Kapitel 6 Heimkehr
Quinn war sich mittlerweile völlig sicher. Er kannte diese Gegend. Das er die vertrauten Gipfel jetzt von der anderen Seite sah, änderte daran wenig. Der Magier hätte die Form überall wiedererkannt.
Wie alle Mitglieder des Ordens, hatte er einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens in den Mauern der uralten Burg verbracht, die noch von Simon Belfare angelegt worden war. Auch wenn die Zeit schwerer Steinmauern und großer Befestigungsanlagen seit der Erfindung des Schwarzpulvers vorbei war, de
wenigsten Leute, die sich einmal auf den Weg zum Sitz der Magier Cantons gemacht hatten, würden ihn so schnell wieder vergessen.
Noch jedoch, wusste er nicht, ob er sich darüber freuen konnte. Sie waren die ganze Nacht durchgelaufen. Etwas anderes blieb ihnen in der sturmumtosten Einöde hier oben auch nicht übrig. Stehenzubleiben bedeutete den Tod. Und gehen war die einzige Möglichkeit, sich warm zu halten. Im Dunkeln waren sie über die schneebedeckten Berghänge gestapft, bis sie einen halbwegs sicheren Abstieg gefunden hatten. Ein schmaler Felsgrat führte direkt an einer Geröllhalde vorbei, die sich hoch über
ihre Köpfe türmte.
Die blanken Felswände hinab zu klettern war alles andere als einfach. Selbst, als die Sonne sich über den Rand der östlichen Berge erhob, machte das Licht ihren Abstieg kaum einfacher. Eis glitzerte auf in den Fugen der losen Steine und jeder Handgriff war eine Herausforderung. Käme der Schutt einmal ins Rutschen, würde er sie ohne Zweifel allesamt mit sich in die Tiefe reißen. Trotzdem konnte Quinn nichts gegen die seltsam gute Laune ausrichten, die von ihm besitz ergriffen hatte. Als sie tiefer stiegen tauchten aus dem Nebel in den Tälern bereits die ersten Umrisse auf, nach denen er seit Tagesanbruch
gesucht hatte. Er war daheim. Ein seltsamer Gedanke. Einer, den er früher so schnell wie möglich wieder in den hintersten Winkel seines Verstandes gedrängt hätte. Aber nicht mehr. Seit seinem Sturz von jemanden, der sich schon als nächsten Ordensoberen sah zu diesem Augenblick war kein Jahr vergangen. Und was hatte sich geändert? Er hätte es nicht zu sagen gewusst.
Die Ordensburg war vollständig aus dunklem Granit errichtet. Teilweise waren die ursprünglichen Hallen und Mauern sogar direkt aus dem Fels des Berges gebrochen worden, wie er wusste. Der Ort war mit der Zeit gewachsen und in den über 250 Jahren seiner Existenz
stetig den neuen Gegebenheiten angepasst worden. Hatte es nach dem großen krieg, der die alte Dynastie hinweggefegt hatte, nur noch ein gutes Dutzend Zauberer auf beiden Seiten gegeben, so lebten jetzt teilweise hundert oder mehr Männer und Frauen mit magischer Begabung. Von Novizen und simplen Magiern, denen man es überlies, Zauber herzustellen, die im ganzen Kaiserreich verkauft wurden, bis hin zu den Großmagiern, den mächtigsten ihrer Zunft, von denen in jeder Generation vielleicht ein dutzend geboren wurden. Türkisfarbene Flaggen mit dem Zeichen des Ordens, einem goldenen Tropfen, wehten von den
Mauern und Türmen. Das Symbol für Blut. Das Vermächtnis des alten Volkes, das in ihnen weiterlebte. Manche mochten es für Hochnäsigkeit halten und es gab mehr als einen Magier, der sich Aufgrund seiner Begabung für etwas Besseres hielt… verdammt, er selbst tat das ja, dachte Quinn. Aber die wahre Bedeutung dieses Symbols hatte wenig mit Überheblichkeit zu tun. Es war eine Warnung. Das gleiche Symbol fand sich auch auf den türkisfarbenen Umhängen, die alle Magier, egal welchen Ranges, trugen. Ein Erkennungszeichen, das in ganz Canton respektiert und gefürchtet wurde. Jetzt beim Anblick des alten Gemäuers wünschte Quinn sich fast, er
hätte seinen eigenen Mantel nicht zurück gelassen, als er Tamyra und Syle gefolgt war.
