Ein schatten deiner selbst
Tag für Tag verfolgte er mich. Ich konnte nichts dagegen tun. Wie oft hatte ich versucht ihn abzuhängen, ihn auszutricksen und ihm Fallen zu stellen. Irgendwann hörte ich auf zu zählen.
Schon als ich klein war, saß ich oft da und beobachtete ihn, wie er mich anstarrte. Ganz direkt und unverhohlen. Meine Befürchtungen, dass er mich eines Tages einholen könnte, dass seine kalten Finger mich berühren und anfassen würden, jagten mir immer wieder kalte Schauer über den Rücken. Und trotzdem streifte er durchgängig durch meine Gedanken. Egal ob ich ihn gerade sah
oder nicht, ob ich draußen auf dem Feld war oder im Haus das Essen zubereitete, er verließ mich nie. Denn auch wenn er nicht zu sehen war, spürte sich seinen kühlen Atem in meinem Nacken und wusste, dass er nur darauf lauerte, wieder zu erscheinen. Manchmal suchte er mich auch nachts heim, wenn ich versuchte, mich in den Schlaf zu wiegen. Dann war er es, der mich wachhielt und mir stundenlang Geschichten erzählte, die ich lieber nicht gehört haben wollte; von verlorengegangenen Kindern und von Stiefmüttern terrorisierten jungen Mädchen, von Wölfen, die Großmütter verschlangen und Hexen, die hinter den schönsten Mädchen, die es gibt, her sind.
Ab und zu waren sie aber auch noch grausamer, die Worte, die er mir zu zuflüsterte. Sie erzählten von Tod und Verderben und den Grausamkeiten, die jeden Tag aufs Neue geschahen.
Doch auch wenn er mir damals ununterbrochen Angst gemacht hatte mit seinen Schilderungen, und mich erschreckt hatte, wenn er mal wieder aus dem Nichts aufgetaucht war, um mich zu verfolgen, habe ich ihn trotzdem zu schätzen gelernt. Er ist ein Teil von mir geworden, den ich für nichts auf der Welt wieder hergeben möchte. Heute schmiege ich mich wohlig an seinen kalten Körper, um der Hitze zu entkommen und genieße seine
nächtlichen Erzählungen, denn die Worte bilden ein filigranes Gerüst aus Zärtlichkeit, das niemand auf den ersten Blick erkennen kann. Der wahrgewordene Albtraum, der er einmal für mich gewesen war, hatte sich in etwas Wunderbares verwandelt: in Vertrauen. Denn an den schönen Tages des Lebens, wenn die Sonne am Himmel steht, ein laues Lüftchen die Haare zerwühlt und die Geräusche der Natur wie Musik in den Ohren klingen, ist er es, der mir den Weg weist, der mich in seiner direkten und unverhohlenen Art auf den richtigen Pfad lenkt und mir hilft, meine Entscheidungen zu treffen. Er ist mein Retter in letzter Not, auf den
ich immer und zu jeder Zeit zählen kann, weil seine Anwesenheit immer spürbar ist und es nicht einen Moment gibt, in dem ich bezweifle, dass er nicht wiederkommt.
Er hat mich verändert, wie nur er es tun konnte.
Er ist der Einzige, dem ich je mein Herz geöffnet habe.
Der Einzige, dem ich voll und ganz vertraue und
der Einzige, dem ich alles erzählen kann, weil er begreift, was ich gerade durchmache. Er ist
der Einzige, dessen Liebe ich verstehe und dem ich all die meine geben kann.
Durch ihn habe ich gelernt, das Leben so
zu leben, wie es ist, und sich immer auf die positiven Aspekte zu konzentrieren. Es gibt sie immer. Egal wie viel Angst und Schrecken jeder Moment bereithalten kann, genauso viel Glück und Freude steckt in jedem von ihnen, wenn man weiß sie zu sehen.
Falls jeder Mensch auf dieser Welt es lernt, seinen persönlichen Verfolger zu lieben, würden alle Ängste und Befürchtungen eines Tages aussterben, doch das wird niemals passieren, da es viel zu viele Schrecken gibt, die ER dir nachts ins Ohr flüstern kann.
Und trotzdem solltest DU der erste sein, der beweist, dass es doch möglich ist!