Träumte sie?
In ihrem kleinen Zimmer war es plötzlich taghell und auf dem Fensterbrett saß … ja da saß eine Fee, ein Engel, ein leuchtendes Sternchen.
Goldene Locken umrahmten ein entzückendes Gesicht mit smaragdenen Augen, einem Stupsnäschen und einem zartrosa Mund. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und an den Spitzen glitzerten kleine Diamanten. Ihr Kleidchen war hauchdünn aus Silber gewirkt. Rund um das Zauberwesen war die Welt in gleißendes Licht getaucht. So strahlte es.
Mit großen neugierigen Augen schaute Serena den nächtlichen Besucher an.
„Bis du eine Fee? Oder ein Engel?“
Ein dünnes melodisches Lachen war zu hören.
„Aber nein, Serena. Mein Name ist Proxima und ich komme von hoch oben. Von den Sternen.“
Staunend saß Serena in ihrem Bettchen.
Ein Stern. Ein richtiger Stern. In ihrem Zimmer. Wow!
„Bist du vom Himmel gefallen so wie die Sternchenschnuppis oder hast du dich verflogen?“, wollte das kleine Mädchen von Proxima wissen.
„Oh nein. Ich bin keine Sternschnuppe und ich bin auch nicht vom Himmel gefallen. Die Venus, unser Abendsternchen hat mich höchstpersönlich zu dir geschickt.
Wir haben gehört, dass du reinen Herzens bist
und mit der ganzen Kraft deiner kleinen Seele an Wunder glaubst.
Proxima hüpfte vom Fensterbrett herunter und setzte sich zu Serena auf das Bett.
„Wir würden dir gern ein Geschenk machen. Wir möchten, dass du dir das 'Kästchen der Wunder' wünschst. Nur so ein Schatz wie du ist dafür auserwählt.“
Serena strich ganz vorsichtig über Proximas Kleidchen, um sich zu vergewissern, dass sie das nicht alles nur träumte. Verwundert legte sie ihr Köpfchen zu Seite und betrachtete das Funkeln des Sterns.
Sie sollte sich ein Kästchen wünschen. Von wem? Warum?
„Aber ich weiß doch gar nicht, was das für ein Kästchen ist. Wie schaut es denn aus? Was
kann denn das Kästchen?“
Proxima nahm die Händchen des kleinen Mädchen in ihre und begann zu erzählen.
Vor langer, langer Zeit, keiner weiß mehr so genau, wann das war, da rief ein Goldschmiedemeister seine Gesellen zu sich. „ Wer von euch dreien das beste Symbol des Lebens schmieden kann, der soll mein Nachfolger werden.“
Der Erste sagte: „ Ich werde eine Eule herstellen. Sie hat ein so freundlichen Äußeres. Ihr weiches Gefieder gibt uns das Gefühl der Geborgenheit. Ihr Gesicht mit den großen Augen und dem kleinen Schnabel erinnert an das eines Menschen. Das alles steht für das Leben. Weil die Eule aber ein
Vogel der Nacht ist und oftmals auf Friedhöfen zu Hause ist, steht es auch als Symbol für den nahenden Tod. Ihr seht also, die Eule verkörpert sowohl Leben als auch Tod.“
Der Zweite sagte: „Ich werde ein Eichhörnchen fertigen. Das Eichhörnchen ist wie alle roten Tiere dem Feuergott geweiht. Es lebt in den Zweigen des Weltenbaumes und springt ständig zwischen den verschiedenen Welten hin und her. Deshalb steht das Eichhörnchen gleichzeitig mit den Elementen Erde, Feuer und Luft in enger Verbindung. Es verkörpert Erdverbundenheit, Fruchtbarkeit und Liebe. So soll das Leben sein.“
Der Dritte hörte die anderen ruhig an und
meinte schließlich: „ Ich werde einen goldenen Lebensbaum erschaffen. Seine Wurzeln verbinden ihn mit der Erde und damit steht er für alles Irdene. Die Krone ragt in den Himmel und stellt damit den Geist dar. Die einzelnen Zweige verkörpern die Familien. Weil der Baum ein ganzes Leben lang wächst, ist er ein Gefährte des Menschen und gibt ihm Halt und Kraft, Orientierung und Motivation. Mein Symbol steht für das Leben.“
So machte sich jeder Geselle an die Arbeit. Als sie fertig waren, brachten sie ihre kleinen Kunstwerke dem Meister, um zu erfahren, wer wohl der Geschickteste unter ihnen sei und damit Meister werden würde.