Die alten Wehanlagen erfüllten freilich schon lange keinen praktischen Zweck mehr, aber eindrucksvoll waren sie allemal. IM Licht der aufgehenden Sonne schimmerten die Glimmer und Quarzeinschlüsse im Stein wie glühende, rote Augen auf. Als wäre der ganze Ort lebendig. Und nachdem Generationen von Zauberern ihn mit Magie durchwirkt hatten traf das vielleicht sogar zu.
Das Tal, in dem die Burg des Ordens lag, war nur über eine einzige Straße erreichbar, die sich zwischen den aufragenden Felsen hindurchschlängelte.
Ansonsten war der gesamte Ort von Bergen umschlossen, die einen zweiten, natürlichen Schutzwall bildeten.
,, Ihr habt uns zum Orden gebracht.“ , stellte Tamyra beim Anblick der Festung fest. Sie hatten den Abstieg zum Großteil bewältigt und der Vorsprung wurde wieder breiter, so dass sie nicht mehr fürchten mussten, von einem plötzlichen Steinschlag in die Tiefe gerissen zu werden.
,, Ich wusste, das ich die Gegend kenne.“ , erklärte Quinn nur. ,, Und der Sanguis-Orden ist näher als alles andere, oder ?“
,, Wir gehen nicht wirklich da runter, oder ?“ Lucien sah beunruhigt zu den
dunklen Festungsbauten hinab.
,, Was dachtet ihr, was wir vorhaben ?“ , fragte Syle. ,, Wir müsse ohnehin jemanden über Andres Pläne informieren. Dagian oder die Garden müssen Nachricht erhalten, damit sie die Pässe sichern. Der Orden ist dafür so gut wie alles andere.“
,, Oh nein, ohne mich…“ Der Agent machte Anstalten, kehrt zu machen. Tamyra stellte sich ihm in den Weg. Nicht, das das nötig gewesen wäre, dachte Quinn. Nur wieso bitte wollte Lucien nicht zum Orden ?
,, Und wo bitte wollt ihr hin ?“ , wollte die Diplomatin wissen.
,,Überall hin. Ich und der Orden haben
eine… Geschichte, könnte man sagen. Ich habe einmal verhindert, dass sie etwas sehr wertvolles bekommen. Das nehmen die mir bestimmt bis heute Übel.“
,,Ich bezweifle ja, das sich bei dem ganzen Chaos in letzter Zeit noch irgendjemand für euch interessiert, Lucien.“ , meinte Syle und gab dem Agenten einen Schubs vorwärts. ,, Und wenn wir noch länger hier in der Kälte stehen, frieren meine Füße fest.“
Zögernd setzte sich Lucien wieder in Bewegung , zog dabei aber die Kapuze seines Mantels vorsorglich tief ins Gesicht. Ihr Abstieg führte in einer Spirale um den Berg herum, bis der
Hang schließlich an einer Straße mündete. Es musste wohl der Versorgungsweg der Burg sein, dachte Quinn bei sich. Das Pflaster war alt und von den Stiefeln tausender Novizen ausgetreten, die, aus dem ganzen Land zusammengesucht, herauf zur Burg kamen. Der Orden achtete penibel darauf, jeden, der mit der Gabe geboren wurde auch zu finden. Das hieß jedoch nicht, dass ihnen auch nicht wenige entgingen. Zwar hielt der Sanguis-Orden allgemein ein strenges Monopol auf Magie, aber immer wieder gab es auch Berichte über freie Zauberer, die ihre Dienste durch den Orden jedoch nur im Geheimen anbieten konnten. Hinzu kam,
dass ihnen oft die Ressourcen fehlten, die dem Orden zur Verfügung standen. Kristalline Zauber herzustellen , die auch von jenen genutzt werden konnten, die , wie alle Gejarn und die meisten Menschen, über kein eigenes magisches Potential verfügten, erforderte Geschick und hatte im Falle eines Fehlers Katastrophale Auswirkungen, bis hin zum Tod aller beteiligten.
