Jako
Ich starrte auf die geblümte Tapete vor mir. Am unteren Ende, konnte man noch immer die Striche sehen, die ich dort vor Jahren hin gemalt hatte. Damals, als ich noch Hoffnung gehabt hatte und tatsächlich geglaubt hatte, eines Tages hier heraus kommen zu können.
Wie dumm und naiv ich doch gewesen war.
Niemals würden sie mich hier heraus nicht im Leben nicht. Selbst der netteste Wärter würde es nicht wagen mich frei zu lassen und sich damit für immer zu versündigen. Ihr Boss war der wohl wankelmütigste und brutalste Mensch, dem ich je begegnet war. Und ich war eine Menge Menschen
begegnet.
Rotzlöffeln, Dieben, Firmenchefs, Gangsterbossen, Schauspielern, Sängern und noch vielen mehr. Alle hatten sie Spuren hinterlassen. Sei es eine Erinnerung, die Pippi-Langstrumpf-Radlerhose, die ich bis heute besaß, oder ein Gedicht, dass jemand einmal deklamiert hatte. All das war gespeichert in meinem Gedächtnis und würde für immer dort bleiben. Jeder einzelne Vers des Gedichts, jeder Punkt auf der Radlerhose und jedes einzelne Detail einer Erinnerung. All das nahm mein Gehirn auf und speicherte es. Und ich musste es ertragen, all das zu wissen. Mehr zu wissen, mehr zu behalten, als jeder normale
Mensch.
Und das war auch der Grund, wieso ich nun schon seit bald zwanzig Jahren hier saß, zwischen den geblümten Wänden gefangen.
Gefangen in meinen Gedanken, merkte ich gar nicht, wie die Tür meiner Zelle aufging und jemand hinein geschubst wurde, bis derjenige einen Schrei los ließ.
Erschrocken erwachte ich aus meiner Trance und sprang auf. Was zum Teufel war das denn?
Vor mir auf dem Boden lag ein Junge. Oder ein junger Mann, je nachdem wie man es sehen wollte. Er hatte kurz geschorenes
braunes Haar und dunkle Augen, die mich angstvoll an blickte.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich entsetzt. Meine Stimme war ganz kratzig, da ich sie schon so lange nicht mehr benutzt hatte.
Der Junge sah mich weiterhin unvermittelt an und begann schließlich auf zu stehen und sich den Dreck von seinen Kleidern zu klopfen.
„Das weiß ich nicht.“ Dass er sich plötzlich doch zu Wort meldete, überraschte mich dann
doch.
„Was hast du denn getan? Wegen irgendwas müssen sie dich doch hier her gebracht haben?“
Er dachte nach und schüttelte dann energisch den Kopf.
„Ich hab nichts gemacht. Ich bin einfach nur in die Schule gegangen und auf einmal hatte ich einen Sack über dem Kopf und jetzt bin ich hier.“
„Dann hast du irgendwas gemacht. Milo holt niemanden ohne Grund her. So grausam ist nicht mal er“, sagte ich
bestimmt.
In der langen Zeit, in der ich hier war hatte ich schon viele Gefangene kommen und gehen sehen und alle hatten sie irgendwelche Fähigkeiten, die Milo wollte oder sie bedrohten sein Unternehmen. Die meisten von ihnen arbeiteten inzwischen für ihn. Nur ich nicht. Ich hatte mich geweigert. Und der einzige Grund warum ich noch nicht tot war, war vermutlich dass ich zu wertvoll war um mich einfach zu töten. Milo steckte durch mich in einem ziemlichen Dilemma, da ich der beste Beweis war, dass seine Macht nicht vollkommen war. Es war möglich sich ihm zu widersetzen, auch wenn mich das meine Freiheit gekostet
hatte.
Manchmal, in ganz schwachen Momenten, hatte ich schon überlegt ihnen diese Entscheidung einfach abzunehmen und mich selbst zum anderen Ufer zu befördern.
„Ich hab nie einer einzigen Menschenseele etwas getan und das wird auch so bleiben“, sagte der Junge trotzig und schüttelte wild den Kopf. „Niemand kann mich hier gefangen halten!“
„Ach ja und wie willst du hier raus kommen“, lachte ich gehässig. Ich hatte schon alles versucht, um von diesem Ort zu verschwinden, aber es war mir nie
gelungen.
