig geliebt zu werden. Ich hätte mir gar keine bessere Pflegemutter vorstellen können. Außerdem war sie die einzige Mutter, die ich kannte. Ich wusste nichts von meinen leiblichen Eltern, wusste nicht einmal wo ich geboren wurde und ob ich gewollt oder ein Unfall war, ging jedoch von letzterem aus, da ich sonst vermutlich noch immer bei meinen Eltern leben
würde. Als ich zehn Jahre alt war, erzählte meine Mum mir die Geschichte, wie ich zu ihr kam. Es war eine regnerische Nacht gewesen, der 8.November 1990. Grace McCall und ihr Mann waren gerade aus dem Kino nach Hause gekommen. Ihr Mann hatte sich sofort schlafen gelegt, doch Grace saß noch lange Zeit am Küchentisch und träumte von der Schwangerschaft, die ihr verwehrt war. Sie hatte erst wenige Tage zuvor erfahren, dass sie keine Kinder bekommen konnte, was ihr Herz zerrissen hatte. Sie wollte gerade zu Bett gehen, da hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Durch den lauten Donner hätte
sie es beinahe überhört und sie war sich nicht sicher, ob sie öffnen oder zur Sicherheit ihren Mann wecken sollte. Doch sie eilte zur Tür und zog sie auf. Vor ihr stand eine ganz in Schwarz gekleidete Person, durch die Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, nur die dunkelblauen Augen fielen ihr sofort auf. Er zitterte am ganzem Leib und stotterte immer wieder etwas von einem Baby. Sie hielt ihn für einen Verrückten und wollte schon die Tür wieder schließen, da fiel ihr Blick auf das unförmige Bündel in seinen Armen. Helle zartrosa Haut blitzte aus einer fleckigen Decke hervor. Der Mann beugte sich näher zu Grace, um ihr das
Geschöpf in seinen Armen vollständig zu zeigen. Es war das hübscheste Kind, das sie je gesehen hatte. Kein Jahr alt lag es da und schlief. Das Mädchen hatte einen Büschel rabenschwarzen Haares auf dem Kopf und eine süße kleine Stupsnase. Mit einer Hand klammerte es sich mit all seiner Kraft am Mantel des Mannes fest, wollte ihn keinesfalls loslassen. Ehe sie wusste was passierte, drückte der Fremde Grace das Baby in die Arme und mit den Worten: „Beschütze und liebe sie wie dein eigenes Kind. Ihr Name ist Aqua, sie ist etwas ganz besonderes!“ verschwand er in die Nacht. Sie rief ihm hinterher, doch er war schon verschwunden. „Ich glaube, er war dein
Vater Aqua, hatte Mum dann immer gesagt, „du hast seine Augen, dieses tiefe dunkle Blau, das ich bei noch keinem anderem Menschen je gesehen habe.“ Mir waren dann immer die Tränen über die Wangen gelaufen, die Mum lächelnd wegwischte. Jetzt blickte mich Grace McCall besorgt an. „Alles in Ordnung Liebes?“ Ich nickte und stand auf, um ihr einen Kaffee einzuschenken. Dankbar nahm sie ihn entgegen und setzte ihn an die Lippen. Neben uns zogen sich Jill und Lill in Zeitlupentempo an. Wenn sie weiterhin so trödelten, würden wir garantiert zu spät kommen, sie in den Kindergarten und ich zu meinem Aushilfsjob bei Mr.
Greasy in dem kleinem Bücherladen hinter der Kindertagesstätte. Ich half gerade Lill sich ihren Pulli über den Kopf zu ziehen, da krachte Carlos´ Zimmertür laut auf und knallte gegen die Wand. Carlos stürmte in Windeseile durch das kleine Haus ins Bad und kam keine fünf Minuten später durch die Küche gerannt. Im Vorbeigehen nahm er sein Pausenbrot entgegen, das ich ihm hinhielt und stammelte etwas von: „zu spät... nachsitzen... Kopf abreißen“ und „zu spät für Hausaufgaben“ Etwas anderes war ich von meinem kleinem Bruder nicht gewohnt, er stand täglich zu spät auf und hastete dann in letzter Minute
aus dem Haus zum Bus, der meist gerade vor seiner Nase davon fuhr, sodass er den Weg zur Schule im Laufschritt nehmen musste. Amüsiert schüttelte ich den Kopf und schickte die Mädchen, die gerade gefrühstückt und nun fertig angezogen waren, zurück ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. „Heute ist Lill dran“, rief ich ihnen hinterher, um aufkommende Streitereien wegen der Sanduhr gleich zu unterbinden. „Ach Aqua, wie soll ich dir jemals für deine ganze Hilfe danken?“, seufzte Mum und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Sie stellte ihre Tasse in die Geschirrmaschine und ging Richtung
Bad. Ich nahm den brodelnden Wasserkocher von der Station und goss das kochende Wasser in meine Thermosflasche, in dem bereits zwei Beutel Pfefferminztee baumelten. „Autsch!“, fluchte ich leise vor mich hin, als mir das heiße Wasser auf die Hand spritzte. Das Gerät stammte noch aus der Steinzeit und man musste jedes Mal höllisch aufpassen sich nicht zu verbrennen. Ich hielt meine Hand zum Kühlen unter den Wasserstrahl und wartete, dass das Brennen nachließ. Mein Blick blieb an der kleinen zackenförmigen Narbe auf meinem rechten Handgelenk hängen. Diese Narbe stammte noch aus Kindergartenzeiten als
ich mich mit meinem damaligem Erzfeind Bobby um eine blaue Schere stritt. Ich war schon immer sehr eigensinnig und ich musste diese Schere unbedingt haben, die ja so viel besser schnitt als die langweilige pinke. Bobby war der Meinung, da ich ein Mädchen war, dass ich diese benutzen sollte, was in einen riesen Streit ausuferte, bei dem die begehrte blaue Schere aus Bobby´s Hand rutschte und direkt über meine Haut schnitt. Hätten wir uns an die Regeln gehalten und die pinken und grünen Scheren für uns Kinder benutzt, wäre vermutlich gar nichts weiter passiert, aber bei der besagten blauen Schere handelte es sich um die Erzieherschere,
sodass Mum mich abholen musste, da ich nicht aufhören wollte zu schreien und mich auf Bobby stürzen wollte. Mum drückte den Zwillingen einen Kuss auf die Wangen und zog mich in eine feste Umarmung. Dann verließen wir das Haus und sie legte sich hin, um sich von der Nachtschicht zu erholen und fit für ihren Nachmittagsjob zu sein. Das Geld reichte vorn und hinten nicht, sodass Mum gleich mehrere unterbezahlte Jobs annehmen musste, um uns alle zu versorgen. Ich half ihr wo ich konnte und hatte schon früh angefangen neben der Schule zu jobben. Auch jetzt, nachdem ich die Schule schon ein Jahr hinter mir hatte, nahm ich mir meine
Mutter zum Vorbild und nahm mehrere Jobs an, um sie zu unterstützen. Ich arbeitete tagsüber ein paar Stunden bei Mr. Greasy im Buchladen, anschließend ging ich in der Autowerkstatt von Mr. Gari putzen und kümmerte mich am Nachmittag um die Hausaufgabenbetreuung der Grundschule. An den Wochenenden passte ich auf die Kinder der Nachbarschaft auf oder half auf dem Markt aus. Es gab keinen Ausweg aus diesem Kreislauf nie endend wollender Arbeit und Erschöpfung. Mein größer Traum war es später einmal ein Hotel zu leiten, doch ich konnte es mir einfach nicht leisten meine Familie im Stich zu lassen und nur an mich zu
denken, um eine Ausbildung im Hotelgewerbe aufzunehmen. Ich lieferte die Kleinen im Kindergarten bei ihrer Erzieherin Ellie ab und machte mich auf den Weg zu Mr. Greasy´s Laden „Books“. Wie lange er wohl gebraucht haben musste, um diesen Namen auszuwählen? Ein Blick auf meine alte Armbanduhr verriet mir, dass ich fünf Minuten zu spät war. Na toll! Der schmierige Schleimer suchte nach jeder noch so kleinen Gelegenheit mich fertig zu machen und mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich betrat den Laden und machte mich schon auf eine Standpauke gefasst, doch der Laden war leer. Das sah dem
alten Lustmolch gar nicht ähnlich. Jedes Mal wenn ich es auch nur wagte für eine Minute auf Toilette zu verschwinden brüllte er mich an und drohte mit Lohnkürzung. Meine Umhängetasche verstaute ich unter dem Verkaufstresen und zog die matschgelbe Weste hervor, auf der mein Namensschild befestigt war. Ich hatte gerade meinen linken Arm durch das Loch gesteckt, da kam Mr. Greasy aus dem Hinterzimmer mit den Worten: „Sie sind gefeuert Miss McCall!“ gedonnert.
Die Sonne brannte auf meinen nackten Armen als ich am 22.Juni 2007 zusammen mit meinen Freunden auf dem Pausenhof saß und die Mittagssonne vor dem Sportunterricht genoss. „Es ist viel zu heiß für Sport“, beschwerte sich Arianna, die vor einem halben Jahr aus Italien hergezogen war und sich sofort unserer Clique angeschlossen hatte. Sie streckte ihre langen Beine aus, was ihr sabbernde Blicke von allen umstehenden Jungs einbrachte, sogar unser Mathelehrer Mr. Matthews schaute für meinen Geschmack ein bisschen zu interessiert in unsere Richtung.
Gelangweilt spielte ich an dem silbernen blumenförmigen Anhänger meiner Kette herum, die ich seit meiner frühsten Kindheit trug. Seufzend warf ich mein schokobraunes Haar über die Schulter und stand auf als die Glocke zum Unterrichtsbeginn läutete. Nach Völkerball und mehreren Runden Ausdauerlauf ließ ich mich erschöpft auf die Bank in der Umkleidekabine fallen. „Wir wollen später noch in die Stadt, kommst du mit Terra?“, fragte mich Arianna als sie gerade in ihr luftiges Sommerkleid schlüpfte. Ich schüttelte den Kopf und murmelte eine Entschuldigung. Sie zuckte mit den Schultern und ging. Nachdem auch ich
mich umgezogen hatte, verließ ich das Schulgebäude und ging nach Hause. Auf halbem Weg entschied ich mich jedoch um und steuerte den Southland Wood an, den Wald der sich an Woodley schmiegte und in dem ich den Großteil meiner Freizeit verbrachte. Meine kurzen Shorts klebten an meinen Beinen als ich die ersten Baumreihen erreichte. Hier war es etwas kühler, die Sonne schaffte es nicht an den dicht aneinander stehenden Bäumen vorbei, die kühle Schatten spendeten. Immer wenn es die Zeit erlaubte, kam ich hierher um nachzudenken, zu träumen oder mit Pao zu reden. Pao war mein bester Freund oder besser gesagt, er war es gewesen bis
er gestorben war. Das war nun schon vier Jahre her und ich vermisste ihn noch immer mit solch einer Intensität als wäre er gerade erst aus meinem Leben gerissen worden. Ich hatte ihn kennengelernt als ich mit drei Jahren den Kindergarten besuchte. Er war gerade mit seinem Onkel nach Woodley gezogen, nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, wir waren auf Anhieb beste Freunde und das blieb bis heute so. In der Schule saßen wir immer nebeneinander, nach der Schule kam er mit zu mir nach Hause oder wir gingen in den Wald zum Spielen. Es gab keine Geheimnisse zwischen uns, jeder wusste
alles über den anderen. Pao war etwas ganz besonderes gewesen, er war nicht wie die anderen Jungen in unserem Alter, ganz im Gegenteil: mir kam es immer so vor, als wäre Pao im Geiste den anderen Kindern immer schon um Jahre voraus. Wenn ich ihm davon erzählte lachte er nur. Seit Pao´s Tod fühlte ich mich unsagbar traurig und allein. Zwar hatte ich meinen Vater und auch viele Freunde in der Schule, aber niemand schien mich so sehr zu verstehen wie mein bester Freund. Niemand würde je seinen Platz einnehmen können! Eine Träne stahl sich aus meinen Augenwinkeln und lief die Wange herab.
Ich schmeckte das Salz auf meinen Lippen und musste schmerzhaft schlucken. An einem Tag wie heute wollte ich mich mit ihm treffen, wir wollten durch die Stadt schlendern und den neuen Italiener ausprobieren. Doch zu diesem Treffen ist es nie gekommen, denn Pao hatte einen schrecklichen Unfall. Er war auf dem Weg zu mir gewesen, um mich abzuholen, da wurde er von einem Motorrad erfasst, das viel zu schnell gefahren und falsch in eine Einbahnstraße hereingefahren war. Jede Rettung für meinen besten Freund kam zu spät. Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden, konnte nicht mehr mit ihm reden und ihm sagen, wie viel er mir
bedeutete. Mein Dad schickte mich zum Kinderpsychologen, damit ich lernte, mit meiner Trauer umzugehen. Doch all die Gespräche nützten am Ende gar nichts, sie brachten ihn nicht zurück und sie würden auch mein zerbrochenes Herz nicht heilen können. An jenem Tag war auch ein Teil von mir gestorben. Ich ließ mich auf die weiche Erde sinken und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Lautlose Schluchzer schüttelten meinen Körper. Lange saß ich einfach nur da und dachte über längst vergangene Zeiten nach und ich malte mir aus, wie mein Leben wohl wäre, wenn Pao immer noch bei mir wäre. Ganz sicher würde
ich dann nicht so viel Trübsal blasen, ich würde mein Leben in vollen Zügen genießen, würde vermutlich wie alle anderen in meiner Klasse auf heimliche Partys gehen, würde einen Typ nach dem anderen küssen, Alkohol trinken und wer weiß was sonst. Doch das alles tat ich nicht. Jedes Mal wenn ich ein bisschen glücklich war, schlich sich ein fieser kleiner Gedanke in meinen Kopf, der mich böse anstarrte und Schuldgefühle in mir weckte. Wie konnte ich glücklich sein, wenn er es nicht mehr konnte? Ich wusste, dass das Irrsinn war, konnte dennoch nichts an meinen Gefühlen ändern. „Du fehlst mir.“ flüsterte ich und starrte auf das kleine Kreuz aus Holz,
das in der Erde vor mir steckte, umgeben von den schönsten Blumen, die in meinem Gewächshaus wuchsen. Dies hier war nicht Pao´s echtes Grab, doch hier gedachte ich ihm auf meine Weise, hier fühlte ich mich ihm nahe. In jedem Rascheln der Bäume hörte ich sein Lachen, in jedem Windhauch spürte ich seine Berührung, Hier war er überall um mich herum. Ein Knacken hinter mir ließ mich aufschrecken. War da jemand? Schnell stand ich auf und blickte mich mit verquollenen Augen um, konnte aber niemanden entdecken. Doch ich konnte deutlich fühlen, dass hier jemand war, der mich beobachtete. Das ging nun
schon seit zwei Jahren so. Immer wenn ich allein war und mich meinen Gefühlen hingab, spürte ich jemanden in meiner Näher, der darauf achtete nicht gesehen zu werden. Vielleicht wurde ich ja paranoid, aber zeitweise war das wirklich unheimlich. Ich beruhigte mein heftig schlagendes Herz und meinen beschleunigten Atem, nahm meine Schultasche vom Boden auf und verließ den Wald mit schnellen Schritten. Während des Nachhauseweges grübelte ich weiter nach. Meine Gedanken entfernten sich von Pao und blieben an den Erinnerungen des Traumes der vergangenen Nächte hängen. Seit einer
Woche träumte ich nun schon jede Nacht von dieser verlassenen düsteren Gasse. Ich stand allein an eine kalte Backsteinmauer gedrückt und schob mich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Bei jedem Schritt, den ich tat, schien die Erde ein klein wenig zu vibrieren. Einmal hatte ich es an das andere Ende des schmalen Weges geschafft, denn ich kam nur sehr mühsam voran, dort schwebte eine kleine grüne Kugel in der Luft, wie ein Glühwürmchen sah es aus. Mit jedem Zentimeter, dem ich dem leuchtenden Etwas näher kam, nahm dessen Größe zu bis es schließlich sogar größer als ich selbst war und mit seinem strahlendem Licht die Düsternis
zerschnitt. Ich wusste nicht was ich mit diesem Licht anstellen sollte, doch einer inneren Eingebung folgend, beschloss ich, dass ich durch es hindurch gehen musste, also tat ich einen Schritt nach vorn und wachte genau in diesem Moment auf. Zu Hause angekommen warf ich meine Schulbücher in die Ecke und stattete meinem Gewächshaus einen Besuch ab. Mit einer großen Gießkanne bewaffnet, drehte ich meine Runden und schenkte jeder meiner zahlreichen Blumen die Beachtung, die sie verdiente. Ich hatte schon immer einen besonders grünen Daumen gehabt und kümmerte mich voller Liebe und Fürsorge um die zarten
Gewächse. Dad zog mich ständig damit auf, dass ich wohl nie einen Mann finden würde, da keiner gegen meine Pflanzen konkurrieren könnte. Vermutlich hatte er damit sogar recht! Als alle Blumen versorgt waren, bereitete ich in der Küche das Abendessen für Dad und mich zu. Er müsste jeden Moment von der Arbeit nach Hause kommen und ich wollte ihn mit seinem Lieblingsessen, einer Lasagne nach dem Rezept seiner Großmutter, überraschen. „Mmmmh, recht das gut!“ hörte ich ihn auch schon aus dem Flur sagen. Er steckte den Kopf durch die Tür und hob anerkennend den Daumen in die Luft. Ich häufte ihm eine große Portion
auf seinen Teller und stellte ihn schwungvoll vor ihm ab. Kurz zuvor hatte er eine Flasche Wein geöffnet, den er jetzt in zwei bereitgestellte Gläser füllte. So verbrachten wir oft gemeinsam unsere Abende, wir unterhielten uns dann immer über die Schule und Dad´s Arbeit, aber auch über ernste Themen und die Nachrichten. Jetzt sah er mich durchdringend an und fragte schließlich: „Ok, raus mit der Sprache, hast du irgendetwas angestellt?“ Mit einem Blick auf seinen beinahe leeren Teller gab er mir zu verstehen, dass er es merkwürdig fand, dass ich ihm ohne jeden Grund sein Lieblingsessen zubereitete, zumal ich Lasagne hasste. Er hatte mich
durchschaut, er kannte mich eben zu gut! „Ja, also nein, angestellt habe ich nichts...“ begann ich, doch er unterbrach mich gleich: „Dann nehme ich an, dass du etwas von mir willst?“ schlussfolgerte er. Ich nickte. Augenrollend warf er die Hände in die Luft und sagte mit einem Grinsen im Gesicht: „Herr, womit habe ich das verdient!?“ Spielerisch boxte ich ihm in die Seite und sprang auf, um ihm noch Salat zu holen. „Bald sind Ferien... und ich habe mir überlegt, dass es vielleicht richtig toll werden könnte, wenn wir dieses Jahr wieder irgendwo zum Wandern hinfahren könnten.“, brachte ich meine Bitte hervor. Mein Dad und ich liebten es zu wandern und zu
campen. Jeden Sommer fuhren wir in ein anderes Gebiet und verbrachten zwei Wochen unter freiem Himmel. Normalerweise brauchte ich keine Überredungskunst, um ihn für diese Trips zu überzeugen, aber vor nicht ganz einem halben Jahr hatte er einen schlimmen Bandscheibenvorfall und seitdem stand er dem Campen ein wenig feindselig gegenüber. Es würde also ein hartes Stück Arbeit kosten ihn mit ins Boot zu holen, aber ich würde nicht aufgeben und ich hatte immerhin noch knapp über eine Woche Zeit.
