Schicksalswege eine Erinnerung
„Geschafft, wir haben `s geschafft! Ich wusste es!“
Hatte ich das wirklich so geschrien? Meine Freundin Elke hielt sich erschrocken die Ohren zu. Wenig später begriff sie und stimmte in den Jubel mit ein, wir lagen uns glücklich in den Armen.
Fast 35 Jahre ist das jetzt her, und doch sah ich uns beide wieder rumhopsen, als mir am Wochenende der kleine Bildband über das Kubangebiet in die Hände fiel. Und eine tiefe Sehnsucht überkam mich nach jenen unbeschwerten Tagen dort am Fluss.
Jedes Jahr fuhren 10 der besten Studenten unserer Sektion der Rostocker Universität nach Krasnodar.Die Stadt dürfte durch die Spiele in Sotschi nicht ganz unbekannt sein, liegt doch nicht weit davon entfernt. Die Studenten waren Gäste des dortigen landwirtschaftlichen Institutes, während 10 russische Studenten zur gleichen Zeit in Rostock weilten. Für den Austausch konnte man sich bewerben, die gesamten 4 Wochen kosteten 200 Mark, das hieß, ein Monatsstipendium war dafür zu berappen.
Meine Freundin Elke sah dieses Unterfangen als sinnloses Experiment an, als ich ihr voller Begeisterung vorschlug, unserer beider Bewerbung zu schreiben. Doch so schlecht schätzte ich unsere Chancen nicht ein und nun hatte es tatsächlich geklappt.
Auf dem Flur des Wohnheimes, wir wohnten
damals alle im gleichen Heim in der Südstadt, trafen wir die anderen Mitfahrer. Blitzschnell hatte sich die Neuigkeit herum gesprochen.
„Oje“, stöhnte Hannes, einer der beiden Jungen, bei der Überzahl an Mädchen, „das wird ja schlimmer als einen Haufen Hühner hüten.“
„Und wer fährt als Betreuer von der Sektionsleitung mit?“
Die Frage war berechtigt, denn ein gutes Verhältnis zum Betreuer entschied schließlich mit über Gedeih oder Verderb der Reise.
„Dr. W.“, hatte Hannes in Erfahrung gebracht. „Ach nein, nicht dieser Langweiler!“
Die allgemeine Begeisterung sank, der kleine rundliche Mann mit der dicken Brille und den
braunen Augen war nicht gerade unser Lieblingsdozent. Zwar musste man seine Kenntnisse auf seinem Spezialgebiet, der Schweinefütterung, durchaus anerkennen, darüber hinaus schienen Dinge wie Witz und Humor, die den Pfiff jeder Vorlesung ausmachten, bei ihm entschieden degeneriert.
Doch bereits am Flughafen Berlin-Schönefeld lernten wir einen anderen Doktor W. kennen, witzig, charmant, zuvorkommend bot er uns sofort das traute „du“ an. „Nennt mich einfach Winni“, plauderte er leutselig. Irgendwie waren wir mit dieser Situation überfordert.
„Ich schlage vor, wir bleiben bei Doc“; konterte Elke, und diesen Vorschlag konnten
alle akzeptieren.
Die Tage in Krasnodar wurden einfach himmlisch, überaus herzliche Gastgeber, die sich ständig um uns bemühten und jede Albernheit verziehen. Vormittags arbeiteten wir auf endlosen Gurkenfeldern, schließlich absolvierten wir ja ein Praktikum. Die Sonne brannte heiß, doch auch ohne Sonnencreme kann ich mich nicht an Sonnenbrände erinnern. Mit den Jungs und den jungen Traktoristen lieferten wir uns gewaltige Gurkenschlachten, bis eine Partei vor Lachen aufgab.
„O, Mann, Mutter“, stellte meine Tochter, die Weitgereiste, neidisch fest. „Wer kann schon von sich behaupten, an ´ner Gurkenschlacht
teilgenommen zu haben.“
Den Doc verschonten wir von solchen praktischen Arbeiten und überließen ihn seinen Institutskollegen. Zum Mittag stieß er wieder zu uns, rechtzeitig zum Schwimmen in den Fluten des Kuban.
Der breite Fluss mit seinem warmen Wasser lud täglich zum Wettschwimmen ein, und auch
wenn der Doc ob seiner Leibesfülle prustend und schnaufend, mit hoch rotem Kopf stets als Letzter auftauchte, er versuchte, mit seinen jungen Studenten in jeder Situation mitzuhalten.
Als Gesprächspartner zeigte er sich überaus belesen mit einem sehr hohen Allgemeinwissen. Es machte einfach Spaß, mit ihm zusammen zu sitzen und zu plaudern oder zu singen.
Wir durchstreiften fast täglich die Stadt, lernten ihre Sehenswürdigkeiten kennen, die vielen Theater, besuchten Krasnodars größte und schönste orthodoxe Kirche.
