Kapitel 17 Späher
Syle schirmte die Augen ab, als er den Blick über die nahen Berggipfel schweifen ließ. Die letzten Tage hatten sie das reinste Unwetter erlebt. Schneefall, der manche der Straßen bereits von ganz alleine unpassierbar gemacht hatte. Vor allen die kleineren Pässe wären nach den Schneefällen kaum noch zugänglich. Etwas, das ihre Arbeit um einiges einfacher machte und Syle war allen Göttern dafür dankbar. Die Zeit drängte. Wäre der letzte Pass nicht versiegelt, bis Andres Leute ihn erreichten, hätten sie keine Möglichkeit
mehr ihn aufzuhalten. Die gut achtzig Zauberer und Soldaten, die er mit sich führte, würden nicht einmal ausreichen, die Streitmacht des Herr von Silberstedt eine Minute aufzuhalten.
Heute hatte das Wetter umgeschlagen und die dichten Sturmwolken vertrieben. Aber damit hatte auch der Wind aufgefrischt und hüllte die kompletten Berge in einen eisigen Hauch.
Die Sonne spiegelte sich auf den Eisflächen an den Berghängen und brachte die Schneefelder dazu, wie Kristall zu glitzern. Syle wendete den Blick von der gefrorenen Landschaft ab und sah wieder hinab zur Passstraße, die sich dort zwischen zwei hoch
aufragenden Felswänden hindurch zog. In den letzten Tagen hatten sie über ein dutzend Durchgänge zu verschiedenen Wegen versiegelt, entweder in dem die Magier aus sicherer Entfernung Lawinen ausgelöst hatten , oder er und die anderen Felsüberhänge und Engpässe mit Felsen und Sprengladungen blockiert hatten. Doch jetzt gingen ihnen langsam die Vorräte aus. Sie hatten schon ein dutzend leere Rucksäcke zurück gelassen, in denen sich ehemals Schwarzpulver oder Kristalle befunden hatten. Syle konnte den schwachen Schwefelgeruch trotz der Kälte überall um sich herum wahrnehmen. Er hatte sich ihm in den letzten Tagen praktisch in die Kleider
gebrannt und nun wurde er erneut aufgefrischt, als der Gejarn einen letzten Sprengsatz im Schnee oberhalb des Abhangs vergrub. Die Kälte machte seine Hände taub und er wünschte mittlerweile, sich Handschuhe mitgenommen zu haben. Aber sie hätten es ohnehin bald geschafft, dachte er. Lucien arbeitete derweil mitten im Weg, der zwischen den Felsen hindurchführte. Die Passstraße zog sich gut vierhundert Schritte unter Syle dahin und verschwand zwischen zwei Felswänden, die zu jeweils gegenüberliegenden Gipfel anstiegen. Perfekt für einen Hinterhalt oder eben dazu, den Weg zu blockieren.
Der kaiserliche Agent kletterte geschickt
eine der Klippen herauf und verteilte dabei ebenfalls mehrere der selbstgebauten Sprengsätze. Die Metallröhren schimmerten im Licht der Mittagssonne, während Lucien sie in Felsspalten und rissen verschwinden ließ. Es würde reichen, eine einzige zu entzünden, damit die anderen mit detonierten und die Straße unter Felsen begruben.
Weitere Gestalten machten sich an anderen Stellen der Passstraße zu schaffen oder saßen gelangweilt am Ausgang der Schlucht um dort Wache zu halten. Die meisten der Männer und Frauen waren jedoch nach ihrem tagelangen Gewaltmarsch durch die
Berge erschöpft. Tamyra und Quinn waren derweil damit beschäftigt, die anderen auf Trapp zu halten. Manche der Leute waren kurz davor einzuschlafen. Und sie konnten niemanden zurück tragen.
Syle setzte sich seinen Rucksack wieder auf, den er im Schutz eines Felsens zurück gelassen hatte und stapfte über das Schneefeld in Richtung der anderen. Die Diplomatin kam ihm, das Schwert als Stütze nutzend, entgegen. Ihre roten Haare waren in der weiß-grauen Landschaft einer der wenigen Farbflecken weit und breit.