Die Straße, der sie folgten, führte unter einem niedrigen Überhang hindurch, der sich zu einem Tal hin öffnete. Quinn konnte die Zinnen der Ordensburg am anderen Ende sehen. Anders als auf den Berggipfeln schien hier das Frühjahr bereits einzusetzen. Grüne Grasbüschel
sprossen aus der ansonsten noch verödeten Erde und einige Bäume, die entlang des Weges eine Allee bildeten, trieben erste Blätter. Während die vier Gefährten sich auf dem Weg hinauf zur Festung machten, glaubte Quinn bereits, mehrere Gestalten auf den Mauern zu entdecken. Niedere Zauberer, die zum Wachdienst eingeteilt wurden und sich als Schutz gegen die noch kühle Morgenluft die Hände an brennenden Kohlebecken wärmten. Die Tore standen offen, als sie schließlich in Hörreichweite waren. Zwei Zauberer hielten daran Wache und wendeten sich den vier Fremden zu, die sich über den Pfad näherten. Quinn war sich sicher,
dass sie einen seltsamen Eindruck hinterlassen mussten. Syle in seiner mitgenommenen, blauen Gardeuniform , Lucien , der die Kapuze nach wie vor tief ins Gesicht gezogen hatte, aus Angst, erkannt zu werden und Tamyra, in einem zerrissenen Wollmantel und ausgeblichenem Rock. Quinn machte ja selber kaum einen besseren Eindruck, die abgenutzte, schwarze Robe, die er trug verlieh ihm eher den Eindruck eines Bettlers, als das eines Mannes, der sein gegenüber mit einem Gedanken zu Asche verbrennen konnte.
Das die Gruppe vor Waffen starrte trug wohl ebenfalls kaum dazu bei, das die zwei Wächter sich entspannten. Im
Gegenteil. Gewehre, Schwerter, Luciens Armbrust… und er selber trug nach wie vor eine von Falamirs Tränen in der Tasche. Der schwarze, undurchsichtige Stein hatte sich letztendlich als nützlich erwiesen, aber… Götter , er verstand, wieso Kiara ihm das Juwel einfach so anvertraut hatte. Er hatte ihn nur einmal benutzt und doch hätte ihn die Macht beinahe überwältigt. Je eher er ihn los war, desto besser.
,,Willkommen.“ , hielt sie einer der beiden Magier an. ,,Verzeiht, aber was führt euch hierher ?“
,, Man könnte sagen, wir haben uns in den Bergen verlaufen.“ , erklärte Syle. ,, Wir haben eine dringende Nachricht , die
schnellstmöglich General Dagian erreichen muss. Ich hoffe darauf, das der Orden und dabei behilflich ist.“ Mit diesen Worten zog er den Siegelring aus der Tasche, den Kellvian ihm gegeben hatte. Das Wappen des Kaiserreichs, ein Adler und ein Löwe, waren darin eingelassen und funkelten im Licht der Morgensonne golden und silbern.
,,Nachricht…“ Der zweite Magier musterte die abgerissene Gestalt des Bären. Offenbar war er sich unsicher, was er von vier Fremden, einen davon in Gardeuniform und mit dem Wappen des Kaiserreichs halten sollte. ,, Ich schätze, das besprecht ihr am besten mit Kiara.“
, entschied er schließlich. Der Wächter kam wohl zu der Überzeugung, das vier Leute, egal wie stark bewaffnet, kaum eine Bedrohung für eine ganze Burg voller Zauberer sein konnten und trat beiseite.
