Kapitel 21 Totgeglaubt
Es war seltsam, plötzlich einem Toten gegenüberzustehen. Relina hatte auf ihre Fragen nur unzureichend Antworten gehabt. Sie wusste offenbar genau so wenig wie sie, wie Zyle überlebt haben könnte. Nur das er es offenbar getan hatte. Jiy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ein Teil von ihr hatte es bis zu diesem Moment auch nicht geglaubt.
Relina hatte sie von der Baustelle weg, zurück zur Küste geführt und von dort aus zu einer Ansammlung von Hütten, die bereits ein kleines Dorf bildeten. So
aufgeregt sie alle jetzt waren, es war schön zu sehen, das die Leute hier ihren Weg fanden. Lore war ähnlich gewesen, dachte Jiy. Weit abgelegen von den größeren Städten, hatten sie das meiste selbst hergestellt oder im Tausch mit den benachbarten Siedlungen erworben. Und sie waren so glücklich geworden.
Sie schob die Erinnerungen bei Seite. Ihre alte Heimat war heute eine verkohlte Ruine, auch wenn sie sich vorgenommen hatte, den Ort eines Tages wieder aufzubauen. Und vielleicht noch mehr. Sie strich Gedankenverloren über den Goldring an ihrer Hand. Nur noch ein paar Wochen, dann würden sie endgültig nach Canton zurückkehren.
Und Kellvian hatte etwas scheinbar Unmögliches geschafft. Frieden mit Laos. Der Krieg hatte in ihrer Kindheit begonnen und war nie wirklich beendet worden. Und jetzt war es einfach so vorbei. Hätte sie Kellvian nicht schon geliebt, sie hätte sich ihm wohl trotzdem genauso verschrieben.
Relina führte sie auf eine einfache Hütte, ganz m Rand der Siedlung zu. Offenbar waren die Bauten hier erst vor wenigen Tagen fertig gestellt worden. Ausgeschaufelte Erde lag herum und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu setzen.
Schon als sie näherkamen, öffnete sich die Tür des Hauses und ein einzelner
Mann trat heraus. Einer, den sie alle nie wieder zu sehen geglaubt hatten. Das schmutzgraue Fell ließ ihn aus einem bestimmten Winkel immer etwas abgerissen wirken.
Zyle Carmine wirkte nicht wie jemand, der grade von den Toten auferstanden war, war aber sichtlich geschockt, sie alle zu sehen. Er trug ein schlichtes grünes Hemd und Hosen, in denen sich Erde und Lehm verfangen hatten.
Und gab es keine Spur davon, dass er einmal tödlich Verletzt worden war. Im Gegenteil. Zyle sah unsicher zwischen ihnen allen hin und her.
,,Das gibt es nicht…“ , murmelte Jiy.
,,Glaubt mir, ich bin genau so verwirrt
wie ihr.“ Das war Zyles Stimme, ganz ohne Zweifel. Der Gejarn sah zu Relina, mit einer Mischung aus Unsicherheit und Verzweiflung. Jetzt verstand Jiy auch, wieso sie ihn unbedingt loswerden wollte. Aus Relinas Sicht, hatte Zyle sie am Hafen in Helike verraten.
Er trat ohne ein weiteres Wort die Stufen vor dem Haus hinab. Einen Moment glaubte Jiy, er würde stattdessen eher in Tränen ausbrechen, dann breitete sich ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht aus. ,,Götter bin ich froh das ihr alle noch am Leben seid. Ich dachte ihr wärt in Helike gestorben….“ Er drückte Jiys Schulter, während er an ihr vorbei auf Kellvian zuging. ,, Was
ist passiert ? Ich… ich kann mich nur noch daran erinnern, das Wys mich verletzt hat. Danach ist da nichts mehr.“
,,Zyle…“ , setzte Jiy an.
,, Geht es sonst allen gut.“
,, Helike ist sicher.“ , meinte Kellvian. ,, Chonar, Cadus… und auch Laos sind jedoch tot. Wys und Jona leben und versuchen grade, die Stadt neu zu ordnen.“
,,Jetzt hat er endlich die Gelegenheit dazu…“ Zyle zupfte sich gedankenverloren am Hemdkragen, als wäre da immer noch der Ansatz des Schnitts, mit dem Wys ihn getroffen hatte.
,,Zyle… du bist nicht nur verletzt
worden.“ , sagte Jiy. Es kostete sie Überwindung, ihre Stimme ruhig zu halten. ,, Wir dachten alle du bist tot.“
,, Ihr wart tot.“ , erklärte Erik überzeugt. ,, Ich meine… wir haben euch alle zusammenbrechen sehen. Ich weiß, das klingt hart, aber selbst wenn ihr da noch am Leben wart… Ihr wärt niemals die Strecke bis zu den Schiffen geschwommen. Und niemand hätte euch hinbringen können. Das ist ein Trick.“
Jiy sah zu dem alten Arzt hinüber. Das meinte er doch nicht ernst.
