Kapitel 23 Kontrolle
Relina führte sie weiter den Hügel hinauf, ohne auf eine von Jiys Fragen zu antworten. Sie hatte mühe, mit ihr Schritt zu halten. Noch immer schmerzte jeder Atemzug leicht. Der Schlag des Magiers musste eine Rippe geprellt haben. Relina wurde erst langsamer, als sie den Waldrand erreichten. Die Bäume wichen am Rand einer Steilklippe zurück, die zu einer kleinen Siedlung hin abfiel. Gut ein dutzend Holzhütten standen um mehrere Felder gruppiert. Kalter Wind, der von der See her über das Land zog, lies sie frösteln. Sie wäre
am liebsten wieder in den Schutz der Bäume zurück gewichen. Aber natürlich war ihr klar, wieso Relina sie hier herauf brachte. Auf der vom Wind blank gefegten Klippe konnte sie niemand verstecken und ihre Stimmen würden vom Sturm überdeckt.
Weit unten konnte die Gejarn das Licht von Fackeln und Feuern erkennen, die sich auf dem nahen Wasser spiegelten. Sie wusste nicht genau, wo sie sich befanden. Der Hafen, oder besser, die Bucht, war von hier aus nicht mehr zu sehen.
,, Also… was ist eben passiert ? Wieso haben eure eigenen Leute euch angegriffen? Und was haben wir damit
zu tun? Ich weiß, dass ihr irgendetwas vorhabt. Und Guillaume wusste es offenbar ebenso.“
,,Ich muss meine Leute zusammenhalten, Jiy.“ Relina blickte über die Klippe hinaus auf die Häuser entlang der Straße. ,,Ich erwarte nicht einmal, das ihr das versteht.“
,, Oh doch. Ich glaube ich verstehe das durchaus. Aber das beantwortet meine Frage nicht wirklich.“
,,Nein,“ , gab die Magierin zu. ,, Wie ich euch bereits sagte. Wir haben noch keine offizielle Regierung. Nur einen Rat bestehend aus mir und einigen anderen, die in Helike das meiste für uns getan haben. Wenn es nach mir ginge,
würde das weitestgehend so bleiben. Jeder sollte seine Chance bekommen, sich dabei zu beteiligen, wie wir unsere Zukunft gestalten und die Macht würde verteilt bleiben.
Einige von uns sind nicht damit einverstanden. Vor allem die anderen Magier. Für sie ist Macht leider alles was zählt. In Helike mussten sie sich verstecken… Jetzt jedoch…“ Sie beendete den Satz nicht, sondern drehte sich zu Jiy um. ,, Ich bin nach wie vor Phönix. Die Stimme der Magier hier und ich kann nicht zulassen, dass es Differenzen gibt.“
,, Sie wollen sich also von euch lossagen
?“
,, Nein, sie wollen die Zukunft von Maras selbst diktieren. Und ihr dürft raten, wer ihnen dabei im Weg steht.“
,, Ihr…“
,, Wenn wir hier Erfolg haben wollen, müssen wir alle zusammen stehen. Wir sind zwar aus dem gröbsten raus, aber nach wie vor kann ein Narr alles zerstören, was wir hier aufgebaut haben. Und ohne mich gäbe es nur wenige, die sich ihnen dabei in den Weg stellen würden. Sie bekämen die alleinige Herrschaft und das werde ich nicht zulassen. Das wissen sie. Wenn ich mich morgen beim Rat durchsetzen kann, ist es vorbei. Wenn wir eine offizielle
Regierung bekommen, werden die Zweifler verstummen. Vor allem, wenn mir Kellvian hilft.“ .
Jiy fragte sich nach wie vor, wie diese Hilfe denn aussehen sollte. Bisher hatte er nur zugesichert, noch einmal zu erklären, das die Zusicherungen, die er Relina schriftlich gegeben hatte, auch immer noch galten. Wie sollte ihr das helfen?