Der Meister betrachtete sich die Gegenstände
und meinte: „ Jeder von euch hat einen Teil des Lebens durch sein Symbol dargestellt. Die Einheit von Leben und Tod, die Einheit von Leben und Glauben und die Einheit von Leben und Gesellschaft. Aber ihr habt alle die Zeit außer acht gelassen. Ich werde dieses Werk beenden.“
Da fingen die Gesellen an zu lachen. Sie glaubten nicht an Wunder. Wie wollte der Meister ein Symbol für die Zeit finden.
Aber der Meister arbeitete Tag und Nacht an der Vollendung des Werkes. Dann rief er seine Gesellen und zeigte ihnen das fertige Kunstwerk. Er hatte alle drei Symbole zusammengefügt und auf einer kunstvoll gefertigten Schatulle drapiert. Erstaunt betrachtete es ein jeder und dann begannen
sie, die Arbeit des Meisters zu kritisieren. „Wieso ist meine Eule jetzt plötzlich so klein?“
„Und dieses Ding mit den Zeigern soll die Zeit symbolisieren?“
„Ach und was kann dieses Kästchen? Vielleicht musizieren?“
Der Meister jedoch sagte nur ganz ruhig: „Das ist das 'Kästchen der Wunder'. Wer das Wunder des Lebens ehrt, reinen Herzens ist und glaubt, dem wird dieses Kästchen die Zeit der Erfüllung seiner Wünsche anzeigen."
Als die Gesellen das hörten, wollten sie sich auf die Schatulle stürzen, aber ein großer Vogel rauschte heran und trug den Meister mit dem 'Kästchen der Wunder' auf seinen Schwingen davon.
Mit offenem Mund hatte Serena der Geschichte gelauscht.
„Und was ist mit dem Meister und dem Kästchen passiert?“
Proxima schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Das, meine kleine Serena, weiß kein Mensch. Sie wurden nie wieder gesehen. Seitdem suchen wir nach Menschen, die die Bedingungen des Meisters erfüllen. Aber es ist so schwer.“
„Und ich bin so ein Mensch?“, wollte Serena wissen.
„Ja mein Schatz. Wir hoffen es. … Wir hoffen es von Herzen. … So und nun muss ich dich leider verlassen. Du weißt, die Sterne ziehen ihre Bahnen am Nachthimmel und ich muss
weiter.“
Damit gab sie Serena einen Kuss auf die Stirn und verschwand, ehe man sich versah, zum Fenster hinaus in den Nachthimmel. „Warte! Warte! Sehe ich dich wieder?“
Aber Proxima konnte dies schon nicht mehr hören und im Nu war Serena wieder eingeschlafen.
„Serena! Du kleine Schlafmütze! Willst du denn nicht aufstehen? Ich glaube, im Flur steht eine Überraschung für dich.“, hörte Serena ihre Mutter rufen.
Schwups war Serena wach und stampfte mit ihren kleinen nackten Füßen hinaus.
„Mami! Mami! Hast du auch den Stern gesehen? Er saß an meinem Fenster und hat
mir...“
Serena hatte ihre Stiefelchen entdeckt.
„Hui, der Nikolaus!“
Das Sternchen war vergessen und voller Freude und Aufregung schüttete sie ihr Stiefelchen aus. Heraus purzelten Tannenzapfen, ein Weihnachtsmann und ein Schneemann aus Schokolade, viele Nüsse, eine Mandarine, ein roter Apfel und ein kleines in Silberpapier eingewickeltes Päckchen. Mit zitternden Fingerchen zerriss Serena das Papier und zum Vorschein kam eine Spieluhr. Ein Bäumchen mit einer Eule und einem Eichhörnchen drehten sich zur Musik, die aus einem kleinen goldenen Uhrenkästchen erklang, immer dann, wenn Serena morgen aufstehen sollte.
Serenas Augen wurden ganz groß und leuchtend. Dann murmelte sie ehrfürchtig:
"Oh ... das 'Kästchen der Wunder'."