,, Das ist Zyle, oder nicht ?“ Die Gejarn sah hilfesuchend zu den anderen.
,,Ich weiß es nicht, Jiy.“ , meinte Kellvian unsicher. ,, Erik könnte recht
haben. Trotzdem, selbst wenn... Das ist doch keine Täuschung, er steht vor uns.“ Der Mensch streckte eine Hand aus und stieß Zyle damit vor die Brust, so das er einen Schritt zurück machte. ,, Und ich spüre auch nichts, das auf einen Zauber hindeutete. Zachary, ihr ?“
Der Junge kniff die Augen zusammen, als müsste er sich sehr konzentrieren. ,, Wenig.“ , meinte er schließlich. ,, Aber das habe ich bei Laos auch nicht.“
,,Und ich eben so wenig.“ , murmelte Kell düster.
,,Bei Laos ?“ Relina sah verwirrt von einem zum anderen. ,, Was hat der damit zu tun ? ich dachte er sei Tod…
Wieder.“
,,Laos…“ , setzte Zyle an. Seine Stimme klang jetzt selbst besorgt. ,, War nicht ganz das, was er zu sein schien. Eine Konstruktion, mit seinen Erinnerungen, letztlich aber nicht der eigentliche Mensch. Aber… Das glaubt ihr nicht oder?“
Erik senkte den Blick. Offenbar tat es ihm bereits Leid, das Thema zur Sprache gebracht zu haben. Jetzt jedoch, dachte Jiy, gab es für keinen von ihnen ein Zurück. Sie mussten die Wahrheit wissen, egal, wie diese aussähe. ,, Es gäbe eine Möglichkeit, es herauszufinden.“ , erklärte der Arzt und öffnete die braune Instrumententasche,
die er immer mit sich trug.
,,Ich verstehe.“ Zyle streckte den linken Arm vor, erstaunlich gefasst. ,, Ich muss es ja selbst erfahren. Der Schnitt muss tief sein, Erik. Laos bestand zum Teil immer noch aus Fleisch und Blut. Nur das Skelett nicht.“
,,Das weiß ich.“ Erik nahm ein silbernes, dünnes Messer zur Hand. Die Sonne spiegelte sich auf der Klinge. ,, Wenn ich mich irre und das hoffe ich, wird ich das nachher mit Freude nähen. Das wird wehtun…“
Zyle nickte. Jiy sah zu Kellvian. Es war die einzige Möglichkeit um wirklich sicher zu gehen, das wussten sie beide. Und doch, es war barbarisch. Warum
sagte keiner der anderen etwas dagegen? Cyrus und Eden sahen starr hin. Erik hielt den Blick zwar gesenkt, hatte die Klinge jedoch fest zwischen den Fingern. Zachary wendete den Blick ab, genau wie Relina. Und Kellvian…
,,Verzeiht uns.“ , sagte er leise. Jiy hatte genug.
,, Ihr müsst das nicht tun.“ , erklärte die Gejarn ,, Wir trauen euch auch so, Zyle. Wenn ihr sagt, ihr seid, wer ihr seid… dann glaube ich das meinem Freund.“
Sie spürte beinahe, wie alle bei ihren Worten erleichtert aufatmeten. Es war noch nicht vorbei, aber sie hatte ausgesprochen, was alle insgeheim dachten. Es wäre ein Fehler, so etwas zu
tun. Sie waren über die letzten zwei Jahre alle zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geworden. Wenn sie sich untereinander nicht trauen konnten, wem dann?
Kellvian nickte dem Arzt zu. ,,Erik, nehmt das Messer weg.“
Dieser leistete dem Befehl nur zu gerne folge, brummte etwas Unverständliches und senkte die Waffe. ,, Ehrlich gesagt, ist mir das auch lieber.“
Zyle jedoch, war schneller als der Schiffsarzt. Bevor der Alte die Klinge wieder in seiner Instrumententasche verstaut hatte, riss der Gejarn ihm diese geschickt aus der Hand. Einen Moment schien die Zeit stillzustehen, bevor er
das Messer selbst auf der Haut aus einem Arm ansetzte… und nach unten zog. Er gab keinen Laut von sich, während ein dünner Blutstrom über seine Finger floss.
,,Ich muss die Wahrheit wissen.“ , keuchte er, als er die Waffe fallen ließ. Die Wunde blutete, aber kaum so stark, wie zu erwarten gewesen wäre. Dieses Mal drehten sich alle weg, als sie den Schnitt sahen. Die Verletzung verheilte beinahe beim zusehen, aber was sie sahen, war genug. Unter Gewebe, Muskeln und Adern blitzten Metall und goldene Zahnräder, kaum größer als ein Daumennagel, zwischen denen schwach Kristalle
glühten.
,,Was ist mit mir passiert ?“ Zyle machte einen Schritt rückwärts, in Richtung Haus. Furcht blitzte in den so lebendigen Augen auf.