,,Und sie würden das akzeptieren ? Einfach so ?“
,, Sie wissen, dass sich ein paar Abweichler nicht gegen die Entscheidung aller stellen können. Also versuchen sie, genau das zu verhindern. Oder zumindest, das ich darauf Einfluss
nehme…“ Relina seufzte. ,, Ich bin mit diesen Männern und Frauen vertraut, Jiy. Ich bin mit manchen praktisch aufgewachsen, wenn sie als Kinder oder Jugendliche zu uns kamen. Jetzt möchten mich einige davon töten. Ich wünschte nur, dafür gäbe es eine andere Erklärung als die Wahrheit.“
,,Die Wahrheit…“
,, Dahinter steht letztlich nur persönliche Machtgier. Ich wünschte beinahe, ich wäre eine so schlechte Führerin für sie, dass sie mich ausschalten müssten. Das wäre leichter zu akzeptieren. Ich habe gewollt, dass wir alle in Frieden zusammenleben können. Wenn das heißt, dass ich die
Leute erst zu ihrem Glück zwingen muss, dann sei das eben so.“
Jiy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie hatte bis jetzt wenig mit Relina gesprochen, aber eines wusste sie. Die Gejarn verfolgte ihre Ziele, bis sie sie erreichte. ,, Das haben die Archonten vielleicht auch gedacht. Ihr handelt, weil ihr glaubt, das richtige zu tun. Ihr wollt andere benutzen, weil ihr glaubt, das sei eben genau das, das Richtige. Es ist kaum etwas anderes als das, was Zyle getan hat. Und ihr hasst ihn dafür.“
Relina schüttelte den Kopf. ,, Ich hasse ihn nicht, Jiy. Ich weiß nur nicht, ob ich ihm je wieder Vertrauen kann. Er ist… kein schlechter Mann, das weiß ich
selber. Und trotzdem hätte er uns alle beinahe, wenn auch unbeabsichtigt , zum Tode verurteilt.“
,, Manchmal entstehen die schlimmsten Folgen wohl wirklich aus den besten Absichten.“
,, Das habe ich erlebt.“ , antwortete die Gejarn. ,, Und ich hoffe, das mir ein zweites mal erspart bleibt. Morgen wird das alles ein Ende finden. Zumindest ist es ein gutes Zeichen, das sie heute nur zu dritt waren. Und doch, zum ersten Mal Wünschte ich, diese Aufgabe läge nicht bei mir.“
,, Aber ihr habt einen Plan.“ , stellte Jiy fest. Natürlich hatte sie den, dachte sie. Relina hatte es praktisch schon
zugegeben. Nur wie dieser genau aussah…
,, Ein Glücksspiel, wohl eher.“ , korrigierte die Zauberin sie. ,, Es ist gewagt, aber wenn es funktioniert, bin ich meine Sorgen vor morgen Nachmittag bereits los.“
Relina wendete sich zum gehen, Jiy hielt sie jedoch an der Schulter fest. Einen Moment rechnete sie fast damit, die Magierin würde sie einfach abschütteln.
,, Wird das Kellvian in Gefahr bringen ?“ , wollte sie wissen und verstärkte den Druck ihrer Hand. Das war wichtig. Sie würden nicht wieder in irgendetwas hineinstolpern, ohne zu wissen, worauf sie sich einließen. ,, Bitte seid ehrlich.
Wir sind alle oft genug hereingelegt worden. Ich werde euch nicht aufhalten, ich weiß, dass das wichtig ist. Aber ich brauche eine echte Antwort.“
Relina schien sie zum ersten Mal wirklich zu beachten. ,, Nicht, wenn ich es verhindern kann.“ , sagte sie schließlich. ,, Darauf habt ihr mein Wort.“
Jiy nickte der anderen Frau zu. Mehr konnte sie kaum verlangen, auch wenn es das mulmige Gefühl, das sich in ihr breit gemacht hatte, kaum beruhigte. Es gab Risiken, die sie alle immer und immer wieder eingegangen waren. Bevor sie dazu kam, eine weitere Frage zu stellen, hörte sie plötzlich Schritte, die den Weg
herauf kamen. Jemand rannte den Hügel herauf und scheinbar wurde er nicht einmal langsamer, als er die drei Toten auf der Straße passierte. Vielleicht bemerkte sie die zwei Aschehaufen und den dritten im Wald auch einfach nicht. Und es war nicht jemand, sondern zwei Personen…
Relina kam ihr zuvor. ,, Hört ihr das auch ?“
Jiy gab keine Antwort, sondern tastete nur nach ihrem Messer. Wenn man versuchen wollte, Relina los zu werden, musste das wohl noch heute geschehen. Und wer weiß, wen die abtrünnigen Magier diesmal schicken würden. Sie entspannte sich jedoch sofort, als die
beiden Männer schließlich in Sichtweite kamen. Kellvian und Zyle, beide mit gezogenen Klingen und schwer atmend, stolperten auf die Klippe hinaus.
