Der Wunsch,
einen eigenen Tod zu haben,
wird immer seltener.
Eine Weile noch,
und er wird ebenso selten sein,
wie ein eigenes Leben.
R.M. Rilke
R. und der Tod
Der Kies knirschte unter R.s Füßen, als er langsam durch die Grabreihen ging. Er kam an eine Stelle, an der die Grabsteine zurückwichen, um gerade genug freien Raum für eine Linde zu geben. Unter dieser stand eine Bank, die er nun ansteuerte.
Längst waren die letzten Blätter von der Linde, wie auch von allen anderen Bäumen in der Umgebung, abgefallen. Kahl standen ihre Äste in den nebligen Tag. Wenig einladend war das Wetter für eine Rast. Dennoch ließ er sich auf der
Bank nieder und zog fröstelnd den Mantel enger um seinen Körper.
Sein Blick ruhte auf einem Grabstein schräg gegenüber der Bank. ›Magda‹ war auf dem glänzend schwarz poliertem Stein zu lesen. Und die Jahreszahlen ›1933 - 2012‹.
Zeitlebens gab es für ihn nie den geringsten Zweifel, dass er vor seiner geliebten Magda sterben würde. Schließlich war R. drei Jahre älter. Dass es nun anders gekommen war, das war etwas, das ihn in seinen Grundfesten erschütterte.
Schritte, die sich näherten, schreckten R. aus seinen Betrachtungen. Er sah auf und erblickte einen alten Mann. Weißes Haar, das von einem großen schwarzen Hut bedeckt war. Ein ebenmäßiges, etwas nichtssagendes Gesicht. Elegante, aber unauffällige Kleidung, Schuhe mit für die Witterung zu glänzender Politur und ein für das fortgeschrittene Alter erstaunlich ungebeugter Gang.
»Entschuldigung«, sagte der Unbekannte, den R. hier noch nie zuvor gesehen hatte, »Ist hier noch frei?«
R. nickte und machte mit der Hand eine
einladende Bewegung auf den freien Platz neben ihn. Dennoch kam es ihm merkwürdig vor, dass der Alte gerade seine Bank für eine Rast wählte. Gab es doch in diesem Friedhof mehr als genug Plätze, an denen er ungestört gewesen wäre.
Der Fremde verbreitete einen gepflegten Geruch, der R. entfernt an Weihrauch und Kirche erinnerte. Für einige Minuten saßen sie wortlos nebeneinander und R. meinte eine große Ruhe zu verspüren, die von dem Mann neben ihm ausging.
»Da drüben«, durchbrach er das Schweigen und deutete auf Magdas Grab,
»da liegt meine Frau.« Er hatte diesen Satz eher als Rechtfertigung für seine Anwesenheit auf dieser Bank gedacht und auch als mögliche Einleitung für ein Gespräch mit dem Unbekannten. Der Fremde nickte. »Ich weiß.«
Lange betrachtete R. den Fremden von der Seite. Woher kannte er ihn? Das Gesicht weckte keine Erinnerungen. Und dennoch strahlte der unbekannte Besucher etwas unerklärlich Vertrautes aus, ein Grundverständnis, das Erklärungen überflüssig machte.
»Wie es wohl sein mag, das Sterben?« sagte R. mehr zu sich selbst und dachte
dabei an den Tod seiner Frau.
Der Alte zuckte unmerklich mit den Schultern. »So unterschiedlich, wie die Menschen selbst. