Dunkle Wahrheit
Völlig steif und regungslos stand ich da, lehnte an der kahlen weißen Wand. Ich spürte die Raufasertapete im Rücken, eine Gänsehaut kroch meine Arme hinauf. Doch all das bemerkte ich kaum, denn dort nur wenige Meter entfernt, stand es, die Augen direkt auf mich gerichtet, mein Gesicht aufmerksam musternd, aus ausdruckslosen, jedoch völlig unscheinbaren Augen. Ich versuchte ihre genaue Farbe zu erkennen. War es grün? Blau? Grau?
Es schien wie eine Mischung aus all dem, undefinierbar und unauffällig wie auch die restliche Gestalt. Doch grade das war so
tückisch an ihm, dachte ich. Hinter dem harmlosen Aussehen verbarg sich ein Sturm, bestehend aus Verzweiflung, Angst, Wut und Egoismus, grenzenloser unerbittlicher Egoismus, der jedes Mitleid, jede menschliche Regung in seinem inneren Verschlingen würde, wäre es nur notwendig um sein grenzenloses Bedürfnis nach überschwänglichem Genuss, seiner Gier nach Prestige, seinem Streben nach Macht, nach mehr und mehr Besitz nachzukommen.
Es war nicht verwunderlich, dass es draußen auf der Straße noch nie aufgefallen war, wenn es sich mitten über die belebten Plätze bewegte, sich zwischen Menschenmengen hindurch
schlängelte, schließlich war es inmitten all der Leute so leicht zu übersehen, es pflegte eine sorgfältige Maske, ein so hübsches, falsches, hinterlistiges Lächeln, dass niemand ihm Böses zuzutrauen vermochte. Ich schauderte. „Wie viele gibt es da draußen wohl noch, die so sind wie du?“, sprach ich meinen ersten Gedanken laut aus. Keine Antwort, keine Regung. Nur gegenseitiges mustern, gegenseitiges Abschätzen, voller Abscheu. Die Stille war jedoch Erwiderung genug, ich wusste sie zu deuten. Es gab viel mehr, als ich wissen wollte. Meine Gänsehaut breitete sich aus, ich wandte den Blick zum Fenster, wollte nicht darüber nachdenken. Was
würde es für unsere Welt, unsere Gesellschaft bedeuten, wenn wir dem ins Auge sehen würden? Wenn wir zugeben würden, dass das, was dort vor mir stand und mich in die Abgründe einer Seele sehen ließ, die Realität, gar die Normalität war, die sich längst unter uns breit gemacht hatte? Zögernd blickte ich wieder auf mein Gegenüber, auf meine Füße, erneut gerade aus, zur Wand und schließlich zu ihm zurück. Ich stieß mich von der Wand ab, machte ein paar Schritte nach vorne. Was wollte ich tun? Oder vielleicht war es leichter zu fragen: Was sollte ich tun? Die Antwort erschien automatisch, ganz logisch in meinem Kopf. So etwas, wie das da, sollte es auf
der Welt nicht geben. Eigentlich müsste man es..... Nein! Ich zwang mich den Gedanken zu unterbrechen. Denn ich wollte nicht das tun, was ich eigentlich tun sollte. Ich wollte nicht über all das nachdenken.
Entschlossen machte ich einen letzten Schritt nach vorn, nun standen wir uns direkt gegenüber. Langsam, streckte ich meine Finger aus und berührte schließlich das kalte Glas, das zwischen uns lag. Mein Gegenüber tat es mir gleich. Ich strich über das Gesicht, das harmlose Gesicht, mein Gesicht. Und schließlich zogen sich unserer beider Mundwinkel nach oben, zu einem netten Lächeln, dass
wir der Welt heute wieder zur Schau tragen würden. Mit einem letzten Blick auf mein Spiegelbild verstaute ich die unangenehmen Wahrheiten in den hintersten Tiefen meines Gehirnes. Ich musste los, ich würde sonst den Zug verpassen.
Was mit mir nicht stimmt, fragst du? Alles in Ordnung, ehrlich. Ich bin einfach nur..... ein Mensch, wie Millionen, Milliarden andere.
Und nun Frage dich: Wie ehrlich kannst du zu dir selbst sein? Blick deinem Spiegelbild ins Auge!