Sie starrten mich nicht an! Schon lange hatten sie sich an meinen bizarren Anblick gewöhnt. Dennoch tuschelten sie noch hinter vorgehaltener Hand über meine Haare, mein Make-up und über die außergewöhnlichen Kleider, die ich trug. Alle an der Westbury High School trugen Jeans mit T-Shirt, luftige Sommerkleidchen oder andere total normale und total langweilige Klamotten. Sie alle liebten es mit dem Strom zu schwimmen, ich hingegen schwamm gern dagegen. Ich war anders und ich wollte auch, dass es jeder sehen konnte. Mein feuerrotes
Haar stand in alle Richtungen von meinem Kopf ab. Mein von Natur aus blasses Gesicht wurde durch schwarzen Lidschatten und Eyeliner betont und auch der tiefrote Lippenstift war mittlerweile zu meinem Markenzeichen geworden, ebenso wie die schwarzen Springerstiefel, mein Satinkleid, Netzstrumpfhosen und das violette Korsett, dass über dem Kleid zusammengeschnürt war. Ich hatte meinen ganz eigenen Stil und den vertrat ich auch in der Schule voller Hingabe, sehr zum Verdruss des Direktors und aller Lehrer. Doch es gab eine Person auf der ganzen weiten Welt, die mir nicht mit Skepsis,
feindseligen Blicken oder fiesen Sticheleien begegnete, meine beste Freundin Pria. Sie war eine Waise, so wie ich. Wir waren zusammen im Waisenhaus aufgewachsen und teilten uns dort bis vor wenigen Monaten ein kleines Zimmer. Als wir beide 17wurden, durften wir das Heim endlich verlassen. Es gab da so ein Programm für die älteren Kinder: Ab dem 18. Lebensjahr musste man das Heim verlassen, man war nun erwachsen und musste auf eigenen Beinen stehen, da sich jedoch viele überfordert fühlten von jetzt auf gleich für sich selbst sorgen zu müssen, startete man das Projekt, in dem man bereits alle 17jährigen Verantwortung übertrug und
in ein betreutes Wohnen überließ. Man lebte in Wohngemeinschaften mit anderen Teenagern zusammen und hin und wieder tauchten Sozialarbeiter auf, um nach dem Rechten zu sehen. Wir erhielten ein kleines Taschengeld im Monat, mit dem wir lernen sollten zu haushalten, außerdem suchten wir uns kleine Aushilfsjobs neben der Schule oder an den Wochenenden. Ich teilte meine Wohnung natürlich mit Pria. Sie war nicht sonderlich groß, aber wir hatten uns darin ein kuscheliges kleines zuhause geschaffen. Ich trat aus dem Schulgebäude ins Freie und überquerte den Hof, um zur Cafeteria zu gelangen. Kühle Luft schlug
mir entgegen, ebenso der Lärm der Schüler, die sich hier zum Essen und Tratschen trafen. Ich stellte mich in die Schlange und wartete bis ich an der Reihe war. Ich legte mir einen roten Apfel und eine Flasche Wasser auf das gelbe Tablett und hielt nach Pria Ausschau. Ich hätte es kommen sehen müssen! Es war Freitagmittag, die Schulwoche war beinahe vorbei und ich hatte diese Woche noch keiner fiesen Scherze oder anderen Demütigungen gegenüber gestanden. Mali Pila, der Star der Schule, allseits bekannt und beliebt, Cheerleader, blond, hübsch, von jedem Schüler angebetet hatte es sich zur
Aufgabe gemacht, wann immer sich eine Möglichkeit fand, lächerlich zu machen, mich zu verspotten oder sich über mich lustig zu machen. Nun stand sie vor mir und machte ein gespielt geschocktes Gesicht. Sie tat so, als sei sie gestolpert, wobei ihr vollbeladenes Essenstablett in meine Richtung kippte und dessen gesamten Inhalt auf meinem Kleid verteilte. Fettige Spagetti fielen von mir ab, rote Tomatensoße lief an meinen Armen herunter. Mein eigenes Tablett war mir mit einem lautem Krachen heruntergefallen, sodass der Apfel durch den großen Raum von mir wegrollte. „Du miese Schlange!“ zischte ich Mali an, die jedoch unbeeindruckt das goldene
Haar zurückwarf und an mir vorbei stolzierte, gefolgt von ihren treuen Anhängern. Alle im Speisesaal lachten, selbst einige Lehrer ertappte ich dabei wie sie sich schmunzelnd umdrehten. Purer Hass brodelte in mir auf, ich wollte gerade hinter Mali herlaufen und ihr fiese Dinge antun, da legte sich eine kühle Hand auf meine Schulter und drehte mich von Mali weg. „Das ist sie nicht wert.“ flüsterte mir meine beste Freundin zu, nahm mich bei der Hand und steuerte mit mir im Schlepptau einen leeren Tisch an. Einige Blicke folgten uns, doch ein böser Blick von Pria, ließ sie wieder wegschauen. Pria hatte diesen
„ich-töte-dich-mit-meinen-Blicken“-Blick voll drauf. Keiner legte sich mit ihr an, nicht einmal Mali. Sie ließ das Tablett, das sie auf einer Hand balancierte auf den Tisch gleiten und setzte sich mir gegenüber. Ihr geglättetes Haar fiel ihr über die Schulter, als sie den Kopf schräg legte und nach dem mit Zucker glasierten Donut vor sich griff. Mir schob sie ihre Wasserflasche zu, an der ich nun herumspielte. Sie zupfte das Gebäck in kleine Stückchen und schob sich eins nach dem anderem in den Mund und schloss die Augen, um den Geschmack zu genießen. Ein Seufzer entfuhr ihren schwarzen Lippen. Pria teilte meine
modischen Vorlieben und trug ebenfalls am liebsten schwarze Kleider, außerdem zierte eine pinke Strähne ihre sonst schwarze Mähne. „Du musst endlich lernen deine Wut zu kontrollieren Ponpye!“ sagte sie schließlich und blickte mich unverwandt an. Theatralisch verdrehte ich die Augen und verschränkte meine Arme vor der Brust. „Hätte ich meine Wut nicht unter Kontrolle, hätte ich Mali gerade meine Stiefel in ihren Hintern gerammt, bis sie oben wieder raus kämen!“ fauchte ich sie an. Doch Pria ließ sich nicht beirren. „Wäre ich nicht da gewesen, um dich zu bremsen, hättest du definitiv etwas getan, das du später bereut hättest. Du
bist zu impulsiv. Such dir endlich ein anderes Ventil, wo du alles herauslassen kannst!“ Jede Woche hatten wir solch ein Gespräch. Pria war der Meinung, ich könnte meine Gefühle nicht kontrollieren und würde womöglich bald in einem Anfall die Schule in die Luft jagen.Mal davon abgesehen, dass ich es vermutlich wirklich tun könnte, würde ich es ganz sicher nicht tun, auch wenn die Verlockung an manchen Tagen sehr groß war. „Wir müssen noch einkaufen“ wechselte meine Freundin das Thema. Ich nickte. „Ja, unser Kräutervorrat hat ganz schön abgenommen und auch die weißen Kerzen bestehen nur noch aus kleinen
Stummeln.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich meinte eigentlich normale Sachen, wie Milch und Nudeln, du hast schon wieder die leere Milchpackung in den Kühlschrank gestellt! Du hast zur Zeit nur noch die Hexerei im Kopf! Vielleicht bist du ja deshalb so unbeherrscht.“ Ich konnte nicht glauben, was sie da sagte. Ja, ich beschäftigte mich in letzter Zeit wirklich sehr viel mit Zaubersprüchen und Ritualen, aber das war alles ganz harmlos. Pria hatte mir an meinem 14.Geburtstag eröffnet, dass sie eine Hexe war und dass ich ebenfalls eine war. Sie zeigte mir kleine Tricks und half mir meine innere Ruhe zu finden oder wie wir auch ohne
zu sprechen miteinander kommunizieren konnten. Das funktionierte momentan leider noch immer nur über geringe Distanzen, aber während des letzten Mathetests hat es mir den Allerwertesten gerettet. „Pria sag mal..“ begann ich und zog damit ihre Aufmerksamkeit von ihrem Donut zurück auf mich. „du hast mal gesagt, dass jeder Traum, in dem Magie vorkommt eine Bedeutung hat.?“ Sie nickte mir aufmunternd zu, dass ich fortfuhr. „Naja, ich habe seit einigen Nächten diesen Traum. Es ist nichts weltbewegendes, aber es verwirrt mich, dass er jede Nacht wiederkehrt. Es ist dunkel, ich bin allein, spüre aber, dass
da noch irgendjemand bei mir ist. Ich stehe in einer schmalen Gasse, die in eine Sackgasse zu führen scheint. Jedenfalls gehe ich den Weg entlang, was mir nur sehr langsam und mit sehr viel Kraft gelingt. Am Ende schwebt da diese grüne kleine Kugel herum, die von Sekunde zu Sekunde anschwillt und immer größer wird. Ich entschließe mich gerade dazu hindurchzugehen, da wache ich auf.“ Pria riss bestürzt die Augen auf und hielt den Atem an. Das letzte Stück Donut, das sie gerade in den Händen gehalten hatte, glitt aus ihren Fingern zurück auf das gelbe Tablett. „Hast du gespürt oder gesehen, dass da jemand bei dir ist? Und hast du dich von ihnen
bedroht oder beschützt gefühlt?“ fragte Pria schließlich mit rauer Stimme. Ich dachte kurz über ihre Frage nach. „Ich weiß nicht, aber ich denke ich habe mich sicher und gestärkt gefühlt. Nur als ich direkt vor dem Licht stand hatte ich Zweifel und wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte. Achja und es war eher ein Gefühl, dass da noch jemand bei mir ist, aber sehen konnte ich niemanden.“ „Du darfst nicht durch dieses Licht hindurchgehen Ponpye!“ fuhr sie mich eindringlich an und vergrub ihre schwarzen Fingernägel zur Bekräftigung in meinen Händen. Verwirrt starrte ich sie an. „Du hast doch selbst gesagt, dass du Zweifel hattest. Das ist
ein Zeichen, dass du die Finger davon lassen solltest. Das ist alles!“ presste sie als Erklärung hervor.
Doch irgendetwas verheimlichte sie mir, da war ich ganz sicher.
Finsternis lag über der weiten Fläche. Es war still. Nichts regte sich. Es gab keinen Wind, der die Blätter rascheln ließ, kein Vogel, der munter seine Lieder pfiff und auch sonst kein Lebewesen weit und breit. Auch vom schmalen Fluss, der am Waldrand entlang floss, war nichts zu hören, kein Plätschern, kein Rauschen, Nichts. Aber das alles lag daran, dass hier nichts von Bedeutung war, außer das Sein, das einfache Dasein. Hier gab es nichts außer einem selbst und eine leise Imitation der Erinnerung an die richtige Welt. Dieser Ort wurde Sekái-ni genannt, oder von
den Nichtwissenden: Zwischenwelt. Niemand war freiwillig hier, denn es war einfach nur trostlos, es gab kein Leben, keine Freude oder Hoffnung. Die Wiese, die sich über viele Kilometer zog war abgestorben und unfruchtbar, keine Blumen wuchsen darauf. Man landete in Sekái-ni nachdem man gestorben war. Es war der Ort für den Übergang, der Übergang in die Welt der Toten. Doch an diesem Tag war etwas anders: nicht nur die Wartenden, die körperlosen Seelen, waren hier, um hinüber zu gehen. Eine große Gestalt stand neben einer verlassenen Bank. Der Mann war in einen schwarzen Umhang gehüllt und hatte den Kopf gesenkt. Hin und wieder blickte er
sich nervös um. Auch er wartete auf etwas, oder besser gesagt, auf jemanden, auf die drei anderen. War er zu früh dran? Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er pünktlich war. Gerade als der große Zeiger auf die zwölf rückte und somit die volle Stunde einläutete, erschien eine helle Stichflamme, aus der eine zierliche junge Frau trat, ebenfalls in einen dunklen Umhang gehüllt. Auch sie schaute sich nervös um, warf einen Blick auf ihre Uhr und kam dann in seine Richtung. Es begann zu regnen. Doch es war kein gewähnlicher Regen, denn in Sekái.ni gab es kein Wetter, nur ein bedrückender Nebelschleier, der auf allem lag. Die
Wassermassen brachten eine weitere Gestalt in diese Welt. Er war klein, sehr klein, nur wenige Zentimeter groß, doch noch während er auf die beiden vermummten zulief, veränderte sich seine Gestalt. Nun war er größer als die junge Frau, jedoch nicht so groß, wie der Mann ihm gegenüber. Zur Begrüßung nickte er den beiden zu und schob dann seine Kapuze zurück. Seine Augen waren von einem dunklen intensiven Blau, die schwarzen Haare standen ihm struppig vom Kopf ab. Ernst sah er die zwei vor ihm an, auch sie zogen ihre Kapuzen zurück. „Ist euch jemand gefolgt?“, fragte der Größte von ihnen. Sie schüttelten den
Kopf. „Wo ist...?“ begann die junge Frau mit der pinken Strähne im Pony, unterbrach sich dann jedoch und schüttelte den Kopf. „Meint ihr er ist tot?“ fragte der Mann mit den dunklen Augen mit rauer Stimme. Der andere nickte. „Ihr habt es doch sicher auch gespürt, vor ein paar Jahren. Er hat für unseren Auftrag sein Leben gelassen.“ „Und...?“ „Sie lebt.“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. „Wir hätten erfahren, wenn dem nicht so wäre, oder wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Ich weiß zwar nicht wie das möglich ist, aber beten wir, dass es so bleibt.“ Der struppige zeigte mit dem Finger auf
die Frau, „Du hast dich ja ganz schön verändert! Ich hatte ja keine Ahnung, dass du solche Vorlieben hast.“ Ein Grinsen umspielte seine Lippen. Sie lächelte ihn freundlich an: „Man muss tun, was getan werden muss, Das solltest du doch am besten verstehen. Oder lebst du gern in dieser Gestalt?“ Er wandte sich von ihr ab und dem Blondschopf zu. Seine Miene wurde ernster als er fragte: „Warum hast du uns hierher bestellt? Wir hatten damals ausgemacht, dass wir keinen Kontakt zueinander aufnehmen bis... Hast du etwa Neuigkeiten!?“ „Nein. Ich habe die Hoffnung verloren, dass sich etwas ändert. Wir sind davon ausgegangen, dass wir nur wenige Tage
voneinander getrennt werden, das ist nun siebzehn Jahre her. Ich habe euch gerufen, weil sich die Lage verändert hat. Es gibt Anzeichen, dass... Sie hatte diesen Traum.“ betrübt blickte der Mann zu Boden. „Mein Schützling hat mir auch davon erzählt“, gab der andere zu Bedenken. „Das haben sie sicher alle!“ mischte sich die Frau ein. „Sie werden bald 18. außerdem hat sie bereits jetzt Kräfte, die alles ändern könnten, sie braucht nur eine starke Hand, die sie führt. Ich könnte...“ „Nein!“ fuhr der Blonde sie an. Er trat auf sie zu und packte sie an den Schultern. „Bist du verrückt!? Unterbinde das! Sofort! Denkst du, wir
hätten all diese Vorsichtsmaßnahmen aus Spaß getroffen? Wir haben versprochen sie zu schützen, versprochen, dass ihnen nichts zustoßen wird. Du kannst das nicht mit deinem unüberlegtem Handeln aufs Spiel setzen!“ Zorn funkelte in seinen strahlend blauen Augen. „Lass sie los!“, fuhr der andere dazwischen und löste die Hände, die noch immer die verängstigte Frau festhielten. „Wie du sagtest, es sind bereits siebzehn Jahre vergangen. Wir wissen nicht was geschehen ist, vielleicht hat sich alles geändert und sie schaffen es einfach nicht, Kontakt mit uns aufzunehmen.“ „Nichts hat sich verändert! Wir wissen
nicht was vor sich geht und genau aus diesem Grund müssen wir wachsam sein. Uns dürfen keine Fehler unterlaufen! Wir werden nicht vom bestehendem Plan abweichen. Ich werde nicht zulassen, dass... Ihr wisst nicht, wie viel sie mir bedeutet.“ Tränen rannen über seine Wangen. Besänftigend legte sie eine Hand auf seinen Arm: „Beruhige dich. Ich werde ihr nichts sagen. Wir halten am Plan fest.“ Erleichtert nickte er. „Und der Traum?“ Erinnerte der andere sie wieder an den eigentlichen Grund ihres Zusammentreffens. Ratlos sahen die drei sich an. Der große ergriff das Wort: „Wir wissen nicht, was es für Folgen haben wird, wenn sie das Licht
durchschreiten. Es könnte sich ein Portal manifestieren. Sie haben nie gelernt, mit diesen Kräften umzugehen. Es könnte alles zerstören.“
„Also müssen wir verhindern, dass sie das Portal durchschreiten? Aber wie soll das funktionieren?“ ungläubig sah sie ihn an.