,, Wir sind fast so weit.“ , meinte sie. ,, Sobald der Pass sicher ist, kann Andre
sehen wie er über die Berge kommt.“
,, Das ist gut. Persönlich hoffe ich, dass wir dann aus der Kälte rauskommen. Wir müssen immer noch zusehen, das wir Kellvian eine Nachricht zukommen lassen. Wir gewinnen hier nur Zeit.“
,, Glaubt ihr denn, er lebt noch ?“ , fragte sie. ,,Nach allem was Kiara uns erzählt hat…“
,, Wenn nicht , weiß ich, wer daran Schuld trägt.“ ,antwortete der Bär nur düster. ,, Dagian hat uns hintergangen. “ Eigentlich wollte er nur noch hinab zur Straße und sich den anderen anschließen. Dort unten wäre es vor allem auch Windgeschützt. Es war ihr Glück, dachte Syle später, das er das nicht gleich tat.
Er drehte sich noch einmal um und sah über die Ebene hinweg, hauptsächlich um festzustellen, wo die Sprengsätze lagen. Sie hatten ein großes Schneebrett abgesteckt, das sich hoffentlich lösen würde, sobald unten auf dem Weg die ersten Detonationen erfolgten. Dann würde der Pass erst mit Steinen blockiert und dann noch mit Schnee aufgefüllt werden. Nur irgendetwas irritierte Syle. Im Norden tauchten mehrere graue Punkte an der Bergflanke auf. Zuerst dachte er noch, seine Augen spielten ihm einen Streich. Dann, das sich vielleicht einige ihrer Leute zu weit entfernt hatten und grade zurückkamen. Aber ein Blick zu Tamyra bestätigte ihm, das das
nicht der Fall war. Sie hatte die Gestalten ebenfalls bemerkt und legte sofort demonstrativ eine Linge auf den Degengriff.
,, Wir bekommen Besuch !“ , rief sie zu den anderen hinab. ,, Beeilt euch, die Schonzeit ist vorbei, wie es aussieht. Das gilt vor allem für euch Lucien.“
Der kaiserliche Agent brachte grade eine weitere Sprengladung an, bevor er sich zu ihnen herumdrehte, mit einer Hand von einem Felsvorsprung baumelnd. ,, Ich kann auch nicht Zaubern. Aber ihr könnt sie ja vielleicht dazu überreden erst noch mit uns Tee zu trinken. Apropos, vielleicht kann euch der Herr Magier da mehr helfen als ich.“ Mit
diesen Worten machte er sich unbeeindruckt wieder an die Arbeit. Der Mann schien mit der Höhe, in der er arbeitete, nicht das geringste Problem zu haben und sprang mit einer Selbstsicherheit über die Felsen, das Syle schon beim zusehen Mulmig wurde. Hauptsache, er passte auf sich auf… und wurde fertig.
Quinn löste sich derweil von den Männern, die den Pass bewachten und rannte die Bergflanke hinauf, um zu ihnen zu gelangen. Einige andere folgten seinem Beispiel, Gewehre und Schwerter in der Hand und stapften durch den Schnee zu den zwei wartenden herauf. Syle ließ die Neuankömmlinge derweil
nicht aus den Augen. Mittlerweile mussten diese sie auch entdeckt haben und tatsächlich beschleunigten sie ihre Schritte. Slye konnte nun bereits ihre Kleidung ausmachten. Graue Wintermäntel und Gewehre, die sie über die Schultern gehängt hatten. Das waren keine Wanderer. Späher, schoss es ihm durch den Kopf. Aber woher kamen die so schnell? Andre oder Erland musste schon vermutet haben, das sie versuchen würden, die Pässe zu blockieren. Und natürlich, dachte Syle, hatte er auch gewusst, dass er mindestens einen halten musste. Also hatte er eine Abteilung vorausgeschickt, die die Gegend sicherte. Vermutlich waren sie über die
Felsflanke hinauf geklettert, die im Norden zum Pass hin abfiel. Eine ganze Armee konnte diesen Weg nicht nehmen, aber das mussten sie ja gar nicht. Diese Männer mussten sie nur aufhalten, bis die Hauptstreitmacht eintraf. Und das hieß, ihre Zeit ging jetzt endgültig zur Neige. Syle zählte die Gestalten rasch und kam auf gut fünfzig bewaffnete Männer, die direkt auf sie zuhielten. Und vermutlich würden ihnen weitere folgen.