,, Den Göttern sei Dank, es geht euch gut.“ , brachte Kellvian hervor, als er wieder etwas Luft schöpfen konnte. Sie waren offenbar beide den ganzen Weg gerannt.
,, Was ist passiert ?“ , löste Zyle ihn ab. Der Gejarn kam offenbar schneller wieder zu Atem. ,, Wir haben das Feuer entdeckt. Verflucht, ich glaube, die ganze Insel dürfte es gesehen haben.“
Relina sah zu Jiy, mit einem Blick, der besagte, das sie ihr das überlassen sollte.
,,Nichts.“ , erklärte sie. ,, Jiy… ist mir
gefolgt und hatte mich erschreckt. Zum Glück hat der Zauber sie nicht getroffen.“
,,Ihr habt beinahe meine Verlobte getötet und den halben Wald da unten zu Asche verwandelt. Und das nennt ihr nichts?“
,, Es ist niemanden etwas passiert.“ , antwortete Jiy. Relina wollte aus irgendeinem Grund nicht, das Kellvian erfuhr, was hier vor sich ging. Warum ? Ein Teil von ihr wollte sie direkt hier zu Rede stellen, aber… Relina tat was sie tat, um andere zu retten. Oder zumindest war sie davon überzeugt, das es dafür nötig war. Jiy entschied, ihr fürs erste noch zu Vertrauen. Aber wenn es ein
Anzeichen dafür gab, das sie in Schwierigkeiten gerieten, würde sie nicht mehr zögern. Und ein kleiner Teil von ihr war schon neugierig, was morgen geschehen sollte.
Die Zauberin wendete sich zum gehen. ,, Seit morgen früh einfach an der Halle. Es gibt viel zu besprechen.“ Bevor sie jedoch dazu kam, den Pfad hinab zu verschwinden, zuckte sie plötzlich zusammen.
,,Alles in Ordnung ?“ , fragte Zyle. Relina wehrte die hingehaltene Hand ab.
,,Geht schon. Ich brauche nur dringend Ruhe. Irgendwann…“
,, Ich komme trotzdem… besser mit.“ Der Gejarn schien sich zu den Worten
zwingen zu müssen. ,, Natürlich… muss ich nicht, aber…“
,,Hör bitte einfach auf zu stammeln. Es wäre sicher … besser den Weg nicht alleine zu gehen.“ , meinte sie, nur um murmelnd hinzuzufügen : ,, Aber nur damit ich keine weiteren Überraschungen erlebe…“
Außer Jiy hörte wohl keiner der anderen die gemurmelten Worte. Zyle folgte Relina in einigem Abstand den Pfad hinab, bis beide von der Dunkelheit und den Bäumen verschluckt wurden.
Jiy zitterte in der Kälte und fühlte plötzlich wie ihr jemand einen Mantel um die Schultern legte. Kellvian deutete hinaus über die Felswand, in die
Richtung in die der Hafen liegen musste.
,,Besser wir machen uns auch auf den Rückweg.“
Jiy nickte. Es wurde kalt und morgen stand ihnen ein unsicherer Tag bevor.
Cyrus sah zu, wie der Tabakaufglühte. Bei jedem Atemzug des Alten Arztes färbten sich die getrockneten Blätter rötlich. Erik hatte sich auf einem Fass an Deck niedergelassen und sah hinüber zur Insel, deren Küste von Fackeln und dem Licht der Häuser erhellt wurde. Eden stand an der Rehling und Zachary hatte sich gegen einen der Schiffsmasten
gelehnt.
Maras war ein Ort, der sich für die meisten der neuen Bewohner wohl deutlich von den trockenen Steppen und den Ödlanden ihrer früheren Heimat unterschied. Zwar wurde es Nachts immer noch kalt, aber Tagsüber erreichten die Temperaturen nicht mehr das kaum erträgliche Ausmaß, wie in den Wüsten von Laos. Kalenchor konnte nicht zu fern von hier sein, dachte er. Vielleicht ein paar Tage auf See. Vermutlich hatte man den Außenposten des Kaiserreichs dort mittlerweile wieder aufgebaut. Er war selber dort stationiert gewesen… bevor dieser ganze Irrsinn hier begann. Nicht, dass er sich das
ausgesucht hätte, dachte der Wolf. Wenn man von einer tausend Schritte hohen Flutwelle mitgerissen wurde, hatte man dabei kein Mitspracherecht. Aber es hätte schlimmer für ihn ausgehen können. Sehr viel schlimmer.