„Lasst euch etwas einfallen!“ antwortete er und verschwand durch den aufkommenden Sturm. Ein Regenschauer und das Auflodern eines Feuers folgten, dann war es wieder still in Sekái-ni.
EXCITATIO
-das Erwachen-
Das Wochenende verlief ohne nennenswerte Ereignisse, ich stand auf, frühstückte, stellte fest, dass meine Eltern keine Zeit für mich hatten und verkroch mich in den Garten, um den Enten beim Spielen zuzusehen. Die Nachmittage verbrachte ich am Pool, in unserer Bibliothek, im Fernsehzimmer, das wie ein kleines Kino eingerichtet war und in meinem Zimmer, wo ich Tagebuch schrieb. Samstag und Sonntag gehörten zu den langweiligsten Tagen der ganzen Woche und ich überstand sie nur mit der Gewissheit, dass bald Montag war und somit der Unterricht wieder begann. Ich
war wohl das einzige Mädchen in meinem Alter, das stets das Wochenende verfluchte und die Schule herbeisehnte. Was allein der Tatsache geschuldet war, dass ich dann Ben wiedersehen würde. Ich fühlte mich in seiner Anwesenheit nicht so einsam wie sonst und genoss die Stunden, die ich mit ihm hatte. Bevor ich am Sonntagabend in mein großes Himmelbett schlüpfte, zog ich die unterste Schublade meines Schreibtisches auf, in der sich auch mein Tagebuch befand, und holte ein zerknittertes Foto daraus hervor. Auf dem Bild waren Ben und ich zu sehen. Wir standen dicht beieinander, er hatte seinen Arm um meine Taille gelegt
und drückte mich an sich. Meine Haare umrahmten in weichen Wellen mein Gesicht, seine strahlenden Augen wurden durch mein blaues Wollkleid betont. Es war mein 17. Geburtstag gewesen und Ben hatte mich mit einer weitläufigen Eisfläche im Garten überrascht, auf der wir den ganzen Tag verbrachten. Mehrmals hatte ich den Halt verloren, doch Ben war jedes Mal zur Stelle und fing mich auf. Als sich meine Lippen vor Kälte blau färbten, brachte er mich in die Küche, wo bereits heiße Schokolade mit Marshmallows auf uns wartete. Der Koch lachte und flirtete mit der neuen Küchenhilfe. Ben legte spontan seinen Arm um mich und genau in diesem
Moment machte eins der Zimmermädchen ein Foto von uns. Wir lachten und sahen uns verträumt an. Irgendwann, so schwor ich mir, würde ich ihm von meinen Gefühlen erzählen. Im Moment war das noch undenkbar, denn was sollte ich tun, wenn er meine Gefühle nicht erwiderte, oder schlimmer, was geschah, wenn er es tat? Er war mein Lehrer, von meinen Eltern eingestellt, um mich zu unterrichten. Wenn sie herausfinden würden, wie wir empfanden, würden sie ihn vermutlich feuern, ich würde ihn nie wieder sehen und meinen einzigen Freund verlieren. Soweit durfte es unter keinen Umständen kommen, also behielt ich meine Gefühle
vorerst für mich und liebte ihn aus der Ferne. Am Montag sprang ich gut gelaunt aus meinem Bett und ließ mich von Ajira frisieren. Ich konnte es kaum erwarten Ben zu treffen, heute stand Biologie auf dem Lehrplan und wir hatten beschlossen den Unterricht in den Garten zu verlegen, um dort die verschiedenen Blumen, Bäume und Tiere zu betrachten. Wir trafen uns in der großen Eingangshalle, dessen Boden aus weißem Marmor bestand und sündhaft teure Gemälde die hohen cremefarbenen Wände säumten. In der Mitte des Raumes stand ein runder Glastisch, auf dem ein gigantischer Strauß Lilien stand, der
zauberhaften Duft verströmte. Ben wartete bereits mit einem zurückhaltendem Lächeln im Gesicht auf mich. Er bot mir seinen Arm an und führte mich hinaus in den sonnendurchfluteten Garten. Die Vögel zwitscherten um uns herum und begrüßten so den Tag. Der Kies knirschte unter unseren Schuhen als wir Richtung Teich gingen. Ben ging völlig in seiner Lehrerrolle auf und erklärte mir den Aufbau der Pflanzen, an denen wir vorbei kamen. Er sprach von der Fortpflanzung der Tiere im Teich, von Zellenaufbau und Fotosynthese. Ich hörte nur mit halben Ohr zu, denn ich musste ständig daran denken, dass uns nicht
mehr viel Zeit miteinander blieb. Nächste Woche begannen in den umliegenden Schulen die Sommerferien, so auch für mich. Üblicherweise würden mir sechs Wochen der Langeweile bevorstehen, doch dieses Jahr nicht. Es waren meine letzten Sommerferien, nächstes Jahr um diese Zeit würde ich meine letzten Prüfungen ablegen und meine Schulausbildung beenden. Doch meine Eltern waren der Meinung, ich sollte mehr lernen und verkürzten meine Freizeit von sechs auf drei Wochen. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, schließlich verkürzte sich somit die Zeit, in der ich Ben nicht sehen durfte. Und selbst diese drei Wochen ließen sich in
diesem Jahr leicht überstehen, denn mein Vater versprach mir Anfang des Jahres, dass wir zusammen nach Bristol in ein Luxushotel fahren würden, um dort ein wenig Zeit miteinander zu verbringen. Meine Mutter würde nicht mitkommen, sie hasste es zu reisen und konnte wegen ihrer Arbeit die Gegend um Richmond und London nur sehr schwer verlassen. Seit Vater mir sein Versprechen gab, mit mir zu verreisen, platzte ich beinahe vor Vorfreude. Ich verbrachte nur sehr wenig Zeit mit ihm, da er immer so viel zu tun hatte und selten zu Hause anzutreffen war. Doch diese zehn Tage würde er nur mir gehören, mir ganz allein. Zwar würde er auch sein Handy und den
Laptop mitnehmen, doch wir hatten uns darauf geeinigt, dass er die Geräte nur im äußersten Notfall benutzte. „Woran denkst du?“ unterbrach Ben meine Gedanken. Es sah mich verschmitzt an als er hinzufügte: „Sicher nicht an den Sauerstoffhaushalt der Bäume.“ Entschuldigend sah ich ihn an. „Tut mir leid, ich war etwas abgelenkt. Nächste Woche beginnen die Ferien.“ „Und dir blutet das Herz, wenn du daran denkst, dass du mich drei lange Wochen nicht sehen wirst.“ sagte er neckend, doch das Lachen erreichte seine Augen nicht. Auch ihm schien es nicht sonderlich zu gefallen, so lange von mir getrennt zu sein. Jedenfalls redete ich
mir das ein, da ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er meine Gefühle erwiderte. „Freust du dich schon auf die Zeit mit deinem Vater?“ fragte er. Ich nickte und erzählte ihm zum wohl hundertsten Mal von unserem Hotel und den vielen Sehenswürdigkeiten und Boutiquen, die wir besuchen wollten, ich sehnte mich danach, Zeit außerhalb dieses Hochsicherheitsgefängnisses zu verbringen und endlich einmal die Welt zu sehen. Als ich noch klein war und meine Eltern noch nicht ganz so erfolgreich in ihren Jobs waren, wie sie es heute waren, waren wir jeden Sommer verreist,
allerdings stets nach Kent, im Süd-Osten Englands, wo wir nichts taten als uns immer wieder die selben alten Burgen anzusehen oder im Hotel herumzusitzen. Einmal, ich war gerade zwölf, überredete ich mein damaliges Kindermädchen, das uns stets auf diese Reisen begleitete, mit mir die Kreidefelsen von Dover zu besuchen. Dies hatte einen hysterischen Anfall meiner Mutter zur Folge und die Kündigung der Frau, die mich begleitet hatte. Außerdem war es das letzte Mal, das wir gemeinsam verreist waren. Meine Eltern waren der Meinung, dass ich vor allem und jedem beschützt werden musste, weshalb sie mir gerade so viel Freiraum ließen, dass ich nicht einen
völligen Nervenzusammenbruch erlitt. Ben setzte sich auf die Bank am Teich und schloss die Augen. Er sah zum Anbeißen aus, die gebräunte Haut war ein schöner Kontrast zu dem weißen Hemd, das er trug. Die Ärmel hatte er wie üblich etwas hochgekrempelt und den obersten Knopf hatte er vor einer halben Stunde wegen der aufkommenden Hitze geöffnet. Ich setzte mich eben ihn und studierte sein schönes Gesicht. Ich stellte mir vor, wie ich mich zu ihm herüberbeugte und meine Lippen auf seine drückte. Er öffnete die Augen und sah mich an. Prompt spürte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und meine Handflächen
feucht wurden. Ein Lächeln umspiele seine Mundwinkel. „Du siehst heute sehr hübsch aus.“ stellte er fest, was mich noch röter werden ließ. Ich trug ein grünes Kleid, das mir bis zu den Knien reichte und meine zarte Statur sehr vorteilhaft betonte. Mein Haar wurde durch zahlreiche kleine Spängchen aus Gesicht und Nacken gehalten. Es stimmte, ich hatte mir heute besondere Mühe bei der Auswahl meiner Garderobe gegeben und hatte auch Ajira strikte Anweisungen für meine Haare gegeben. Verlegen schaute ich auf meine grünen Ballerinas, die hervorragend zur Farbe des Kleides passten und murmelte ein leises Danke.
Er legte eine Hand auf meinen Unterarm, was mir ein wohltuendes warmes Prickeln durch die Adern jagte. „Es ist sehr schade, dass uns nur noch ein Jahr zusammen bleibt. Ich habe dich richtig in mein Herz geschlossen.“ sagte er und hob mit der freien Hand mein Kinn an, damit ich ihn ansah. Mein Herz begann zu rasen als sich seine Augen in meinen versenkten. Er streichelte über mein Gesicht und strich mir eine Locke aus der Stirn, die sich aus der Frisur gelöst hatte. Langsam näherte sich sein Gesicht meinem. Ich schmiegte mein Gesicht an seine Handfläche und seufzte zufrieden. Ben war mir bereits so nahe, dass ich
seinen beschleunigten Atem auf meiner Haut spüren und seinen einzigartigen Duft riechen konnte. Alles war so perfekt romantisch, ganz so wie ich mir meinen ersten Kuss vorgestellt hatte. Ben holte noch einmal tief Luft, bat mit einem tiefen Blick in meine Augen um Erlaubnis und überwand die letzten Zentimeter zwischen uns, um seine Lippen auf meine zu legen. Doch genau in diesem Moment ertönte eine blecherne Melodie aus Ben´s Hosentasche. Enttäuscht seufzte ich auf und auch Ben sah nicht gerade glücklich aus. Aber auch Verwirrung konnte ich in seinem Blick erkennen. Er stieß scharf die Luft aus und zog das kleine Gerät,
das gerade den schönsten Moment in meinem bisherigem Leben zerstört hatte, heraus. Er blickte auf das Display und runzelte die Stirn. „Hier Kennari, was kann ich für Sie tun Mr. Lorring?“ Mr. Lorring? Mein Vater? Warum rief er Ben an und das ausgerechnet zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, den es gab? War er hier irgendwo in der Nähe und beobachtete uns? Hatte er gesehen, dass wir uns beinahe geküsste hätten? Nein, das war unmöglich, er hatte nicht so viel Zeit, um mir hinterher zu spionieren. Es war reiner Zufall. „...aber ja, natürlich. Einen Moment bitte.“ sagte Ben und nahm das Telefon vom Ohr, um es mir zu reichen. „Für
dich“ formte er stumm mit den Lippen. Ich nahm den Anruf entgegen und meldete mich mit einem aufgesetzt fröhlichen „Hallo!?“. Ben zog eine Augenbraue hoch und beobachtete mich verdutzt. „Hallo Schätzchen hier ist dein Vater. Wie ist der Unterricht? Man hat mir im Haus gesagt, ihr wärt im Garten unterwegs?“ Er klang nicht sehr erfreut darüber. Wenn es nach ihm ging, lernte man alles nur aus staubigen alten Büchern, aber keineswegs durch Ansehen, Ausprobieren und Erforschen. Ich erklärte ihm, dass wir die biologischen Prozesse der Tiere und Pflanzen studierten, doch er hörte nur
noch mit halbem Ohr zu, was ich an seinen gelegentlichen „Hmm“s und !“Ah“s erkannte. „Warum rufst du an?“ fragte ich schließlich missmutig. „Nun Hava, ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden: Du weißt, dass wir geplant haben nächste Woche nach Bristol zu fahren, leider ist mir kurzfristig etwas geschäftliches dazwischen gekommen, sodass ich mich leider dazu gezwungen sehe, unsere Reise abzusagen.“ Alles Blut wich aus meinem Gesicht. Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, dass Ben mich besorgt musterte und mein Vater unablässig auf mich einredete. Er entschuldigte sich
nicht, nein, er erzählte mir stattdessen haarklein, was so viel wichtiger war, als Zeit mit seiner einzigen Tochter zu verbringen. Es interessierte mich nicht. Ich unterbrach ihn mit einem „Tschüss.“ und beendete das Gespräch. Das Handy gab ich Ben zurück und ließ meinen Kopf in die Hände sinken. Tränen liefen mir unaufhörlich die Wangen herunter und landeten auf meinen Beinen und dem Boden. Ich spürte wie Ben auf der Bank hin und her rutschte. Ich wusste nicht, ob es ihm unangenehm war, mich weinen zu sehen, oder ob er nicht wusste, wie er sich nach unserem Beinahe-Kuss verhalten sollte. Er entschied sich dafür, mir eine Hand
auf den Rücken zu legen und mir ein Taschentuch zu reichen. Wir saßen eine ganze Weile so da. Ich weinte und er sah still dabei zu. Irgendwann hatte ich genug. Mir war es plötzlich peinlich, dass mein Lehrer und Freund mich so sah und das nur, weil mein Vater eine Reise abgesagt hatte. Aber für mich war es nun mal nicht einfach nur eine Reise. Für mich bedeutete Bristol Freiheit und Zeit mit einem geliebten Menschen, den ich in diesem Moment jedoch heißen stechenden Zorn entgegenbrachte. Er hatte es mir versprochen, doch wie immer waren andere Dinge wichtiger. Wir beendeten den Unterricht für heute
und verabschiedeten uns in der Eingangshalle voneinander. Den Rest des Tages lag ich schmollend und zusammengekauert auf einem der großen Sofas im Fernsehzimmer und sah mir langweilige alte Schwarz-Weiß-Filme an, die mich weder interessierten, noch gab ich mir überhaupt die Mühe die Handlung zu verfolgen. Am nächsten Tag ließ ich Ben´s Ausführungen über Integralrechnung über mich ergehen und löste nur halbherzig die Aufgaben, die er mir stellte. Er korrigierte meine Lösungen und wies darauf hin, dass ich beinahe alle Aufgaben falsch angegangen sei, doch er drängte mich nicht weiter, da er
mittlerweile wusste, wo meine schlechte Laune herrührte. Das was vor dem Telefongespräch beinahe geschehen wäre, erwähnte keiner von uns auch nur mit einem Wort. Ben war es entweder peinlich, oder er wartete, dass ich den ersten Schritt tat. Aber ich würde ganz sicher nicht diejenige sein, die sich ihm an den Hals warf, nur um herauszufinden, dass er sein Handeln bereute und sich insgeheim darüber freute, dass mein Vater uns unterbrochen hatte. Als ich in der Mittagspause darauf bestand allein zu essen, wirkte er etwas traurig, hatte in der nächsten Sekunde jedoch wieder sein strahlendes Lächeln aufgesetzt und ging
hinunter in die Küche. Nachdem ich mein knuspriges Hühnchen allein im Speisesaal heruntergewürgt hatte, machte ich mich zurück auf den Weg zum Studierzimmer. Ich schleppte mich gerade den Flur unweit meines Ziels entlang, als ich gedämpfte Stimmen hörte. Leise schlich ich weiter und entdeckte hinter der nächsten Ecke, wie sich Ajira und Ben miteinander unterhielten. Es gehörte sich zwar nicht andere zu belauschen, doch ich war einfach zu neugierig und wollte unbedingt wissen, was die beiden so geheimnisvoll zu bereden hatten. Doch ich war zu weit entfernt, als dass ich viel hätte verstehen können, weiter
herangehen konnte ich jedoch auch nicht, ohne entdeckt zu werden. Also versteckte ich mich weiterhin in diesem Flur und späte um die Ecke. Ben machte ein ernstes Gesicht als er sprach. Immer wieder blickte er sich nervös um und redete auf Ajira ein. Sie nickte und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ben´s angespanntes Gesicht lockerte sich. Nun konnte ich doch ein paar Wörter verstehen, die Ben sagte: „Wir müssen es geheim halten. Verstehst du? Hava darf nichts davon wissen...“ Ajira nickte, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und verschwand mit einem letzten Streicheln über seinen nackten Unterarm. Er wirkte zufrieden