Die ersten Schüsse halten von den Klippen wieder und Syle duckte sich mit Tamyra und Quinn hinter die Felsen, wo zuvor sein Rucksack gelegen hatte. Ein Teil von Fenisins Leibgarde und der
Magier ging hinter ähnlichen Hindernissen in Deckung oder ließ sich in den Schnee sinken um wenigstens ein kleineres Ziel zu bieten. Trotzdem entgingen nicht alle der ersten Salve. Syle zählte fünf Wölfe und drei Zauberer, die plötzlich regungslos im sich langsam rot verfärbenden Schnee lagen.
Er fürchtete, bevor dieser Tag zu Ende ging, könnte der gesamte Hang oberhalb der Passstraße die Farbe gewechselt haben.
Die fremden Soldaten wussten, was ihre Gegner vorhatte, da war Syle sich völlig sicher. Und sie würden versuchen es um jeden Preis zu verhindern. Das hieß
wiederum, sie müssten Lucien so lange Deckung geben, bis dieser so weit war. Und hoffen, das Andres Hauptstreitmacht nicht schneller war.
Syle nahm sein eigenes Gewehr vom Schultergurt, kniete sich in den Schnee und zielte um die Kante des Felsens. Andres Späher hatten offenbar vor, den kurzen Moment der Verwirrung zu nutzen, den ihr plötzliches auftauchen ihnen gab und versuchten, Boden wettzumachen. Ohne Deckung stürmten sie über das Schneebedeckte Feld auf die kleine Truppe Verteidiger zu.
Sie hätten es Syle nicht leichter machen können. Er brauchte kaum zielen, drückte ab und der erste der Männer fiel,
den Schnee um sich rasch rot färbend, zu Boden. Tot oder Verwundet, das machte keinen Unterschied für ihn. Jetzt lösten sich auch die anderen aus ihrer Erstarrung und zusammen mit Gewehrfeuer zischten einzelne Zauber in Form von Blitzen oder Flammen über den Schnee. Aber die Zauberer waren müde, dachte Syle bei sich. Und viele von ihnen gehörten nicht wirklich zu den mächtigsten ihrer Zunft. Selbst Quinn konnte lediglich einige Eislanzen heraufbeschwören, die plötzlich aus dem Boden schossen und einigen der Späher den Weg abschnitten oder sie direkt aufspießten.
Eine Kugel prallte am Stein direkt neben
Syles Gesicht ab und schlug scharfkantige Splitter heraus, die ihm die Haut einritzten. Besser als mein Kopf dachte er, bevor er sich wieder in Deckung begab, um nachzuladen.
Tamyra löste ihn ab, eine der alten Musketen aus dem Lager des Ordens in Händen. Er hatte die Diplomatin bisher noch nicht schießen sehen. Sie hielt die Waffe etwas zu hoch… trotzdem, fand die Kugel letztlich ihr Ziel und zerschmetterte einem bereits nahe herangekommenem Graumantel die Kniescheibe. Mittlerweile jedoch, wurde ohnehin jeder der Männer, der sich vorwagte, von Kugeln durchsiebt. Sie könnten ihre Position tatsächlich halten,
dachte Syle bei sich. Zumindest, bis die Hauptstreitmacht eintraf. ,, Seht zu, das ihr fertig werdet !“ , rief er Lucien zu.
Der kaiserliche Agent grinste nur und deutete mit dem Daumen nach oben, als wollte er damit sagen: ,, Nur die Ruhe.“ Manchmal konnte dieser Mann einem an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treiben.
Einige der verbliebenen Späher waren mittlerweile so geistesgegenwärtig gewesen, sich ebenfalls Deckung zu suchen und erwiderten jetzt endlich das gegnerische Feuer. Der Geruch von verbranntem Schießpulver, das Geräusch von Querschlägern und das Schreien von Verwundeten nahmen zunehmend alle
von Syles Sinnen gefangen. Einer von Fenisins Leibwächtern stand, das Gewehr im Anschlag, aus der Deckung auf. Bevor er dazu kam, etwas zu tun, zertrümmerte ihm eine Kugel den Schädel und er fiel zurück in den Schnee. Jetzt ging es darum, welcher Seite zuerst die Munition ausginge, dachte Syle. Wer auch immer es war, würde den Nahkampf eröffnen müssen…
Quinn , in den Schutz der Felsen geduckt, rannte zu ihm und Tamyra hinüber.