Kiara… Quinn hielt auf der Torschwelle inne. Eigentlich war er nicht zu wild darauf, die Ordensobere wieder zu sehen. Er hatte sich einmal geschworen, sie bei ihrem nächsten treffen umzubringen. Jetzt jedoch war dieser Gedanke in weite ferne für ihn gerückt. Der Innenhof war für die Jahreszeit überraschend geschäftig. Mehrere Burschen arbeiteten in den Ställen, die sich direkt an die Tore anschlossen. Eigentlich verfügte
der Orden nicht über viele Pferde. Jetzt jedoch standen dort über ein dutzend Tiere, um die sich die Leute kümmerten.
Die jüngeren Zauberer gingen ohnehin lieber zu Fuß und zogen meist in kleinen Gruppen los. Die älteren Zauberer, eine seltene Erscheinung, gingen die Dinge ruhiger an. In der ganzen Burg gab es vielleicht, Kiara eingeschlossen, vielleicht fünf oder sechs Magier, die das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatten. Eine Seltenheit, kam die Begabung zur Magie doch immer mit einem Preis. Jeder Zauber stahl dem Anwender etwas von seiner Lebenskraft und ließ vor allen die Mächtigeren rapide Altern, wenn sie sich
verausgabten. Ein Effekt, der sich durch die Verwendung von Speicherkristallen zwar verringern, aber nie ganz vermeiden, lies.
Normalerweise hatte die Burg jetzt, wo die Pässe vom Winter noch Schneebedeckt und nur stellenweise passierbar waren, nicht viele Besucher.
Ein paar Magier, die sich zum Studium im Hof versammelt hatten, sahen neugierig zu den fremden hinüber. Quinn seinerseits jedoch sah hinauf zu den Fenstern einer der großen Hallen der Festung. Drei Rundbögen mit bunten Glasscheiben darin bildeten dort eine Einbuchtung in der Mauer. Nur der mittlerer war provisorisch mit Brettern
vernagelt worden. Die Stelle, an der er in die Tiefe gestürzt war. Nachdem er Kiara maßlos unterschätzt hatte.
Er sah sich weite rum und entdeckte neben den Zauberern noch eine Gruppe, die hier eigentlich nichts verloren zu haben schien. Gut dreißig Gejarn-Wölfe hatten sich etwas Abseits im Schatten eines Mauerturms versammelt, saßen um ein Feuer oder unterhielten sich in der Clansprache, die Quinn nur unzureichend beherrschte. Den Ton verstand er trotzdem. Die Männer und Frauen aus den Herzlanden waren nervös. Und viele trugen Waffen. Kurzschwerter, Speere und einige auch Feuerwaffen. Das beantwortete zumindest Quinns Frage,
woher die Pferde kamen, auch wenn es einige Überzeugung brauchte, einen Gejarn zum reiten zu überreden. Und was hatten sie hier zu suchen? Dreißig Mann waren zu wenig für einen Stamm und zu viel für eine Reisegruppe.
Einer der Wächter vom Tor bedeutete ihnen, kurz zu warten, bevor er sich von Syle den Siegelring aushändigen lies und in einer der zahlreichen Bauten verschwand, die sich an den Innenhof anschlossen. Vermutlich würde er Kiara den Ring überprüfen lassen und dann mit ihr zurückkehren. Die Siegelringe, die alle kaiserlichen Gesandten trugen, waren durch Magie praktisch Fälschungssicher und jeder, der trotzdem
töricht genug wäre, einen Nachzubauen würde wohl mit dem Tode bestraft. Immerhin machte es einem zum Sendboten Cantons und wies den Träger als jemanden aus, dessen Entscheidungen die volle Rückendeckung des Kaisers genossen.
Quinn wusste nicht, wie lange sie warten mussten. Schließlich jedoch schwang die Seitentür eines Turms auf, der sich an den Hauptbau der Zitadelle anschloss und der Wächter kehrte, drei Gestalten im Schlepptau, zurück.
,, Ich hätte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, das wir uns noch einmal wiedersehen.“ , meinte Kiara Vanir, sobald sie Quinn
erblickte.