als er die Tür hinter sich öffnete und aus meinem Blickfeld verschwand. Ich folgte ihm nach ein paar Minuten, damit er nicht merkte, dass ich ihn und Ajira belauscht hatte. Deshalb hatte er also nichts wegen gestern gesagt. Er bereute es und das schlimmste: er war mit der falschen Ajira zusammen. Außerdem wollte er nicht, dass ich etwas davon erfuhr, vielleicht um weiter mit meinen Gefühlen zu spielen? Oder er wusste von meinen Schwärmereien für ihn und hatte Angst, wenn er sie nicht erwiderte und ich herausfand, dass er bereits vergeben war, ich dafür sorgen würde, dass er gefeuert wurde. Sollte ich mit ihm darüber reden? Ich
betrat das Zimmer und ließ mich auf meinen Platz fallen. Zornig funkelte ich ihn an und verschränkte die Arme vor der Brust. Als sein Blick meinen fand, verschwand das Lächeln auf seinem Gesicht und Besorgnis machte sich breit. „Was hast du Hava?“ Trotzig schob ich mein Kinn nach vorn „Hast du eigentlich eine Freundin?“ sprudelte es aus mir heraus, noch bevor ich es zurückhalten konnte. Amüsiert hob er die Augenbrauen. „Nein Hava, aber warum fragst du mich das?“ Dieser miese Heuchler! Er belog mich und machte sich auch noch lustig über mich! Aber ich ließ mich nun schon
lange genug zum Narren halten. Alle dachten sie könnten mich behandeln wie ein kleines ahnungsloses Kind. Von meinen Eltern war ich nichts anderes gewöhnt, aber nun auch noch Ben? Das war zu viel für mich. „Hava ich möchte...“ setzte Ben mit rauer Stimme an, doch ich unterbrach ihn schnell indem ich in einer ruckartigen Bewegung aufstand, wobei mein Stuhl nach hinten kippte und dumpf auf dem Boden aufschlug. „Es ist mir egal was Sie möchten Mr. Kennari! Ich bin kein kleinen Kind mehr, das ihr alle herumschubsen könnt! Bald bin ich 18, dann bestimme ich über mein Leben und wenn es endlich soweit ist,
werde ich mich garantiert nicht mehr mit aufgeblasenen Lügnern herumschlagen, die meinen sie könnten alles mit mir machen, ohne Konsequenzen dafür zu erwarten! Ich habe die Nase voll!“ Ben sah mich verstört an. „Sag das nicht Hava. Ich hatte nie die Absicht dich zu...“ „Hören Sie auf!“ unterbrach ich seine scheinheiligen Entschuldigungen. „Ich habe wirklich genug davon! Sie sind mein Lehrer, verhalten Sie sich auch so!“ Die Wut brodelte unaufhaltsam in meinem Inneren. All der Zorn, der Ärger, den ich mein Leben lag in mir trug, all die Trauer und die Zurückweisung, die ich schon als Kind empfand, der Verrat, der mich quälte seit ich den Mann, von
dem ich dachte, er hätte dieselben Gefühle für mich wie ich für ihn, mit einer anderen Frau sah und er mir keine zehn Minuten später so schamlos ins Gesicht log, all das und noch so viel mehr bahnte sich nun einen Weg an die Oberfläche. Ich war noch nie sehr impulsiv gewesen, hatte meine Gefühle stets für mich behalten oder in mein Tagebuch geschrieben, doch nun drohten mich diese ganzen Emotionen zu überrennen. Ich konnte sie nicht länger in mir behalten und Ben musste jetzt der sein, der all dies abbekam. Als ich gerade ansetzte ihm weiter meine Meinung entgegen zu schleudern, brachen auf einmal sämtliche Fenster
auf. Ein kräftiger kalter Wind brachte die Dokumente auf dem großen Tisch durcheinander. Bücher in meinem Rücken fielen aus den Regalen, Stühle fielen um. Vorhänge zerrissen und lösten sich von der Stange, die sie trugen. Mein Blick glitt zu Ben, der mich geschockt ansah. Er schüttelte langsam den Kopf, die Augen voller Tränen, das Gesicht schmerzhaft verzogen. Ich bekam es mit der Angst zu tun, das hier war nicht normal! Es war ein schöner Sommertag gewesen, keine Wolke am Himmel und von jetzt auf gleich bildete sich ein gewaltiger Sturm, der das Zimmer verwüstete. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht, aber ich konnte mich nicht mit
den Gründen dieser Wetteranomalie auseinandersetzen, denn im nächsten Moment schnürte sich mir die Kehle zu. Mein Herz begann zu rasen, mir wurde kalt, alles begann sich zu drehen, mir wurde übel. Voller Panik hob ich meine Hand an meine Kehle. Ich bekam keine Luft. Vor meinen Augen tanzten bereits schwarze Punkte, die eine drohende Ohnmacht ankündigten. Hektisch machte ich mehrere Schritte auf die Tür zu, die sich immer weiter von mir zu entfernen schien. Warme Hände legten sich um meine Oberarme. „Hava!“ Es war Ben, der mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er hielt mir ein kleines blaues Ding aus Plastik
vors Gesicht. Mein Gehirn war allerdings zu benebelt, als dass ich wusste, was er von mir verlangte. Ich spürte, wie Ben mich in die Arme schloss und mit mir zusammen auf den Boden glitt. Er steckte mir das Ding in den Mund und befahl mir immer wieder, dass ich Luft holen sollte. Es war mein Asthma-Inhalator, wurde mir nun bewusst und ich sog mit letzter Kraft das wohltuende Pulver in meine Lungen. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber das Letzte das ich spürte und hörte, bevor die Ohnmacht mich auf sanften Schwingen davontrug, war ein sanfter Kuss auf meine Stirn und die geflüsterten Worte: „Bitte verlass mich nicht!“.
„Es kann doch nicht so schwierig sein einen neuen Job zu finden!“ sagte ich zum wohl hundertsten Mal und ließ einen kleinen flachen Stein über den See im Brandon Hill Park hüpfen. Amado verfolgte den Stein mit den Augen bis er unterging und somit aus seinem Sichtfeld verschwand. Ich ballte die Hände zu Fäusten als ich erneut an den gestrigen Tag dachte. Mr. Greasy hatte ein breites Grinsen im Gesicht als er mir verkündete, ich sei gefeuert. An meiner Stelle würde nun Millie übernehmen, eine vollbusige blonde Schottin, die sich, ihrem
Aussehen nach zu urteilen, überhaupt nichts aus Büchern machte und diesen Job nur annahm, weil ihr reicher Daddy wollte, dass sie Verantwortung übernahm, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, eines Tages eine gesperrte Kreditkarte in den Händen zu halten. Millie´s blonde Extensions waren ebenso falsch wie ihre Fingernägel, Wimpern, Brüste und das überfreundliche Grinsen, das sie zur Schau trug. Auf ihren schwindelerregend hohen High-Heels stolzierte sie auf mich zu und nahm mir die Weste ab, in der ich noch mit einem Arm steckte. Gierig verfolgte Mr. Greasy seine neue Angestellte mit seinen Blicken. Ich wusste nur zu gut, was ihn
veranlasst hatte, meine Stelle neu zu besetzen. Wutentbrannt bin ich an ihm vorbeigerauscht, wobei ich „aus Versehen“ einen hohen Stapel aufgetürmter Kartons, mit neu angelieferten Büchern, umwarf. Ich knallte die Tür hinter mir zu und wanderte ziellos durch die Straßen von Bristol. An einigen kleinen Läden hing ein Schild mit der Aufschrift „Aushilfe gesucht“, doch sobald ich bei den Angestellten nach dieser Stelle fragte, erklärte man mir, dass sie bereits jemanden eingestellt hatten. Ich kaufte mir die „Bristol Post“ und durchstöberte die Stellenannoncen, doch
mir fiel schon recht bald auf, das keine Stellen für ungelernte Minderjährige zur Verfügung standen. Also ging ich nach Hause, kümmerte mich dort um den Haushalt bis Mum aufwachte und erzählte ihr bei einer Tasse heißen Tee, dass ich meinen Job verloren hatte. Mum regte sich mindestens genauso über Mr. Greasys Verhalten auf wie ich, doch mit keinem Wort drängte sie mich dazu, einen neuen Job zu suchen, um Geld zu verdienen. Sie legte mir beruhigend eine Hand auf den Arm und sagte voller Zuversicht, dass alles gut werden würde. „Was soll ich nur machen Amado?“ fragte ich den schwarzen Kater zu meiner rechten. Er schmiegte seinen kleinen
Kopf an meine Hüfte und begann zu schnurren. Ich konnte Mitgefühl in seinen dunklen Augen erkennen, doch er spendete mir auch Hoffnung und Ruhe. „Du hast recht. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen und weiter kämpfen.“ sagte ich schließlich und verließ den Park, um die Zwillinge aus dem Kindergarten abzuholen. Als ich mit Jill und Lill nach Hause kam, saß Carlos bereits am Küchentisch und erledigte seine Hausaufgaben. Ich hörte Mum aus dem Bad heraus ein Lied summen, das sie mir oft vorgesungen hatte als ich noch klein war. Sie streckte ihren Kopf in die Wohnküche und zog sich die gelben Gummihandschuhe von
den Händen. „Da ist ein Brief für dich gekommen mein Schatz.“ sagte sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Sie deutete auf einen weißen Briefumschlag, der neben Carlos auf dem mit Büchern und Heftern übersäten Tisch lag. Beiläufig griff ich danach und runzelte verwirrt die Stirn als ich den Absender erkannte. Mum tauchte neben mir auf und schloss mich in ihre Arme. „Ich freue mich so für dich! Herzlichen Glückwunsch!“ sprudelte es aus ihr heraus, doch ich hatte keinen blassen Schimmer, worüber sie eigentlich sprach. Also öffnete ich den Brief und begann zu lesen. Ich las ihn ein zweites und drittes Mal, konnte aber weiterhin nicht
glauben, was da schwarz auf Weiß stand. Fassungslos sah ich Mum an, die mich freudestrahlend betrachtete und auf meine Reaktion wartete. „Wie kann das sein, ich habe nie eine Bewerbung an das Lukanda geschrieben?“ sagte ich schließlich und schaute sie gespannt an. „Das war ich mein Schatz. Ich weiß doch, dass es schon immer dein größter Wunsch war, später einmal ein Hotel zu leiten und ich dachte diese Ausbildung wäre ein guter erster Schritt zur Erfüllung deines Traumes.“ Ich fiel ihr um den Hals und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke, danke danke!“ rief ich und verschwand, mit Amado in den Armen, tanzend in
meinem Zimmer. In dem Brief stand, dass es zwar viele Bewerbungen für eine Ausbildungsstelle im Hotel „Lukanda“ gab, meine Unterlagen jedoch die interessantesten seien und sie mich deshalb für kommenden Montag zum Probearbeiten einluden. Wenn ich mich diese Woche gut anstellte, könnte ich am 16.Juli die Ausbildung bei ihnen beginnen. Ich war schon jetzt so aufgeregt, dass meine Hände unkontrolliert zitterten und ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, also lief ich zur Beruhigung in meinem kleinem Zimmer auf und ab. Die pinke Tapete, die ich mir als sechsjährige ausgesucht hatte und die nur
widerwillig von Mr. McCall an die Wände geklebt wurde, war von mir unter hunderten von Postern irgendwelcher Bands versteckt worden, als ich zu alt für diese Farbe geworden war. Viele der Gruppen, die auf den Postern zu sehen waren, kannte ich nicht einmal oder mochte sie nicht, aber das war immer noch besser als diese Klein-Mädchen-Tapete. Dem Kinderbett an der Wand mit der leichten Dachschräge war mit der Zeit einem größerem gewichen. Die dunkelblaue Bettwäsche war schon alt und ausgewaschen, ein schmuddeliger Teddybär mit nur einem Auge saß in der Ecke. Ich hatte ihn zu meinem dritten
Geburtstag geschenkt bekommen und mit ihm meine schönsten Kindheitserinnerungen verbunden. Die Lampe an der Decke war schon vor einiger Zeit kaputt gegangen, weshalb nur noch eine nackte Glühbirne Licht spendete. An den Fenstern, die ich mal wieder putzen müsste, hingen verblichene violette Vorhänge, an denen sich Amado einmal zu schaffen gemacht hatte, als er einer Fliege hinterher gejagt und dann mit den Krallen in ihnen hängen geblieben war. Ein kleiner Kratzbaum, den ich in der achten Klasse im Werkunterricht für Amado gemacht hatte, stand unter dem Fenster, direkt neben dem sehr vollgestopften
Schreibtisch. Daneben befand sich mein Kleiderschrank, dessen Türen nicht mehr richtig schlossen und quietschen, wenn ich sie öffnete. Auch in den nächsten Tagen änderte sich nichts an meiner Aufgeregtheit, ich schlief abends spät ein und wachte müde und erschöpft am nächsten Morgen auf. Ich unterstützte Mum wo ich nur konnte und kümmerte mich um meine Geschwister und den Haushalt. Am Donnerstag kündigte ich meinen Nachmittagsjob in der Autowerkstatt und machte mich auf den Weg zum Kindergarten. Carlos hatte Jill und Lill bereits wie besprochen abgeholt. Danny und Evie
Wyler freuten sich, als sie sahen, dass ich sie heute abholte. Sie wohnten in der Nachbarschaft und ich kümmerte mich mindestens einmal die Woche um die beiden bis ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kamen. Ich spielte mit den Kindern Verstecken und vergaß so schnell meine Nervosität. Als Danny verkündete, dass er einen Bärenhunger hätte, gingen wir zusammen in die Küche und überlegten, was wir kochen wollten. „Spinat!“ verlangte Evie. „Das ist doch eklig! Ich will Spaghetti!“ sagte ihr großer Bruder. „Oja, Spaghetti!“ pflichtete Evie bei. Also ging ich in die Vorratskammer und besorgte Nudeln, Tomaten und Zwiebeln. Danny holte die
Würstchen aus dem Kühlschrank und half dann seiner Schwester auf einen Stuhl, damit sie alles beobachten konnte. Er setzte sich neben sie und begann mit ihr Karten zu spielen. Ich liebte es zu kochen und so wusch ich das Gemüse und begann die Zwiebeln klein zu schneiden. Plötzlich ließ mich ein Schrei zusammenzucken. Ich drehte mich um, und sah wie Evie ihrem Bruder an den Haaren zog. „Gib sie mir wieder!“ verlangte sie mit quietschender Stimmer. Danny schüttelte den Kopf und hielt die kleine blaue Karte in die Höhe, damit Evie nicht herankam. Als sein Blick in meine Richtung glitt, wurden seine Augen groß und sämtliche
Farbe wich aus seinem Gesicht. „Aqua!?“ rief er ängstlich und deutete mit seinem kleinem Finger auf mich. Ich schaute an mir herunter und bemerkte erst jetzt den stechenden Schmerz, der sich in meiner linken Hand ausbreitete. Blut quoll über meine Handfläche und tropfte auf den Boden. Gequält verzog ich das Gesicht als mir bewusst wurde, dass ich mir in der Unachtsamkeit in die Hand geschnitten hatte. Es war ein sehr tiefer Schnitt und sah aus, als müsste er genäht werden. „Danny nimm doch deine Schwester mit ins Wohnzimmer, ihr könnt ein bisschen fernsehen bis das Essen fertig ist.“ sagte ich mit ruhiger Stimme zu dem Jungen, der mich
weiterhin anstarrte. „Na los. Mir geht es gut.“ Daraufhin zog er Evie vom Stuhl und verschwand mit ihr aus der Küche. Panik brach in mir aus als ich den Schnitt weiter begutachtete. Ich nahm ein frisches Tuch aus dem Schrank und wischte das Blut mit wenig Druck weg, doch schon die kleinste Berührung schmerzte und sofort floss frisches Blut nach. Vom Schmerz betäubt vergaß ich alles was ich über Erste-Hilfe-Maßnahmen und Druckverbände wusste und hielt meine verletzte Hand unter den Wasserhahn. Stöhnend ließ ich das kühle Wasser über meine Hand fließen und wusch mit der anderen die rote Flüssigkeit weg. Nun
konnte ich den tiefen Schnitt deutlich erkennen. Ich berührte ihn sanft mit meinem rechten Zeigefinger und erstarrte. Ein warmes Kribbeln breitete sich in meiner Handfläche aus und weitete sich schnell in meinen gesamten Körper aus. Die Luft um mich herum schien zu knistern, der Schmerz ließ nach. Verwundert hob ich meine Hand an die Augen. Das Wasser glänzte auf meiner Haut, aber es war als würde es magisch von dem immer kleiner werdenden Schnitt angezogen und in sich aufgesogen. Die Wunde verschloss sich, zurück blieb eine gerötete Stelle und meine nun trockene Haut.