,, Wie sieht es aus ?“ , wollte der Zauberer wissen.
,, Ich glaube das wisst ihr schon.“, meinte Tamyra. ,, Nicht so gut. Wir
haben weniger Munition als sie und wenn wir nichts unternehmen, nageln sie uns hier einfach fest. Irgendwann überrennen sie uns.“
Syle wagte sich etwas aus der Deckung und spähte zu ihren Gegnern herüber, die sich über das Geröllfeld verteilt hatten. Es hätte auch nicht einmal einfach sein können, wie ? Aber beschweren half jetzt nichts. Während er sich noch den Kopf darüber zerbrach, wie sie das Blatt noch zu ihren Gunsten Wenden könnten, wurde der Gejarn durch einen lauten Warnruf aufgeschreckt. Einige der Leute, die auf der Passstraße geblieben waren, um Lucien zu unterstützen, riefen beinahe panisch zu ihnen herüber. Auf
die Entfernung verstand er jedoch nur Wortfetzen. Syle zögerte. Er konnte sich nicht zwei teilen.
,, Tamyra… könnt ihr hier mit den anderen die Stellung halten ?“
Sie nickte. ,, Seht ihr nach, was an der Straße los ist… und besser schnell. Und sagt Lucien wenn er sich nicht beeilt lassen wir ihn gleich hier.“ Tamyra lehnte sich, das Gewehr im Anschlag aus der Deckung und schoss. Ein weiterer, in graue Uniformen gekleideter, Söldner brach mit einem Aufschrei zusammen, eine klaffende Wunde in der Schulter. Seine Kameraden ignorierten den Mann einfach, während sie sich wieder weiter vorwagten. Bald wären sie nahe genug
heran, um auch die Schwerter einzusetzen und dann würde das Gefecht erst richtig beginnen…
Syle schätzte die Distanz von sich zur Straße. ,, Gebt mir Deckung“ , wies er Tamyra und die Handvoll Kämpfer an, die sich noch auf dem Hang befanden. Alle nickten. Der Gejarn holte tief Luft. Es war weit und es gab kaum Deckung Wenn man auf ihn schoss könnte er sich nicht Verstecken.
,, Jetzt.“ Rief er und sprang hinter dem Felsen auf, der ihn verborgen hatte. Gleichzeitig erhoben sich auch die anderen und feuerten auf Andres Späher. Syle stolperte den Hang hinab, das Blut rauschte ihm in den Ohren und er
rechnete jeden Moment damit, das ihm eine Kugel die Beine wegriss oder zu Boden warf…
Dann jedoch war er aus dem Schnee draußen und stolperte schwer atmend über die Böschung auf die Passstraße hinaus. Die Männer, die hier geblieben waren, hatten seine Flucht offenbar verfolgt und nahmen ihn sofort in die Mitte, als er in Reichweite war.
,,Was ist passiert ?“ , wollte er wissen.
,, Seht selbst.“ Ein schneeweißer Wolf deutete auf die Passstraße hinaus. Zwischen den Felswänden könnte er nach wie vor Lucien sehen, der sich mit einer Handvoll Helfer abmühte, die restlichen Sprengsätze an ihre Position zu bringen.
Es fehlte immer noch einiges, stellte Zyle fest. Und sie würden es niemals rechtzeitig schaffen, alles zu verteilen, wie ihm nun endgültig klar wurde.
Auf der anderen Seite des Felsdurchgangs näherte sich etwas, das sich wie ein grauer Lindwurm durch den ansonsten grellweißen Schnee schob. Die Kolone aus bewaffneten zog sich so weit er sehen konnte die gesamte Straße entlang. Tausende… zehntausende… Syle wollte sich gar nicht vorstellen wie viele es nun letztlich wäre. Zu viele, das war klar.
Und an ihrer Spitze ritt eine einzelne Gestalt mit schwarzen Haaren, der ein weißer Pelzumhang über die Schultern
fiel. Erland war hier. Und ihre Zeit abgelaufen.