,,Das wissen wir nicht, Zyle.“ Jiy versuchte, ihre Stimme selber ruhig klingen zu lassen. ,, Aber wir finden es heraus, wir…“
,,Nennt mich nicht so.“ , zischte der Gejarn. ,, Ich bin… Irgendetwas ganz anderes.“
Ja was war er eigentlich, dachte Jiy. Es spielte eigentlich keine Rolle, sagte sie sich. Sie hatte es bei Laos gesehen und jetzt hier wieder. Was ihnen hier gegenüberstand war keine schlichte
Kopie, kein… Nachbau, sondern in fast jeder Hinsicht der gleiche Mann, den sie gekannt hatten. Und doch gab es nur ein einziges Wesen auf dieser Welt, das dazu in der Lage war, die Toten auf eine solch perfide Art zurück zu bringen. Ismaiel, der Magier des Alten Volke, der sich selbst nur als Meister bezeichnete. Ein ganzer Sturm an fragen schoss durch ihren Kopf. Wozu, Wie und… Wann ? Er hatte behauptet, es koste viel Zeit, ein Wesen, wie es Lao gewesen war, zu erschaffen. Aber natürlich hatte er nach seiner Niederlage in der Lebensschmiede nicht lange gezögert. Nur wozu ? Hätte er Kellvian töten wollen, wäre das längst geschehen. Zyle hatte, mit dem Messer
in Händen, direkt neben ihm gestanden.
Jiy brauchte nur in die Gesichter der anderen sehen, um zu wissen, dass sie dasselbe dachten. Sie saßen in der Zwickmühle.
,,Ihr… Ihr könnt mich nicht mitnehmen.“ , erklärte Zyle schließlich. Er schien sich wieder etwas gesammelt zu haben. ,, Verflucht, ihr solltet ein Schwert nehmen und es mir ins Herz stoßen, wenn das etwas bringen würde. Bei den Maschinenkriegern in Helike hat es funktioniert.“
,, Ich habe mich nicht die ganze Zeit zurück gehalten, damit du dich jetzt umbringen lässt.“ Relina sagte zum ersten al etwas. Wie es aussah, nahm sie
das ganze überraschend Gelassen zur Kenntnis. Trotzdem war die Wut in ihrer Stimme jetzt nicht zu überhören. ,, Wenn ich eines weiß, dann das du der selbe Mann bist, den ich in Helike gekannt habe. Was zwar an sich nicht unbedingt etwas Gutes ist, aber…“ Sie stockte, als würde ihr jetzt erst klar, dass sie grade Zyle verteidigte. . ,, Ihr versteht schon, worauf ich hinaus will.“
,, Vielleicht ist das grade der Trick.“ , meinte Kellvian. ,, Er will uns verunsichern. Denkt doch nach, wenn wir allein schon glauben, Zyle nicht mehr trauen zu können, dann lenkt er uns damit besser, als mit irgendetwas sonst ab. Außer natürlich, Zyle, ihr
verspürt plötzlich den Drang, ein Messer zu nehmen und euch damit auf mich zu stürzen. Dann wäre ich euch Verbunden, wenn ihr mir das jetzt mitteilt.“
Zyle lachte, es klang eingerostet und erstarb bald wieder, aber es war echt, daran hatte Jiy keine Zweifel.
,, Nein , was immer ich auch bin… mir hat offenbar kein verrückter, alter Magier befohlen, einen von euch zu töten Offenbar. Trotzdem, ihr könnt mir nicht…“
Cyrus schnitt ihm das Wort ab. ,, Wir werden schlicht vorsichtig sein müssen. Und ein Auge auf euch haben, aber das heißt nicht, dass ihr nicht seid, wer ihr seid. Zyle. Jemand, den ich genau wie
wir alle, als Freund kenne. Solange ihr mich da nicht vom Gegenteil überzeugt…“ Er zuckte mit den Schultern. ,, Solange bleibt es dabei.“ , beendete Eden den Satz.
,,Tut was ihr wollt.“ Relina sah von einem zum anderen. ,, Es kümmert mich wenig, was aus ihm wird. Ich werde für Morgen den Rat zusammenrufen. Ich erwarte euch morgen bei der Halle, Kellvian. Das Gebäude ist zwar noch nicht fertig, aber als Versammlungsort reicht es. Es regnet hier selten.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und hatte es plötzlich eilig, wegzukommen. Jiy und die anderen sahen ihr lediglich einen Moment nach.
,, Ich habe sie verloren.“ , murmelte Zyle leise. ,, Zusammen mit so vielem anderen.“
Jiy antwortete nicht, sondern gab den anderen lediglich ein Zeichen, fürs erste, bei Zyle zu bleiben. Sie musste in jedem Fall mit Relina reden. Nicht nur wegen Zyle. Sie wurde nach wie vor das Gefühl nicht los, das auf dieser Insel noch etwas ganz anderes vor sich ging. Wofür brauchte Relina sie alle hier? Und vor allem Kellvian ? Er hatte recht gehabt. Hier stand mehr auf dem Spiel, als die simple Zusicherung von Rechten, die ohnehin schon festgelegt waren.