„Leigh Woods, Oak Wood, Durdham Down, Victoria Square.. Komm schon Dad! Wir können jeden Tag in einem anderem Wald wandern, jeden Tag etwas neues sehen und wenn du einmal nicht in den Wald oder die umliegenden Parks willst, dann gibt es noch zahlreiche Musen oder Kunstgallerien, auf die du so sehr stehst. Wir können eine Sightseeing-Tour mit der Fähre machen, da kannst du den ganzen Tag sitzen, falls es dir mal nicht gut gehen sollte. Außerdem dachte ich mir, wir könnten vielleicht schonmal einen Blick auf die Bristol University werfen.“ Dad sah mich mit großen Augen
an. „Die Bristol University? Ist das dein Ernst Terra? Damit willst du mich rumkriegen?“ Unschuldig sah ich ihn an. „Ich will dich nicht rumkriegen, wir haben doch schon früher darüber gesprochen, dass ich überlege in deine und Mum´s Fußstapfen zu treten. Wer weiß, vielleicht finde ich während meines Studiums ja auch die große Liebe...“ Meine Eltern hatten sich während ihres Studiums in Bristol kennengelernt und sich sofort ineinander verliebt. Seither waren sie unzertrennlich und heirateten gleich nach ihrem Abschluss. Wenige Zeit später kam ich auf die Welt und
noch vor meinem ersten Geburtstag starb meine Mum an einem Hirntumor. „Du verliebst dich erst wenn du mindestens dreißig bist.“ murrte Dad und sah sich die zahlreichen Broschüren auf dem Tisch an. Ich lachte und boxte ihm spielerisch in die Seite. „Wir werden sehen.“ „Das hast du dir ja alles ganz toll überlegt, aber ich habe dir bereits gesagt, dass ich dieses Jahr nicht campen möchte.“ Er wusste nicht, dass ich bei meiner Planung auch seinen schlechten Rücken bedacht hatte, also schob ich ihm einen weiteren Flyer zu, den er skeptisch entgegennahm. „Lukanda?“ fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Sieht
verdammt teuer aus.“ Ich seufzte. „Ja schon, aber du hast doch selbst gesagt, dass du mal etwas anderes erleben und dich mal so richtig verwöhnen lassen willst. Wenn dir mal nicht nach wandern oder Sightseeing ist, kannst du die zahlreichen Wellness-Angebote wahrnehmen. Außerdem gibt es auch Zimmer, die nicht ganz so überteuert sind wie die großen Suites. Ich habe im letzten Jahr einiges für ein Auto zusammen gespart, aber wie du ja schon sagtest, wird es dein alter Ford Sierra fürs erste auch tun. Der steht schon so lange in der Garage herum und wartet bloß darauf, dass er endlich wieder gefahren wird. Dadurch spare ich eine
Menge Geld, die ich in unseren Urlaub in Bristol investieren kann.“ „Dem kann ich wohl nichts mehr entgegensetzten was?“ sagte er und verdrehte die Augen. Freudestrahlend sprang ich von meinem Stuhl auf und umarmte ihn stürmisch. Ich wusste, dass ich ihn soweit hatte. Er befreite sich aus meiner Umarmung und schob die Broschüren, Flyer und Computerausdrucke zusammen, um sie mir zu überreichen. „Aber da es deine grandiose Idee war, wirst du dich auch um alles kümmern. Du planst die Fahrt, die Zimmerreservierung und alles andere. Ich möchte mich um nichts kümmern müssen. Aber wehe du quartierst uns
zusammen in einem Zimmer ein, ich liebe dich mein Schatz, aber ich brauche auch hin und wieder ein bisschen Zeit für mich. Außerdem schnarchst du, dass sich die Wände biegen!“ sagte er ernst, doch das breite Grinsen in seinem Gesicht verriet mir, dass er mich nur aufzog. Ich war überglücklich und fühlte mich, als könnte ich die ganze Welt umarmen. Den gesamten Nachmittag verbrachte ich damit, unseren Urlaub zu planen. Ich rief im Lukanda an und reservierte ein Zimmer, das aus zwei Schlafzimmern und einem gemeinsamen Wohnzimmer und Bad bestand. Im Internet suchte ich nach der besten Route, die wir mit dem Auto von Woodley nach Bristol fahren
konnten. Am Abend hatte ich schon beinahe alles bis ins letzte Detail geplant, als es an der Tür klingelte. „Terra, es ist für dich!“ hörte ich Dad´s Stimme von unten rufen. Es war Adrianna, die vor der Tür stand, ein breites Grinsen im Gesicht und eine DVD in der Hand. „Bleibt nicht zu lange auf ihr zwei, morgen ist Schule und ich möchte nicht, dass du so spät noch allein durch die Gegend fährst, Adrianna.“ sagte Dad und verabschiedete sich mit einem Kuss auf meine Stirn von uns. Er traf sich heute mit ein paar Freunden in irgendeinem Pub, wie jede Woche. Ich schloss die Tür hinter ihm und wollte gerade in die Küche gehen, um Popcorn
zu machen, als mich Adrianna am Arm packte und die Treppe zu meinem Zimmer heraufzerrte. „Was soll das Anna? Ich dachte wir wollten einen Film sehen?“ Sie warf die DVD auf mein Bett und trat an meinen großen Kleiderschrank, öffnete ihn und wühlte sich durch meine Klamotten. Sie zog ein weißes Kleid heraus, betrachtete es eine Sekunde lang, schüttelte den Kopf und hing es wieder hin. Das machte sie mit beinahe meiner gesamten Garderobe, bis sie schließlich einen hautengen dunkelblauen Pulli mit V-Ausschnitt herauszog und mir zuwarf. „Zieh das an!“ stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und
warf mir noch eine helle Jeans zu. Ich zog die Jogginghose aus, die ich heute nach der Schule angezogen hatte und schlüpfte in die von Adrianna ausgewählten Kleider. Abschätzend musterte sie mich. „Beinahe perfekt.“ sagte sie und ergriff wieder meine Hand, um mich hinter sich her in das Badezimmer zu ziehen. „Was soll das Anna?“ fragte ich sie ein wenig außer Atem und sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Das ist nur zu deinem Besten Süße. Ich möchte nicht, dass du aussiehst wie eine Vogelscheuche, wenn die Jungs auftauchen.“ Sie suchte in dem weißen Hängeschrank nach meinem Make-up und begann sogleich damit, mit Mascara und
Rouge aufzutragen. „Moment mal! Welche Jungs denn!?“ fragte ich entgeistert. Mit einem einfachen Schulterzucken antwortete sie: „Daniel und Tyler.“ Anna und Tyler führten eine On-Off-Beziehung. Ständig trennten sie sich voneinander, nur um sich wenige Tage später wieder knutschend in den Armen zu liegen. „Mir muss entgangen sein, dass du und Tyler wieder zusammen seid.“ sagte ich schließlich als sie zurücktrat, um ihr Werk zu begutachten. Sie schien zufrieden mit meinem Aussehen, denn sie klatschte freudestrahlend in die Hände und rauschte aus dem Zimmer.
Ich folgte ihr in die Küche, wo die bereits vier Gläser aus dem Schrank holte und die Schränke nach dem Mikrowellenpopcorn durchsuchte. „Wir sind ja auch nicht wieder zusammen du Dummerchen. Aber das wird sich nach dem heutigen Abend ganz sicher ändern.“ Ich seufzte und half ihr die Snacks in das geräumige Wohnzimmer zu tragen. „Und was ist Daniels Rolle?“ fragte ich überflüssigerweise. Sie rollte theatralisch mit den Augen. „Na der ist dein Date!“ Jetzt war es an mir, die Augen zu verdrehen und erneut zu seufzen. Das war typisch Adrianna: sie wusste stets was das Beste für ihre
Freunde war, ohne dass sie es selbst wussten oder wollten. „Es bringt wohl nichts, dir das auszureden?“ setzte ich an, doch schon klingelte es an der Tür. Aufgeregt wie ein Affe auf LSD hüpfte sie aus dem Zimmer und kam mit den zwei Jungs aus der Abschlussklasse zurück. Tyler grüßte mich mit einem „Na, was geht?“ und ließ sich auf das große Sofa fallen. Anna setzte sich sofort daneben und reichte ihm das Popcorn. Verlegen schaute ich auf meine Füße, ich hasste Blinddates, auch wenn ich Daniel schon einige Jahre kannte, war es doch etwas ganz anderes, wenn er plötzlich als mein Date fungierte. „Wollen wir uns nicht setzen?“ fragte
Daniel mit samtweicher Stimme und nickte in Richtung Sofa. Ich folgte ihm und setzte mich zwischen ihn und Anna, die bereits in Tyler´s Armen lag und ihm schmachtende Blicke zuwarf. Daniel seufzte genervt, was mir ein Lächeln entlockte. Vielleicht würde der Abend ja doch nicht so schrecklich werden, wie ich dachte. Wir sahen uns den Film „Dawn of the Dead an“, ich hasste diesen Film, denn ich konnte Zombies so gar nichts abgewinnen. Sie waren tot, knabberten an anderen Menschen herum und sahen total widerlich aus, außerdem konnten sie außer gelegentlichem Grunzen und Schreien keinen Laut von sich geben.
Warum Anna ausgerechnet diesen Film ausgesucht hatte war mir schleierhaft, doch ein Blick in ihre Richtung verriet mir ihre Absichten. Sie krallte sich in Tyler´s Shirt und verbarg ihr Gesicht an seinem Hals. Er streichelte ihr beruhigend über den Rücken und küsste sie hin und wieder zärtlich auf die Stirn. Jetzt waren die beiden wohl wieder ein Paar, ganz so, wie Anna es sich gewünscht hatte. Neben mir hörte ich Daniel kichern. Irritiert drehte ich mich um. „Was ist so komisch?“ fragte ich ihn, doch er zeigte nur auf den Fernseher und schob sich eine handvoll Popcorn in den Mund. Ich sah, wie einer der Zombies sein
aufgerissenes Maul gerade in einen gesunden Menschen grub und dabei abartige Geräusche von sich gab, Blut spritzte in alle Richtungen, doch nichts an der Szene ließ mich ebenfalls lachen. Wieder sah ich Daniel fragend an. Er hielt seinen Blick weiter auf den Film gerichtet und sagte: „Diese ganzen Zombiefilme sind so dermaßen übertrieben. Guck mal das ganze Blut und wie plötzlich der ganze Kopf weg fliegt, nur weil er sich gestoßen hat.“ Nun verfolgte ich den Film mit Daniels Augen und prompt musste ich anfangen zu lachen. „Siehst du? Besser als jede Komödie.“ Er lächelte mich an und rutschte ein Stück näher zu mir.
Als der Film vorbei war, während dem ich dank Daniels ständigen Kommentaren so lachen musste, dass ich Tränen in den Augen hatte, gingen Adrianna und Tyler bereits Richtung Haustür. „Tschau! Wir sehen uns dann morgen in der Schule für die Zeugnisse.“ sagte Anna und warf mir eine Kusshand zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Daniel stand neben mir und sah mich einfach nur aus seinen braunen Augen an. Auch ich schwieg, denn ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Da beugte er sich näher zu mir, berührte mich leicht an der Schulter und legte seine Hand an meine Wange. Wollte er mich etwa küssen? Und, wollte
ich das überhaupt? Röte stieg mir ins Gesicht. Ich empfand nichts für diesen Jungen, auch wenn er mich an diesem Abend sehr zum Lachen gebracht hatte und ich auch sonst gut mit ihm klarkam. Eine Beziehung wollte ich jedoch nicht mit ihm führen, mit niemandem um genau zu sein, jedenfalls im Moment. Er schien meine Anspannung zu spüren, denn auch er versteifte sich ein wenig. „Das war wirklich ein toller Abend Terra, das sollten wir irgendwann mal wiederholen.“ flüsterte er und gab mir einen kurzen Kuss auf die Stirn. Dann wandte er sich von mir ab und verließ das Haus. „Was war denn gestern noch?“ fragte
mich Adrianna am nächsten Tag in der Schule, sie saß neben mir und unser Lehrer Mr. Matthews leierte die alten Sprüche über Verantwortung und unseren späteren Werdegang herunter. Gleich würde er uns unsere Zeugnisse überreichen und die Sommerferien konnten beginnen. „Tyler und ich haben Daniel mit Fragen überhäuft, aber es war nichts aus ihm herauszukriegen! Habt ihr euch nun geküsst?“ Schmollend schob sie die Unterlippe nach vorn. Ich seufzte, denn ich hatte keine Lust mir von ihr eine Predigt anzuhören, weil ich einen der heißesten Schüler der Abschlussklasse abgewiesen hatte. Zumal es mit uns beiden sowieso nicht
funktioniert hätte. Nach den Ferien würde Daniel nach London ziehen, um an der University of London zu studieren. Da blieb keine Zeit für eine Freundin in seiner kleinen Heimatstadt, die noch zur Schule ging. Aber damit würde ich bei Anna auf taube Ohren stoßen. Also verdrehte ich einfach die Augen und hielt den Mund. Mr. Matthews übergab uns endlich die Zeugnisse und wir stürmten aus dem Schulgebäude. Nachdem ich mich von meinen Freunden in den Sommer verabschiedet hatte, lief ich schnurstracks zum Southland Wood, um Pao zu besuchen, denn ich hatte ihm noch gar nichts von Bristol erzählt. Es
fiel mir schwer, ihn so lange zu verlassen und ihn nicht besuchen zu können, aber er würde es verstehen. Ich ging den schmalen Waldweg entlang, stieg über Wurzeln und große Steine und stand endlich vor dem kleinem Kreuz mit den vielen Blumen davor. Als mein Blick auf die vielen Gewächse fiel, stockte mir der Atem. In meiner Eile hatte ich ganz vergessen die neue Wildrose mitzubringen, die ich unbedingt hier einpflanzen wollte. Ich setzte mich im Schneidersitz hin und sah die Farbenpracht vor mir an. „Am Sonntag habe ich noch kurz Zeit, da bringe ich dir neue Blumen Pao.“ sagte ich und zupfte ein paar Grashalme aus
der Erde. „Später fahren wir dann nach Bristol. Ich konnte Dad endlich überreden, auch wenn wir nicht wie sonst campen, sondern in einem mega schicken Hotel schlafen. Es wird bestimmt toll werden. Schade, dass du uns nicht begleiten kannst, aber du bist immer bei mir.“ Aus meinem Rucksack holte ich eine leere Wasserflasche und füllte sie mit klarem Wasser, aus dem kleinem Bach, der am anderen Ende der kleinen Lichtung entlang floss. Ich ging zurück zu Pao und versorgte die Blumen. „Was ist das denn?“ flüsterte ich mit belegter Stimme, als ich eine kleine Calla entdeckte, die sich entgegen aller anderen Pflanzen dem Boden
entgegen neigte und eine braune kränkliche Farbe aufwies. „Nein, nein, nein!“ Meine Stimme zitterte. „Das hast du nicht verdient Pao!“ Tränen liefen über meine Wangen, als ich an mein stilles Versprechen zurückdachte, dass niemals eine welke Blume vor ihm stehen würde. So nichtig dieses Versprechen anderen erscheinen mag, bedeutete es für mich alles. Ich grub die Hände in die feuchte warme Erde. Tränen tropften unaufhörlich herab, bedeckten die modrigen Blätter. Unter der Erde erfasste ich die Wurzeln der Calla. Ich zog daran, um sie aus dem Erdreich zu ziehen, doch sie hielt stand, wehrte sich gegen meine Kraft. Bilder
von meinem besten Freund stiegen in mir auf, ich sah sein neckisches Lachen, seine strahlend grünen Augen, sein wuscheliges braunes Haar, das Grübchen auf der rechten Seite. Da passierte es: die Erde begann zu vibrieren. Mein erster Gedanke galt einem Erdbeben, doch es war kaum wahrnehmbar und hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Meine Finger kribbelten, angenehme Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Ich schloss die Augen und dachte weiter an Pao und meine unbändige Liebe zu ihm und unserer unendlichen Freundschaft. Als ich die Augen öffnete, zog ich vor Schreck meine Hände aus der Erde. Sie
waren schmutzverkrustet, aber das war mir egal. Ich beugte mich näher zu der eben noch welken Calla herab, doch sie erstrahlte plötzlich wieder in all ihrer Pracht und Stärke. Mein Blick glitt über die Wiese und auch hier sprossen zahlreiche Blumen hervor, die gerade noch nicht da gewesen war. Es sah aus, wie ein wunderschöner Blütenteppich.