Ein Gottesdienst begann soeben, ein unvergessliches Erlebnis. Welch ein Prunk von Gold und Edelsteinen im Inneren, und wie einfach, fast schäbig waren die meist alten Menschen bekleidet, die sich da vor dem Popen in den Staub warfen!
Sascha, unser Dolmetscher, blieb lieber draußen, der Doc leistete ihm Gesellschaft.
Sascha meinte, der KGB würde alles beobachten, das könne ihm schaden. Wir glaubten ihm kein Wort. Aber warum blieb der Doc, bekennender Christ und Mitglied der CDU draußen? Seine Antwort klang ausweichend.
Den Tagen auf dem Feld folgte eine Woche
Erholung am Schwarzen Meer, genau da, wo die Ausläufer des Kaukasus ins Wasser fallen. Kein Tourist kam damals in diese Gegend, sie war wild und unberührt und voller romantischer Schönheit mit undurchdringlichem Wald und Lianen und einem kleinen Fluss, dem Pschada, der ins Meer mündete.
In Rotwein und Gewürze eingelegtes Rindfleisch auf dicke Äste gespießt, über Buchenkloben am Lagerfeuer gebraten, dazu alte russische und deutsche Lieder, oja, wir konnten noch singen. Der Mond schien hier viel größer, wenn er im Pschada baden ging und wir mit ihm, FKK, weil`s verboten war.
Zurückgekehrt nach Rostock lud der Doc uns zu einem Abschlussresümee zu sich nach Hause ein. Bilder wurden ausgetauscht, die letzten kulinarischen Mitbringsel vertilgt, es gab natürlich grusinischen Tee.
Ein kleines 10, 12 jähriges Mädchen kletterte auf Papas Schoß. Sie ähnelte dem Vater zum Verwechseln. „Meine Tochter Claudia“, stellte
der Doc sie nicht ohne Stolz vor.
Einige Monate später erfasste uns der raue Wind der Praxis. Jeder übernahm eine verantwortungsvolle Aufgabe in der Landwirtschaft, nur meine Freundin Elke blieb an der Uni, um Ihren Doktor zu machen.
Der Herbst 1989 und die politischen Ereignisse, die er mit sich brachte, gingen auch an keinem von uns Krasnodarfahrern spurlos vorbei.
Als mir Mitte der 90er Jahre die Einladung zum Studententreffen ins Haus flatterte, sagte ich sofort zu und fuhr voller Erwartung in die alte Universitätsstadt, um schon am
Ortseingang festzustellen, dass ich mich nicht mehr zurecht fand.
Den Weg, auf dem wir so oft durch die Gartenanlagen zum Hörsaal gelaufen waren, gab es nicht mehr, stattdessen eine dreispurige Straße. Nach mehreren Umwegen und wiederholtem Fragen fand ich endlich das vertraute Gebäude.
Keiner meiner Mitstudenten arbeitete mehr in seinem Beruf, sie leiteten jetzt einen Supermarkt, waren Versicherungsvertreter, Verkäufer von Futtermitteln, Sparkassenangestellte oder arbeitslos.
Trotzdem, das „Hallo“ war freudig und im Verlauf des Abends wurden auch die Krasnodarbilder hervor geholt.
Da erst fiel es Elke auf. „Weiß jemand, wo der Doc ist? Ich habe ihn heute gar nicht gesehen.“
Hannes konnte uns Auskunft geben. „Nicht lange, nachdem wir weg waren, wurde er zum Professor ernannt.“ Allgemeines Kopfnicken, ja, das hatten wir erwartet.
„Und er wurde 1990 der erste Dekan der neu gegründeten Landwirtschaftlichen Fakultät.“ Wiederum Zustimmung, naja, schließlich hatte er nun das richtige Parteibuch.
„Aber“, fuhr Hannes fort, „nicht sehr lange. Dann stellte man fest, dass er einer der eifrigsten Stasispitzel war. Er verkauft heute Futtermittel.“
Es herrschte betretenes Schweigen, jeder hing seinen Gedanken nach. Was sollten wir
dazu sagen?
„Erinnert ihr euch noch an das kleine Mädchen, seine Tochter? Die ist heute eines von Kohls Ziehkindern, die Bundesfamilienministerin Claudia Nolte.“
Inzwischen sind fast 20 Jahre vergangen, das Leben hielt mehr Umwege als gerade Landstraßen für mich bereit. Ich bin deshalb den weiteren Einladungen nach Rostock nicht mehr gefolgt, der Bezug ist einfach nicht mehr da, musste ich feststellen.
Ich habe inzwischen auch die halbe Welt gemeinsam mit meiner Familie bereist, doch die Tage von Krasnodar gehören nach wie vor zu meinen schönsten Erinnerungen.