Erik klopfte die Asche aus seiner Pfeife. ,, Was meint ihr ?“ , fragte er, ,, Werden sie es schaffen ?“
Der Schiffsarzt deutete auf die Insel hinaus.
,, Ich würde beinahe sagen, das haben sie schon.“
,, Sicher… Sie haben viel aufgebaut. Aber genau so schnell kann man auch alles wieder niederreißen. Ich habe das Gefühl, die meisten haben sich ihre
Flucht aus Helike anders vorgestellt. Sagt mir… wie geht es euch Eden ?“
,, Gut.“ , antwortete sie kurz angebunden. ,, Besser.“ , korrigierte sie sich darauf hin. Eine Weile hatte sie versucht, sich abzukapseln, aber das half nichts. Sie hatte noch Zeit, dachte die Gejarn. Wenn auch vielleicht nicht mehr so viel. Trotzdem gab es Dinge, um die sie sich kümmern musste. Sie würde nutzen, was ihr blieb.
,, Gut, natürlich.“ Erik verstaute die Pfeife wieder in seiner Tasche. Man konnte dem Alten nun einmal wirklich nichts vormachen. ,, Ich wollte nur fragen. Nach eurem Sturz…“
,, Es hat kaum einen Zweck euch
anzulügen , oder ?“
Er zwinkerte nur . ,, Ihr kennt mich jetzt lange genug.“
Eden wurde seltsam ruhig. Anstatt etwas zu erwidern sah sie nur, weg von der Insel, auf die See hinaus.
,, Cyrus… sagte sie schließlich, in einem Tonfall, der dem Wolf gar nicht gefallen wollte. ,, Es ist… vielleicht eine dumme Frage. Aber wenn… sollte mir irgendetwas passieren, egal was… du würdest doch auf Zachary achten?“
Er nickte . ,, Selbstverständlich. Aber… dazu solltest du es besser gar nicht kommen lassen, ja?“
,, Vielleicht habe ich irgendwann gar nicht die Wahl. Es… ist nur eine
Frage.“
,, Ich kann durchaus auf mich achten.“ , erklärte Zachary darauf, die Hände vor dem Bauch zusammengefaltet. Es war einer der seltenen Momente, in denen der Junge mit so etwas wie Trotz sprach. Dieser wurde jedoch schnell von einem sanfteren Tonfall abgelöst: ,, Aber du machst dir natürlich Sorgen um mich. Trotzdem… Du kannst nicht ewig ein Auge auf mich haben.“
Es war eine simple Feststellung, nach der der junge Mann wieder in sein übliches Schweigen verfiel.
Aber Cyrus wusste nicht, was er davon halten sollte. Es war ungewöhnlich für Zac. Allerdings war Zac nicht mehr ganz
das halbe Kind, das er einmal, völlig durchnässt, auf dem Deck der Windrufer kennengelernt hatte. Bei den Prüfungen die sie hinter sich hatten und die ihnen noch bevor stehen mochten, würde Eden ihn tatsächlich nicht ewig beschützen können. Und in ein paar Jahren würde er auf eigenen Füßen stehen. Als Erbe von Silberstedt… Cyrus hatte sich bisher wenig Gedanken darüber gemacht, welche Folgen das haben könnte. Und eigentlich wollte er das gar nicht. Von dem, was er von Andre de Immerson bisher gesehen hatte, hoffte er, dass der Junge möglichst wenig davon geerbt hatte. Vielleicht war das der Grund, aus dem Eden ihn manchmal musterte, als
wüsste sie nicht, was sie von ihm halten sollte. Trotzdem änderte das wenig daran dass sie Zac liebte wie einen eigenen Sohn. Und er mochte den Kleinen genauso. Es war ein einfaches Versprechen. Er würde auch ein Auge auf ihn haben, wenn sie ihn nicht darum gebeten hätte.