Schweißgebadet wachte ich auf. Meine Gedanken kreisten um dieses grüne Licht, das mich in meinen Träumen ständig verfolgte. Pria hatte gesagt, ich müsse diese Träume ignorieren, mich von diesem Licht fernhalten, doch es zog mich magisch an, suchte mich in jedem Moment heim, den ich die Augen geschlossen hatte. Jedes Mal war der Weg in dieser dunklen Gasse beschwerlich und lang, irgendetwas hielt mich zurück, irgendjemand war bei mir. Vor ein paar Tagen konzentrierte ich mich darauf, jemanden in der Dunkelheit zu finden. Ich wehrte mich gegen die
Anziehungskraft, die mich an das andere Ende der Gasse zog und ging in die entgegengesetzte Richtung. Schemenhafte Gestalten schwebten um mich herum, waren aber nie in greifbarer Nähe. Sosehr ich mich auch bemühte zu erkennen, wer noch in dieser Gasse anwesend war, es schien als würde sich mein Blick trüben, je mehr ich es versuchte. Kurz bevor ich erwachte, konnte ich das Aufblitzen dreier Augenpaare erkennen. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch der Anblick brannte sich in mein Gedächtnis und beschäftigte mich in den nächsten Tagen so sehr, dass ich mich kaum noch auf irgendetwas anderes konzentrieren
konnte. Wem gehörten diese Augen? Was wollten sie von mir? Warum kamen sie mir so vertraut vor, ganz so, als hätte ich sie schon einmal gesehen? Auf Pria´s Fragen, ob mich meine Träume noch so beschäftigten oder ob ich gar durch das Licht getreten wäre, verneinte ich und verbarg meine Gedanken weitgehend vor ihr. Sie wirkte zufrieden, aber auch sie hatte ein Geheimnis vor mir, das spürte ich. Still rutschte meine beste Freundin vor Stundenbeginn auf ihren Platz neben mir. „Wo warst du heute morgen?“ fragte ich sie „Und wann ist das denn passiert?“ bemerkte ich nachdem ich sie kurz
gemustert hatte und deutete auf ihre Strähne, die nun in einem leuchtendem Blau erstrahlte. Sie zuckte mit den Achseln. „Mir war mal wieder nach Veränderung. Deshalb bin ich etwas früher los. Ich wollte dich nicht wecken. Hast du was aufregendes geträumt?“ fragte sie betont gelangweilt. Ich schüttelte den Kopf als die Klingel läutete. In den nächsten Tagen benahm sich meine beste Freundin immer merkwürdiger, dauernd warf sie mir heimliche Blicke von der Seite zu, beobachtete mich beim Hausaufgabenmachen, beim Essen oder Fernsehen. Mehrmals sprach ich sie auf
ihr seltsames Verhalten an, doch sie winkte bloß ab und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. Außerdem interessierte sie sich plötzlich viel mehr als üblicherweise für meine Magie. Sie fragte mich ob ich das Gefühl hätte, dass sich an meinen Fähigkeiten irgendetwas verändert hätte, ob ich Dinge sah, die ich merkwürdig fand oder von Orten träumte, die mir fremd sein sollten, mir aber bekannt vorkamen. Am Donnerstag beschloss ich schließlich ihrem Verhalten endlich auf den Grund zu gehen. Ich vergewisserte mich davon, dass ich allein in unserer kleinen Zweiraumwohnung war, schloss meine Zimmertür hinter mir und öffnete die
große Truhe, die vor meinem Bett stand. Sie war aus Holz, wirkte alt und war mit kunstvollen Schnitzereien verziert. In ihr bewahrte ich sämtliche Utensilien zum Zaubern auf, wie Kerzen, Kräuter, Kristalle und diverse Pulver. „So, ich brauche... ja genau...und, nein das nicht, aber...“ murmelte ich gedankenverloren vor mich hin, als ich versuchte, mich an den Zauber zu erinnern, den ich in einem von Pria´s Büchern gelesen hatte und holte einige der Gegenstände aus der Truhe. Ich zog die schweren roten Vorhänge der beiden Fenster zu, sodass ich nur noch die Umrisse der Möbel um mich herum erkennen konnte und setzte mich im Schneidersitz neben meinem
Bett auf den Boden. Nun entzündete ich die rote Kerze, die den Raum in einen warmen Schein hüllte. Ich drehte mich Richtung Süden und stellte die brennende Kerze vor mich. Links neben mich legte ich eine große weiße Feder, hinter mich stellte ich die kleine runde Dose, in der sich ein bisschen Erde befand. Dann nahm ich das Glas, das ich kurz zuvor mit Leitungswasser gefüllt hatte und stellte es der Feder gegenüber auf meine rechte Seite. In einem gleichmäßigen Kreis verstreute ich gemahlenes Johanniskraut um mich herum. Ich leerte meinen Geist, wie Pria es mir beigebracht hatte und ignorierte den Stich, der mich bei den
Gedanken an sie durchfuhr. Im Geiste stellte ich die Frage, die mich so sehr beschäftigte: „Was verheimlicht Pria mir?“, doch meine Gedanken drifteten ab und andere Fragen drangen an die Oberfläche. Was hatte es mit meinem Traum auf sich? Wem gehörten diese Augen? Was war das für ein grünes Licht? Es waren alles Fragen, die mich seit längerer Zeit beschäftigten, doch ich sollte mich beim Ausüben dieses Zaubers nur auf eine einzige konzentrieren. Prompt bekam ich die Quittung für mein unachtsames Handeln: Die Kerze vor mir verwandelte sich in eine Stichflamme, die bald bis zur Decke reichte. Rauch
bildete sich um mich herum und verschleierte meinen Blick. Das Atmen fiel mir schwer, doch ich erkannte auch, dass mein Zauber gelungen war. Aus der Flamme vor mir spalteten sich einzelne feine Fäden ab und wirbelten in einem geschwungenem Muster vor mir herum. Voller Erstaunen beobachtete ich das Schauspiel, das sich mir bot. Das Muster aus Feuer verwandelte sich zu Buchstaben, die in der Luft schwebten. „B-R-..“ Das Feuerband fiel in sich zusammen, die Stichflamme verschwand, die Kerze erlosch, der Rauch lag schwer im Raum. „Bist du denn vollkommen übergeschnappt!?“ fuhr mich Pria an, die
mit weit aufgerissenen Augen im Türrahmen stand und mich fassungslos anstarrte. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie nach Hause gekommen war. Unglauben und Zorn spiegelten sich in ihrem Blick als sie durch mein Zimmer stapfte und die Fenster schwungvoll öffnete, um auch die letzten Rauschwaden los zu werden. „Verdammt Pria! Du kannst nicht einfach unangekündigt in mein Zimmer stürmen. Es gibt hier immerhin auch noch so etwas wie Privatsphäre!“ wütend darüber, dass sie meinen Zauber unterbrochen hatte, funkelte ich sie an. Sie trat an den Kreis heran, in dem ich eben noch gesessen hatte und musterte
die Utensilien, die ich benutzt hatte. Skeptisch hob sie den Blick. „Was soll das hier?“ fragte sie. Schnell sammelte ich alles zusammen und warf es zurück in die Truhe. „Das geht dich nichts an! Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ Damit schob ich sie in den Flur und knallte die Tür hinter ihr zu. Pria hämmerte gegen die Tür: „Das kannst du nicht machen Ponpye! Was soll das!? Rede mit mir verdammt nochmal!“ Ich ging zu dem kleinem Radio, das auf dem alten Schreibtisch am Fenster stand und drehte die Lautstärke bis oben auf, sodass ich das Hämmern und Rufen nicht mehr hören konnte. „Mist!“ fluchte ich als ich versehentlich
einen Stapel Schulbücher vom Tisch warf. Ich ging in die Knie und griff nach dem ersten Buch, meinem Atlas aus dem Geographieunterricht, der aufgeschlagen neben meinem Mathebuch lag. Ich wollte ihn schon zuschlagen, doch mein Blick blieb an einem kleinem schwarzen Punkt hängen. „Was ist das denn?“ flüsterte ich und sah mir den Fleck genauer an. Es war die Landkarte Englands, am oberen Rand der Seite hatte ich im letzten Jahr einen Totenkopf mit flammenden Augen gemalt, doch das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich tastete über die kleine schwarze Erhöhung am linken Rand und erstarrte. Das kleine Brandloch, das das letzte Mal als ich das
Buch in den Händen hatte, sicher noch nicht da gewesen war, war noch heiß und nun konnte ich auch den leichten Geruch nach verbranntem Papier wahrnehmen. Ich besah mir den versengten Punkt genauer und stellte fest, dass er an der Stelle war, an der eigentlich in klaren schwarzen Buchstaben das Wort „Bristol“ stehen sollte. „B-R-...“ flüsterte ich erstaunt. „Oh Gott, es hat funktioniert.“ Den ganzen Tag und auch den darauffolgenden zermarterte ich mir das Hirn darüber, warum ausgerechnet Bristol die Antwort auf meine Fragen sein sollte. Ich wusste keine Antwort oder auch nur einen Ansatz in welche
Richtung ich denken sollte. Pria und ich redeten nicht miteinander, kaltes Schweigen lag zwischen uns. Doch schlussendlich beschloss ich, dass diese ganze Sache es nicht wert war, unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Also versuchte ich den ganzen Tag ein Gespräch mit Pria aufzubauen, doch sie wirkte gedankenverloren und abweisend. Auf dem Nachhauseweg tastete ich mich noch einmal langsam an sie heran. „Wollen wir nach Trowbridge ins Einkaufszentrum? Der Bus fährt in fünf Minuten.“ Keine Reaktion. Ich blieb stehen, um zu sehen ob sie es bemerkte, doch sie ging einfach weiter. Ich beschloss es auf eine andere Weise
zu versuchen, mit der ich ganz sicher ihre Aufmerksamkeit erregte. „Was haben dunkelblaue, grüne und grau-blaue Augen für eine Bedeutung?“ rief ich ihr hinterher, nicht ahnend, dass sie sofort wie angewurzelt stehen bleiben und mich fassungslos anstarren würde. „Was... was hast du da gerade gesagt?“ Ihre Stimme zitterte, jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ich ging auf sie zu, blickte ihr auf der Suche nach Antworten in die dunklen Augen. „Du hörst mir also doch zu. Möchtest du mir vielleicht jetzt sagen, was du mir verheimlichst?“ Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften. Ein Funkeln trat in Pria´s Augen als sie auf mich zukam und
mich unsanft an den Armen packte. „Woher weißt du von den anderen? Sag es mir Ponpye! Hat es etwas mit deinem Zauber zu tun?“ So hatte ich meine beste Freundin noch nie erlebt. Ich riss mich von ihr los und wich ein paar Schritte zurück, doch sie ließ sich nicht beirrten und folgte mir. „Ponpye, das ist kein Spiel!“ Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch ich verstand jedes einzelne Wort klar und deutlich. Verwirrt blickte ich sie an. „Sag mir endlich die Wahrheit! Was ist denn bloß los mit dir?“ Verzweifelt schüttelte Pria ihren Kopf. Entschlossen trat sie wieder auf mich zu, packte mich erneut an den Armen und hielt mich fest.
Durchdringend musterte sie mich, ließ keinen Protest meinerseits zu. „Die Welt ist gefährlich Ponpye, sei froh, dass du nichts von dem weißt, was sich da draußen abspielt. Halte dich zurück, konzentriere dich, lass nichts und niemanden in deinen Geist, am wenigsten diese wahnhaften Träume! Ich habe einen riesen Fehler gemacht. Du hättest das alles niemals lernen dürfen, ich hätte besser aufpassen müssen. Aber jetzt ist es zu spät, ich kann nicht ungeschehen machen, was ich getan habe. Bitte versprich mir, dass du deine Magie nicht mehr anwendest! Das gestern... das war...“ Sie verstärkte ihren Griff.
„Pria, ich habe keine Ahnung wovon du sprichst und langsam machst du mir Angst, aber ich werde auf keinen Fall aufhören meine Magie zu benutzen!“ Entschlossen blickte ich in ihre Augen, die mich noch immer durchbohrten. „Du musst! Ich werde nicht zulassen, dass du genauso unbedacht handelst wie ich und uns damit in Gefahr bringst!“ Wut stieg in mir auf. Wir hatten uns schon öfter gestritten, aber noch nie hatte sie mir Vorschriften machen wollen. Ich wollte einfach nur noch hier weg, weg von diesem Irrsinn, weg von diesem Mädchen, das angeblich meine beste Freundin war, die sich jedoch
plötzlich wie eine völlig Fremde verhielt. „Lass mich los Pria!“ sagte ich kalt. Wieder schüttelte sie den Kopf. „Erst versprichst du mir die Magie aufzugeben!“ forderte sie. „Vergiss es!“ zischte ich. Plötzlich wurde mir schwindelig, mir wurde heiß und kalt zugleich, meine Haut kribbelte an den Stellen, an der Pria mich berührte. „Au!“ fluchte sie und ließ meine Arme los. Fassungslos blickte sie ihre Handflächen an, dann mich. „Was hast du getan?“ fragte sie und hielt mir ihre Hände vor die Augen. Unzählige Brandblasen übersäten ihre Haut, kleine Rauchwölkchen stiegen aus den Blasen
hervor.
Erschrocken wich ich zurück. „Nein. Das...das war ich nicht!“ stotterte ich, doch tief im Inneren wusste ich, dass ich Pria das angetan hatte, dass ich sie mit meiner Magie derartig verletzt hatte, dass ich sie durch meinen Zorn ungewollt verbrannt hatte. Tränen der Scham und Schuldgefühle verschleierten meinen Blick. „Es tut mir leid.“ stieß ich flüsternd hervor, drehte mich um und rannte davon.
Er konnte es ganz deutlich spüren, die Veränderung des Gleichgewichts, das verräterische Knistern in der Luft. Beinahe siebzehn Jahre wartete er nun schon auf diese Anzeichen, hätte beinahe schon aufgeben. Doch nun war es endlich soweit, die Zeit für Veränderungen war gekommen, jetzt musste er nur noch die richtigen Schritte in die Wege leiten, er musste die Macht an sich reißen, bevor seine Gegner dies tun würden. Seine Schritte hallten von den hohen kalten Steinwänden wider als er voller Vorfreude durch den großen Saal lief. “Meister?“ hörte er eine fiepsige Stimme
hinter sich. Langsam drehte er sich um, den niederen Diener mit abschätzigem Blick betrachtend. Der kleine buckelige Mann mit der langen Narbe im Gesicht, verbeugte sich tief vor ihm und begann stotternd zu sprechen: “Meister, ich bringe Neuigkeiten.“ Gelangweilt wandte er sich wieder ab, doch der Mann redete weiter: “Es gibt Neuigkeiten Herr.“, wiederholte er jetzt eindringlicher. Nun war doch ein wenig Aufmerksamkeit in ihn geweckt. Was konnte dieses unnütze Geschöpf neues beichten? War es möglich, dass die Königsfamilie sich ergeben hatte? Waren sie nach dieser langen Zeit des Schweigens und der brutalen Folter
endlich bereit ihr Geheimnis preis zu geben? Der kleine Hoffnungsschimmer in ihm erlosch. Nein, die beiden würden niemals einen derartigen Verrat begehen, lieber würden sie sterben, das hatten sie die letzten drei Jahre unmissverständlich klar gemacht, seitdem er nun über Bridéria herrschte. Auffordernd sah er den gebückten Mann an. “Herr, es gab Aufstände im ganzen Land, Kämpfer stürmten in das Dorf und töteten viele unserer Krieger. Sie verschwanden wieder so schnell und unbemerkt wie sie gekommen waren.“ Ungläubig ballte er die Hände zu Fäusten. “Wie kann das sein?“ presste er durch zusammengebissenen Zähne
hervor. Der Diener wich ängstlich zurück. “Herr, die Menschen glauben, dass Ihre Macht bald gestürzt wird. Es haben sich glaubhafte Gerüchte gebildet, dass die Macht der Bruxa bald in unsere Welt zurückkehren wird.“ Ein scheußliches Brüllen verließ seine Lippen und ließ den Diener zusammenzucken. „Ja, die Macht wird zurückkehren, aber sie wird MIR gehören! Mir ganz allein! Und die Menschen werden es bitter bereuen, dass sie sie damals nicht zerstört haben.“ stieß er schallend aus und rieb sich die Hände. Die Idee formte sich in seinem Geist zu einem ausgereiftem Plan. Ein Grinsen
umspielte seine Mundwinkel. Er würde sich die Schwächste von ihnen schnappen, oder besser gesagt: die mit dem geringsten Schutz. Schon vor einigen Jahren war ihm zu Ohren gekommen, dass es einem seiner Soldaten gelungen war, einen der Wächter ausfindig zu machen. Er hatte ihn getötet und es wie einen Unfall aussehen lassen, doch das Wissen um den Aufenthaltsort des Mädchens starb mit ihm. Es war ihm nicht gelungen sie ausfindig zu machen. Irgendjemand beschützte sie auch weiterhin. Doch jeder Schutz, der nicht von einem der Wächter ausging, war zu schwach, um ihn völlig von der Macht fernzuhalten.