„Das weiß ich noch nicht aber ich werds rauskriegen.“ Drohend baute der junge Mann sich vor mir auf und zischte wütend. „Muss ja nicht jeder hier drin Depressionen bekommen.“
„Ich hab keine Depressionen“, beschwerte ich mich und sah im tief in die Augen. „Jetzt hör mir mal zu du kleiner Scheißer. Ich hab nichts gegen ein bisschen Gesellschaft, das finde ich hin und wieder ganz angenehm, aber ich hab was gegen Leute, die sich falsche Hoffnungen machen. Das sind nämlich die, die MIR später die Ohren voll heulen. Und das kann ich nicht ab.Und nur zu
Info, es gibt hier keinen Weg raus. Nur einen rein.“
„Wo ein Eingang ist, ist auch ein Ausgang“, schnappte der Junge und entfernte sich dann von mir. Wie es aussah war er beleidigt.
„Aber du musst ja nicht mitkommen. Es zwingt dich ja niemand zu fliehen. Aber genauso wenig kann dich wer zwingen hier zu bleiben.“
In dem Raum, in dem ich nun nicht mehr alleine gefangen war, herrschte nun Stille.
Es war eine ganze Zeit lang still. Mehrere Tag um genau zu sein. Neben meiner alten Strichliste gab es nun eine neue. Die der Jungen. Sie war bisher wenige Striche lang
und so wie es aussah, plante er, sie auch nicht besonders lang werden zu lassen. An meine Liste fügte er auch täglich einen Strich hinzu. Er hatte keine Ahnung, dass ich schon vor Jahren aufgegeben hatte, die Tage zu zählen, die ich schon hier drin war.
Der Jungen war nun schon mehrere Wochen mit mir zusammen gefangen und inzwischen redeten wir viel miteinander. Ich wusste inzwischen, dass er Jako hieß und er kannte meinen Namen. Auch sonst wusste ich einiger über ihn. Über seine Familie, seine Freund und seine Überzeugungen. Ich wusste, dass er fest an seine Flucht glaubte und daran, dass es ihm möglich war. In diesem Fall war er stur wie ein Ochse, auch
wenn er ansonsten sehr wissbegierig war. Er wollte alles wissen. Und ich konnte ihm dieses Wissen geben.
Was ich ihm nie erzählte, war dass mir dieses erste Gespräch, das wir gehabt hatten nie aus dem Kopf ging. Ich dachte oft darüber nach, ob er nicht doch recht hatte und jeder von uns sozusagen ein Recht auf diese Flucht hatte.
Monate später, beschäftigte mich diese Frage immer noch, obwohl Jako das Thema seit einiger Zeit nicht mehr erwähnt hatte. Vermutlich hatte er nach seinen gescheiterten Fluchtversuchen aufgegeben. Ich kümmerte mich auch nicht weiter groß darum, außer dass diese Gedanken immer
noch in meinem Kopf herum spukten. Sie wollten einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden.Durfte man Menschen überhaupt einsperren, sie daran hindern, hin zu gehen wo sie wollten. Und war ich nicht sogar irgendwie dazu verpflichtet mich zu wehren?
Zwanzig Jahre lang hatte ich alles ertragen, was sie mir hier angetan hatten und nun kam ein Junge hierher und schaffte es alles in mir zu ändern.
Jako war inzwischen derjenige, der am Längsten mit mir in einer Zelle war und manchmal kam es mir so vor, als wäre er mein Sohn oder ähnliches, so wichtig war er mir inzwischen
geworden.
Eines Tages, als ich gerade wieder in Gedanken versunken vor mich auf die geblümte Tapete starrte, kam Jako unvermittelt auf mich zu. Er war bis gerade eben verschwunden gewesen, vermutlich hatten sie ihn mal wieder verhört und versucht ihn dazu zu bringen, für sie zu arbeiten. Er beugte sich nah zu mir und hielt seine Hand an mein Ohr.
„Ich hab einen Fluchtplan, der zu einhundert Prozent funktioniert. Ich war grade draußen. Kommst du mit?“
Gedanken schossen wie Pfeile durch meinen
Kopf.
Soll ich mitkommen? Aber wenn sie uns erwischen? Was wenn es nicht funktioniert? Aber eigentlich habe ich doch ein Recht aufmeine Freiheit?
Und was wäre wenn es tatsächlich funktioniert?
Dann wäre ich frei.