Und jetzt da sie ihre Kraft das erste Mal eingesetzt zu haben schien, sollte es ein Leichtes sein, sie ausfindig zu machen und hatte er erst einmal die eine auf seiner Seite, so war er sich der anderen bereits gewiss. Doch bevor er Bridéria verlassen konnte, musste er sich um sein geächtetes Volk kümmern. Die Abtrünnigen würden ihre gerechte Strafe erhalten. „Sende Soldaten aus!“ befahl er mit bebender Stimme. „Sie sollen alle Erstgeborenen Kinder zusammenbringen und ins Verlies sperren. Wollen wir doch mal sehen, wie stark sie noch sind, wenn ihnen das Liebste genommen wird!“ Der buckelige Mann verbeugte sich wieder und
humpelte eilig zum großen Eichenportal, um seinen Befehl auszuführen. Er rief ihn noch einmal zurück: „Ach und Jirkan!?“ „Ja Meister?“ „Sie sollen nicht zimperlich mit den Familien sein!“ „Ja Meister!“ Damit verschwand er aus dem großen Saal und ließ ihn mit seinen Gedanken allein. Er sehnte sich die Macht herbei, die nach so vielen Jahren nun endlich in greifbarer Nähe zu sein schien, doch er durfte nicht unüberlegt und überstürzt handeln. Er musste jede Handlung genau abwiegen und nach reichlicher Überlegung entscheiden. Aber zu erst einmal musste er in eine andere Gestalt schlüpfen. Es nützte nichts das Mädchen
einfach zu entführen und sie zu zwingen ihm zu gehorchen. Sie musste ihm vertrauen und ihn aus freiem Willen folgen. Er schaute in den großen Spiegel, der ihn einen Blick in diese andere Welt ermöglichte: die Erde, auf der sich die Macht der Bruxa seit nun schon siebzehn Jahren vor ihm versteckte. Stunden studierte er die Gesichter der Menschen, die er sah, prägte sich ihre Art zu sprechen, ihre Gangart und Verhalten ein. Seine Maskerade musste perfekt sein, er durfte sich keine Fehler leisten. Nach reichlicher Überlegung entschied er sich für ein Gesicht und sprach die Worte, die ihn in einen anderen
verwandeln sollten. Jetzt musste er sie nur noch finden, doch das sollte nun da er ihrer Magie folgen konnte, kein allzu großes Problem darstellen.
CONGREDIUNTUR
-die Begegnung-
Das schwarze Leder fühlte sich angenehm kühl unter meiner nackten Haut an, ich ließ meinen Kopf an die getönte Scheibe sinken und besah mir die Landschaft, die an uns vorbei rauschte genauer. In den letzten eineinhalb Stunden waren wir von grünen Feldern umgeben gewesen, nichts als Grün, das sich kilometerweit zu beiden Seiten erstreckte, doch nun konnte ich erste Häuser entdecken. Immer wieder blitzten sie durch die nahe beieinander stehenden Bäume hindurch. Mein Herz schlug schneller, ich war wahnsinnig aufgeregt. Als wir die vereinzelten Häuser hinter
uns ließen und wieder nur noch grüne Felder zu sehen waren, spürte ich eine warme Hand auf meinem Unterarm. Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und drehte mich in Ben´s Richtung, der neben mir saß. Wütend funkelte ich ihn an, sofort zog er seine Hand zurück und sah mich traurig an.
„Hava, freu dich doch ein bisschen, du bekommst das, worauf du dich schon die ganze Zeit so gefreut hast!“ sagte er mit leiser Stimme und lehnte sich ein wenig näher zu mir. Der Blick, den er mir aus seinen strahlenden Augen zuwarf, ließ mein Herz rasen und meine Haut kribbeln, aber ich war noch immer sauer auf ihn.
Ich hatte nicht vergessen, dass er sich heimlich mit Ajira vergnügte und mir nur vorspielte, er würde mich mehr als nur mögen. Ich warf einen Blick auf Ajira, die uns gegenüber saß und somit entgegen der Fahrtrichtung fuhr. Doch sie sah stur aus dem Fenster auf der anderen Seite, ihr Gesicht war kalkweiß und sie schloss ständig die Augen und verzog den Mund zu einer Grimasse. Ihr wurde immer schlecht beim Autofahren, besonders bei weiteren Strecken. Ben folgte meinem Blick und schüttelte leicht mit dem Kopf. „Du verstehst das vollkommen falsch Hava, es ist nicht so wie du denkst, das habe ich dir doch
erklärt.“ flehend sah er mich an, doch ich wollte von alldem nichts hören, nicht schon wieder. Nachdem ich mich von meinem Asthmaanfall letzte Woche erholt hatte, überbrachte mir mein Vater die Neuigkeit, dass ich doch nach Bristol fahren konnte. Allerdings nicht mit ihm und es sollte auch keine Urlaubsreise werden, sondern eine Studienreise zusammen mit meinem Lehrer Mr. Kenari und meinem Dienstmädchen Ajira. Ben erklärte mir, dass er sich mit Ajira zusammen gesetzt hatte, um einen Plan zu entwickeln, wie sie meinen Vater dazu überreden konnten, die Reise zu befürworten.
Da hatte er sich eine wirklich gute Erklärung zurecht gelegt, aber ich hatte gesehen, wie sie sich heimliche Blicke zugeworfen hatten, besonders nach dem seltsamen Vorfall mit Ben im Studienzimmer, wie sie ihn zärtlich am Arm berührt hatte und er daraufhin freudig gelächelt hatte. Ich durfte ihn nicht länger in mein Herz lassen, musste meinen Liebeskummer vor ihm verbergen und ihn endlich als das sehen, was er war: mein Lehrer, nicht mehr und nicht weniger. „Ich würde lieber ein ganzes Jahr alleine zu Hause verbringen als diese Reise mit euch zu machen, statt meines Vaters, aber ich
habe ja sowieso nichts zu sagen. Also muss ich das hier wohl ertragen und nun bitte ich Sie mich in Ruhe die Landschaft betrachten zu lassen, es sei denn, Sie haben etwas lehrreiches zu sagen, denn das ist schließlich der Grund, warum wir hier sind, nicht wahr!?“, sagte ich mit so viel Abscheu wie ich konnte. Sofort bereute ich meine harten Worte, als ich den Schmerz in seinen Augen bemerkte, doch ich musste hart bleiben. Also wandte ich mein Gesicht ab und verbarg so die Träne, die sich aus meinen Augenwinkeln stahl und meine Wange herab lief. Der Riverside Park zog gerade an uns vorbei, was bedeutete, dass wir beinahe
da waren. Ein paar Minuten später hielt der Wagen und Ajira stöhnte erleichtert auf. „Endlich!“ murmelte sie und verließ so schnell sie konnte die Limousine, als der ganz in Schwarz gekleidete Chauffeur die Tür öffnete. Ben warf mir einen letzten betrübten Blick zu und stieg ebenfalls aus. Nun wurde die Tür auf meiner Seite geöffnet, ein Mann Anfang dreißig in schwarzer Hose, weißem Hemd und dunkelroter Jacke stand vor mir und hielt mir seine Hand entgegen. Ich legte meine hinein und ließ mir beim Aussteigen helfen. „Willkommen im Lukanda Miss Lorring.“, sagte er freundlich und schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Ich
erwiderte es, ließ seine Hand los, strich mein hellblaues Kleid glatt und sah mich neugierig um. Ein großes weißes Gebäude ragte vor uns auf, mit roten Markisen und weißen Säulen, die das Vordach trugen. Ein geschwungener Weg aus weißen Steinen führte zum verglasten Eingang, gesäumt von wunderschönen Blumen zu beiden Seiten. Ben hielt mir seinen Arm entgegen, doch ich ignorierte ihn und ging einfach an ihm vorbei. Ein Junge in meinem Alter begrüßte mich am Eingang und hielt mir die große Tür auf. Ich nickte ihm zu und ging auf Ajira zu, die bereits auf mich wartete. „Ich habe schon eingecheckt,
unsere Koffer werden auf unsere Zimmer gebracht. Kommen Sie.“ Ich packte meine Koffer aus, Ajira musste ich die Tür vor der Nase zuschlagen und abschließen, damit sie das nicht für mich erledigte, denn ich wollte etwas Zeit für mich haben, meine Gedanken ordnen und Ajira und Ben eine Weile aus dem Weg gehen. Gerade als ich das letzte Kleid auf einen Bügel hing, klopfte es leise an der Tür. Seufzend ging ich durch das Zimmer und schloss sie auf. Ajira stand in dem großen Salon und fragte: „Sind sie fertig Miss Hava? Mr. Kenari wartet bereits auf uns.“ Wieder seufzte ich, nickte aber. Ich ging noch einmal zurück in mein
Schlafzimmer, um meine Handtasche zu holen und folgte dann meinem Dienstmädchen zurück aus der großen Suite zum Fahrstuhl. Wie versprochen wartet Ben bereits und hielt mir die Tür der Limousine auf. Ich stieg ein, gefolgt von Ajira und meinem Lehrer. Bildete ich mir die Blicke zwischen ihnen nur ein? Wir ließen das imposante Hotel hinter uns und fuhren zur „Bristol Museum & Art Gallery“ Vor Ort verfiel Ben sofort in seinen Lehrermodus. An jedem Ausstellungsstück blieb er stehen und erzählte die dazugehörige Geschichte. Ajira hing förmlich an seinen Lippen, innerlich verfluchte ich sie und wünschte
ihr die schrecklichsten Krankheiten an den Hals. Völlig erschöpft verließen wir einige Stunden später das Museum. „Ich habe Hunger.“ sagte ich und ging an der Limousine vorbei, auf das Gebäude nebenan zu. Auf einem Schild stand „Brown´s Restaurant“. Ajira schnaubte. „Da wollen Sie rein Miss? Es gibt sicher bessere Lokalitäten, wir könnten...“ begann sie, doch ich unterbrach sie: „Wenn es dir nicht passt, kannst du gerne ins Hotel zurück fahren.“ Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch ich ließ sie einfach stehen und betrat das kleine Restaurant. Durch das Fenster sah ich, wie sich Ben und Ajira angeregt
miteinander unterhielten. Schließlich stieg sie in die Limousine und fuhr davon. Ben kam jedoch auf das „Brown´s zu und setzte sich auf den freien Platz mir gegenüber. Nachdenklich betrachtete er mich. „Was hast du eigentlich gegen sie?“, fragte er. Bevor ich antworten konnte, trat ein Kellner an unseren Tisch, um unsere Bestellung aufzunehmen. Ich warf einen kurzen Blick in die Karte und bestelle das erste Gericht, das auf der Karte stand. „Etwas zu trinken dazu?“ fragte der Mann mittleren Altern mit gelangweilter Stimme. „Ein Wasser bitte.“ sagte ich und Ben bestellte das gleiche.
„Also?“ wieder sah er mir tief in die Augen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum interessiert es dich?“, entgegnete ich. Ein Lächeln umspielte seine Lippen als er merkte, dass ich ihn endlich wieder duzte. Es war mir einfach so heraus gerutscht, zurücknehmen ging nicht. „Ich möchte dich einfach nur verstehen Hava.“ sagte er schließlich und streckte seine Hand nach mir aus. Mein verräterisches Herz schlug schneller, doch ich ignorierte es, ebenso wie Ben´s Hand und starrte ihn einfach nur an. „Letzte Woche, als wir den Unterricht in den Garten verlegt haben,“ setzte ich an, „kurz bevor dein Handy klingelte und
mein Vater anrief...“ ich stockte. „Ja?“ hakte er nach. Röte stieg mir ins Gesicht als ich an jenen Tag zurück dachte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte: „Wolltest du mich küssen?“ Ich beobachtete seine Reaktion genau. In seinem Gesicht spiegelten sich so viele Gefühle wider, doch schließlich legte sich ein scheues Lächeln auf seine Lippen. Er lehnte sich über den Tisch zu mir, zog meine Arme auseinander und nahm meine Hand in seine. Meine Haut kribbelte an den Stellen, an denen er mich berührte. „Hava, wie sollte ich dich nicht küssen wollen?“ sagte er schlicht und sah mich verträumt an. Unweigerlich musste auch ich lächeln,
doch dann stahl sich ein einzelner Gedanke in meine Träumereien und ließ mich meine Hand zurückziehen. „Und das mit Ajira? Ich habe euch zusammen gesehen.“ Seine Augen weiteten sich, sein Lächeln erstarb. Ungläubig sah er mich an: „Deshalb magst du sie nicht? Du denkst wir beide hätten etwas miteinander?“ „Ich weiß es.“ unterbrach ich ihn, doch er schüttelte mit dem Kopf. Er griff wieder nach meiner Hand, ich ließ es zu. „Hava, ich habe dir in den letzten Tagen so oft zu erklären versucht, dass ich mich nur mit Ajira getroffen habe, um es zu schaffen, deinen Vater davon zu überzeugen, diese Reise machen zu dürfen. Ich wusste
doch, wie sehr du dich darauf gefreut hattest und wie enttäuscht du warst, als dein Vater abgesagt hat. Aber ich wusste auch, dass er dich niemals ganz alleine mit mir hätte fahren lassen, also musste ich Ajira von meinem Plan überzeugen. Bitte glaub mir endlich! Ich könnte nie etwas tun, dass dich verletzt.“ In seinem Blick lag so viel Wärme, keine Lügen konnte ich in seinem schönem Gesicht entdecken. Er wollte seine Hand zurück ziehen, doch ich hielt sie fest. Er sah mich wieder an. „Verzeihst du mir?“ fragte er. „Es gibt nichts zu verzeihen“, sagte ich grinsend und mit unzähligen Schmetterlingen im Bauch. „Hast du Lust heute Abend ins Kino zu
gehen?“ fragte ich als wir das Brown´s schließlich verließen und die Straßen entlang schlenderten. „Gern, jedoch befürchte ich, dass wir Ajira auch fragen müssen.“ Ich stöhnte. „Gib ihr eine Chance Hava, sie ist gar nicht so übel.“ Wir gingen weiter. An der nächsten Kreuzung hielt Ben an. „Wartest du hier kurz auf mich?“ doch er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern bog um die Ecke und verschwand in einem kleinem Geschäft, dessen Namen ich von hier aus nicht sehen konnte. Ich wippte gedankenverloren von einem Fuß auf den anderen und sah mich um. Mein Blick blieb an einem Mädchen in meinem Alter auf der anderen
Straßenseite hängen. Sie hatte strahlend grüne Augen, sonnengebräunte Haut und langes glattes braunes Haar. Neugierig blickte sie sich um und achtete kaum auf die Menschen um sie herum. Sie kam in meine Richtung, war kurz davor die Straße zu überqueren. Sie sah den blauen Geländewagen nicht kommen, der mit wahnsinniger Geschwindigkeit durch die Straßen, direkt auf sie zu jagte. Sie machte einen Schritt auf die Straße. Panisch bewegte ich mich in ihre Richtung. „Halt!“ rief ich und streckte den Arm aus. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus, ein Knistern umgab mich, ein leichter Wind wehte meine Haare aus dem
Gesicht. Das Auto fuhr an mir vorbei, doch das Mädchen blieb unversehrt, sie stand ungefähr zwei Meter von der Stelle entfernt, an der sie eben noch gestanden hatte. Große Verwirrung spiegelte sich in ihren Augen wider, als sie sich umblickte. Ihr Blick fand meinen, denn ich starrte sie noch immer verblüfft an. Sie hob ihre linke Hand zu einem Gruß und kam erneut in meine Richtung, diesmal versicherte sie sich, das die Straße leer war. In diesem Moment spürte ich Ben neben mir auftauchen. Er berührte mich sanft am Arm und lächelte mich spitzbübisch an. „Können wir?“ Er hakte mich bei sich unter und zog mich
mit sich, ich warf einen letzten Blick über meine Schulter in die Richtung des fremden Mädchens. Sie sah mir mit großen Augen hinterher.
„Oje oje oje, ich bekomme das nicht hin, sicher mache ich irgendwas falsch oder blamiere mich. Oder es war einfach nur ein Fehler von ihnen und sie wollen eigentlich eine andere...“ Aufgeregt saß ich auf meinem Bett und strich über den frisch gebügelten Stoff meiner neuen Bluse. Mum hatte sie mir gekauft und feierlich überreicht. „Du brauchst doch schließlich etwas besonderes zum Anziehen“, hatte sie gesagt und mir einen dicken Kuss auf die Wange gedrückt. Amado biss mir leicht in die Hand. Herausfordernd sah er mich an. „Ja ja schon gut, du hast ja Recht, wie
immer.“ seufzte ich und verzog mich ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Die Kinder waren bereits aus dem Haus und Mum hatte sich schlafen gelegt, nicht ohne mir vorher noch einmal viel Glück zu wünschen. Ich duschte, putze mir die Zähne und schlüpfte in die neue dunkelblaue Bluse, die meine Augen hervorhob, einen schwarzen Bleistiftrock, Strumpfhosen und meine schwarzen Absatzschuhe, die ich so selten trug, das sie aussahen wie gerade erst gekauft. Meine schwarzen Haare hatte ich über Nacht auf Lockenwicklern aufgedreht, sodass sie mir nun in sanften Wellen auf die Schultern fielen. Ich steckte sie mit vielen kleinen Klammern
kunstvoll nach oben, zupfte hie und da ein paar Strähnen heraus, die mir nun locker ins Gesicht fielen und mich nicht mehr so streng aussehen ließ, ein wenig Make-up und ich war bereit. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch gut in der Zeit lag, also ging ich noch einmal in mein Zimmer, streichelte Amado, der zusammengerollt auf meinem Bett lag, über den Kopf und nahm meine Handtasche von der Stuhllehne. Amado hob den Kopf und sah mich anerkennend an, sein Blick sagte: „Zeig es ihnen!“ Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, ich nickte ihm zu und verließ das Haus. Mit klopfendem Herzen und
schweißfeuchten Händen stand ich endlich vor dem großen Gebäude. Dieses Haus faszinierte mich jedes Mal aufs Neue wenn ich es sah. Die Bauweise, das Zusammenspiel von Farbe und Formen, die vielen Blumenarrangements zu beiden Seiten des Weges, der weitläufige Garten, der sich leicht hinter den großen Bäumen, die zu beiden Seiten des Hotels standen, andeutete. Das alles überwältigte mich, sodass ich einfach nur dastand und mit offenem Mund starrte. „Reiß dich endlich zusammen!“ schimpfte ich mit mir und ging langsam Richtung Eingang. Die große Glastür wurde mir von einem gutaussehendem jungen Mann in meinem Alter
aufgehalten, schüchtern lächelte er mich an und sagte: „Willkommen im Lukanda Miss.“ Verlegen nickte ich ihm zu. Er dachte, ich wäre ein Gast. In dem großen Foyer sah ich mich staunend und mit angehaltenem Atem um. Noch nie zuvor hatte ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt, es bisher immer nur aus der Ferne bewundert und nun war ich hier, nahm all diese wunderbaren Eindrücke in mich auf. Alles sah so nobel und elegant aus. Ich war schlichtweg begeistert von der Schönheit der Lobby. Der Boden bestand aus dunklem Parkett. In der Mitte des offenen Raumes befand sich ein Springbrunnen mit herrlichen filigranen
Verzierungen. Sanfte Beleuchtung brachte eine angenehme Atmosphäre. Zu meiner linken und rechten Seite waren kleine Sitzgruppen angeordnet, bestehend aus mehreren kleinen weißen Sofas und Sesseln, Glastischchen dazwischen. Überall standen wunderschöne Blumen, die einen angenehmen Duft nach Sommer verströmten. Hinter dem Brunnen erkannte ich die Rezeption, indirekte Beleuchtung verlief um den aus dunklem Holz bestehendem Tresen. Eine blonde Frau stand dahinter und lächelte fröhlich vor sich hin. Zu je beiden Seiten von ihr führte eine Treppe nach oben in den ersten Stock, auf
dessen Gang ich durch das Glasgeländer einen Blick erhaschen konnte. Ich stand einfach nur da und bewunderte alles was ich sah. Deshalb bemerkte ich die Frau, die an meiner Seite auftauchte zunächst gar nicht, doch sie räusperte sich und ließ mich erschrocken zusammenzucken. Freundlich lächelte sie mich an. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie. Ein Blick auf ihr Namensschild verriet mir, dass sie Rouva Parem hieß, ein außergewöhnlicher Name. Ich erinnerte mich an den Brief, den ich vom Lukanda bekommen hatte, mit der Bitte, ich solle mich bei einer Mrs. Parem melden. „Ich...ehm..“ Ich brachte nur ein Stottern
heraus, so aufgeregt war ich. Mein Gehirn schaltete sich ab und ließ mich im Stich. „Ich... bin Aqua McCall.“ brachte ich schließlich endlich heraus und streckte ihr meine Hand entgegen. Wissend sah sie mich an. „Schön dass Sie den Weg zu uns gefunden haben Miss McCall. Sie müssen nicht aufgeregt sein, Sie werden sehen, dass wir alle sehr harmlos sind. Mein Name ist Rouva Parem, kommen Sie bitte mit in mein Büro.“ Sie war wirklich sehr nett und so folgte ich ihr an den Sitzgrüppchen vorbei durch eine schlichte Tür, die mir zuvor gar nicht aufgefallen war. Auf einem kleinem goldenem Schild stand „Personalleitung“.
Hinter der Tür verbarg sich ein etwa zwanzig Quadratmeter großer Raum, dessen gegenüberliegende Seite vollkommen aus Glas bestand und ihn so größer wirken ließ. Ein dunkler Schreibtisch stand an einer Wand, neben mir ein einladendes Ledersofa mir Tischchen und Stühlen darum. Mrs. Parem bot mir einen Platz auf dem Sofa an und setzte sich mir gegenüber, nachdem sie zwei Gläser Wasser auf dem Tisch abstellte. Das Einführungsgespräch verlief entspannt und beruhigend gut. Ich hatte Rouva, wie sie mich bat sie zu nennen, sofort ins Herz geschlossen. Sie hatte
eine offene und fröhliche Art an sich, die man einfach mögen musste. Nach unserem Gespräch machten wir eine kleine Führung durch das Hotel, sie zeigte mir den Speisesaal, einige der Gästezimmer, die gerade für den nächsten Gast hergerichtet wurden, von der hinteren Terrasse zeigte sie mir einen Ausblick auf den großen Garten, der sich eher als Park herausstellte. Wir gingen in die große Küche, ich lernte den chilenischen Koch Diego kennen, der mit seinem rundem Bauch verdeutlichte, dass er jede Speise höchst persönlich kostete, bevor sie seine Küche verließ. Anschließend zeigte Rouva mir den Aufenthaltsraum der Angestellten, sowie
den Umkleideraum. Hier ging sie zielstrebig auf einen Spind zu, öffnete ihn und nahm einen fein säuberlich zusammengefalteten Stapel Kleidung heraus. „Das ist für Dich. Im Spind findest du noch passende Schuhe und dein Namensschild.“, sagte sie und überreichte mir die Uniform. „Achte darauf, dass deine Kleidung stets sauber und gebügelt ist. Du konntest Dir ja bereits einen kleinen Eindruck von den Erwartungen unserer Gäste an uns verschaffen.“ fuhr sie fort und wandte sich Richtung Tür. „Wenn Du dich umgezogen hast, kommst du bitte ins Foyer, dort meldest du dich an der Rezeption bei Amanda Corey. Du wirst
ihr heute über die Schulter sehen und ein bisschen zur Hand gehen. Um zwölf machst Du eine halbe Stunde Pause und um halb vier meldest Du Dich in meinem Büro. Alles klar?“ Ich nickte, setzte mich auf die Holzbank, die zwischen den Spind-Reihen verlief, um mich umzuziehen und schon war ich allein. Meine Hände glitten vorsichtig über den schwarzen Stoff der Hose, ich besah mir den Spind genauer und nahm den Bügel samt weißer Bluse und dunkelrotem Jackett darüber heraus. Im oberen Fach lag ordentlich zusammengefaltet eine rote Krawatte, die farblich mit dem Jackett abgestimmt war. Es lag noch ein schwarzer Bleistiftrock,
ähnlich dem, den ich selbst trug im Schrank, doch ich entschied mich für die Hose, die Rouva mir gereicht hatte. Schnell zog ich mich aus und schlüpfe in die neuen Klamotten, zum Glück konnte ich Krawatten binden. Ich trat vor den großen Spiegel am Ende der Spind-Reihe und erstarrte. Entgegen blickte mir nicht das Mädchen, das heute morgen das Haus verlassen hatte, es blickte mir eine elegante junge Frau entgegen, deren Augen vor Glück strahlten. Ich ging noch einmal die Bankreihe entlang, um den Spind zu schließen und entdeckte das kleine rechteckige Namensschild, das ich mir vorsichtig an die Brust steckte. Mit
geschwungener Schrift stand „Aqua McCall – Praktikantin“ darauf. Ich verbracht die Zeit bis zur Mittagspause wie besprochen am Empfang, wo ich Amanda, einer netten Mittzwanzigerin half, Reservierungen entgegen zu nehmen, Rücksprachen mit Gästen zu halten, Informationsbroschüren zu verteilen und so weiter. Wenn einmal nicht so viel los war, unterhielten wir uns über die Arbeit im Hotel, die Gäste, die hier ein und aus gingen, Amanda´s Freund, der Medizin studierte und ihre Familie, die gar nicht damit einverstanden damit war, dass sie ihr Jurastudium abgebrochen hatte und stattdessen in einem Hotel am Empfang
arbeitete. In meiner Mittagspause schlenderte ich aus dem Mitarbeitereingang aus dem Hotel heraus und vertrat mir ein wenig die Beine auf den Wegen, die durch den großen Park führten. Kurz bevor meine Pause vorbei war, schlenderte ich am Haupteingang vorbei, wo gerade eine schwarze Limousine hielt. Ein Chauffeur öffnete die Tür und schon kam eine etwas kränklich aussehende südländische Frau heraus geschossen, gefolgt von einem sehr gutaussehendem jungen Mann mit blondem Haar. Das Gepäck wurde aus dem Kofferraum geholt und die andere Tür geöffnet. Heraus kam ein wunderschönes Mädchen
mit langen blonden Locken, die in der Sonne golden schimmerten. Ein aufgeregtes Strahlen lag in ihren Augen. Sie konnte nicht viel älter als ich sein, doch sie strahlte eine Autorität aus, die ihr vermutlich durch ihren Reichtum mit der Muttermilch eingeflößt wurde. Der attraktive Mann wartete auf sie und warf ihr einen intensiven Blick zu, der mich erröten ließ, doch sie ignorierte ihn einfach und ging an ihm vorbei Richtung Hotel. Was für eine verwöhnte und eingebildete Göre, dachte ich und ging zurück zu Amanda. Bevor ich mich in der Umkleide wieder umzog und Feierabend machte, klopfte ich an Rouva´s Tür. Wir besprachen den
heutigen Tag und sie gab mir einen Plan mit Aufgaben, die ich morgen erledigen sollte. Wir verabschiedeten uns und ich machte mich auf den Weg nach Hause. Unterwegs entschied ich mich jedoch anders und steuerte auf den Brandon Hill Park zu. Wie zu erwarten war ich allein an meinem Lieblingsplatz, an dem ein kleiner Wasserfall plätscherte und die nicht weit entfernten Menschen, die den Cabot Tower besuchten, von mir abschirmten. Ungelenk ließ ich mich auf einen kleinen Vorsprung nieder, darauf bedacht den Rock nicht schmutzig zu machen. Hinter mir ertönte ein leises Rascheln, Amado tauchte auf und rollte
sich auf meinem Schoß zusammen. Ich streichelte ihn bis er schnurrend einschlief und ließ meine nackten Füße in den kleinen See baumeln. Seufzend lehnte ich mich zurück und stützte mich auf dem linken Arm ab. Meine Gedanken drifteten ab, zurück an letzte Woche, an den Nachmittag, an dem ich auf Danny und Evie aufgepasst und mich geschnitten hatte. Ich konnte noch immer nicht verstehen, was da eigentlich passiert war. Ich hatte mich Amado anvertraut, es mit einem Schulterzucken abgetan und gesagt, es sei vermutlich nur Einbildung gewesen. Doch Amado hatte wild geknurrt und gefaucht, die Augen weit aufgerissen und wie wild mit dem
Schwanz gepeitscht. Zum gefühlt hundertsten Mal hielt ich meine Hand direkt vor die Augen und besah mir die Haut genauer, die nicht die leiseste Spur einer erst kürzlich zugefügten Verletzung aufwies. Plötzlich nahm eine Idee in meinem Kopf Gestalt an. Wenn ich mich wirklich verletzt und anschließend auf unerklärliche Weise geheilt hatte, und es nicht nur meiner Einbildung entsprang, dann müsste ich das doch wieder hinbekommen. Im Moment hatte ich keine Verletzung und auch kein Messer zur Hand, aber ich könnte... ja genau, neben mir entdeckte ich einen scharfkantigen Stein. Ich war nicht besonders scharf darauf, mich
selbst zu verstümmeln, doch meine Neugier besiegte die Furcht und so schnappte ich mir den Stein und drückte ihn mit aller Kraft in meine linke Hand, ich schloss meine Finger darum und zog den Stein mit einer schnellen Bewegung ins Freie. Erschrocken zuckte ich zusammen, sodass Amado aufschreckte und mich böse anstarrte. Ich verbarg meine verletzte Hand vor ihm, spürte wie Blut an ihr herab floss und ballte sie zur Faust, um den Schmerz zu unterdrücken. Amado sprang von meinem Schoß, warf mir einen letzten verärgerten Blick zu, weil ich ihn so unsanft geweckt hatte und verschwand im Gebüsch. Als ich mich vergewissert hatte, dass
Amado auch wirklich weg war und sich auch kein Spaziergänger in meine Nähe verirrt hatte, öffnete ich meine Hand wieder und konzentrierte mich auf die unförmige Schnittwunde, die sich über meine Hand zog. Ich nahm all meine Konzentration zusammen und es passierte... nichts. Natürlich passierte nichts! Wunden heilten nicht einfach so, weil man es wollte, verdammt Aqua! Doch ich erinnerte mich zurück, versuchte mir in Erinnerung zu rufen, was das letzte Mal anders gewesen war. „Natürlich!“ flüsterte ich und wollte meine Hand in das Wasser vor mir strecken, doch ich stieß nur auf eine
feste Mauer. Ungläubig blickte ich zu meinen Füßen und bemerkte erst jetzt den Schmerz, der sich in meinen Beinen ausbreitete. Das Wasser um mich herum war von einer Sekunde auf die andere zugefroren, Kälte stieg in meinem Körper auf und nahm mir die Luft zum Atmen. Ein klägliches Wimmern entfuhr mir als ich versuchte mich zu befreien. Es gelang mir nicht. Verzweifelt suchte ich nach Hilfe, doch ich war allein. Plötzlich verschob sich der Schmerz, intensivierte sich. Gleißende Flammen stiegen an meinen Beinen empor, leckten an meinem Rock, verbrannten meine Haut. Eine Wand aus Feuer warf mich
nach hinten und versengte nun auch die Haut an meinen Armen und im Gesicht. Es riss mich aus dem eisigen Wasser. Keuchend lag ich auf der kleinen Wiese hinter dem kleinem Felsvorsprung, auf dem ich zuvor gesessen hatte. Ein Knacken im Geäst neben mir ließ mich herumfahren. Doch da war nichts als grüne Blätter. Mein Blick wanderte zurück zum See, der nun wieder fröhlich vor sich hin plätscherte. Kleine Eisbröckchen schwammen noch auf der Oberfläche, lösten sich aber in den nächsten Augenblicken vollständig auf. Stöhnend besah ich meinen Körper. Ich war über und über mit Brandblasen
übersät. Meine Haut brannte, meine Kraft verließ mich. Einer inneren Eingebung folgend, zog ich mich zu dem kalten Nass und ließ meinen Arm hinein gleiten. Sofort verspürte ich Linderung. Mit letzter Kraft zog ich mich weiter und glitt nun vollständig in das Wasser, tauchte unter und ließ zu, dass es mich heilte.
Apollinaris Der Prolog klingt gut, das Cover ist auch gut gelungen. :-) Mal sehen wann`s fertig ist! ;-) Simon |
LilaLilime Danke und viel Spaß beim Weiterlesen :) LG Andrea |
Blumenkind Juhuuu, ich kanns kaum erwarten, zu lesen wie es weiter geht! Sprachlich ist es viel besser als die erste Version und dein Cover ist auch toll. Das gibt ein Herzchen von mir. |
LilaLilime Du weißt ja, dass es mir unheimlich viel bedeutet, dass dir meine Geschichte(n) gefällt. DANKE für dein Lob und dass du mich immer unterstützt und ermutigst weiterzuschreiben. :* Du weißt ja schon von der älteren Version wie es ungefähr weitergeht :D Achja und danke für die tolle Inspiration für einen besonderen Namen, ich liebe ihn ^^ |
abschuetze Geh ich richtig in der Annahme, dass die Wächter im Prolog die Prinzessin(?) beschützen sollen? So und dann hab ich ein Lesezeichen gesetzt, um morgen weiter zu lesen :)) LG von Antje |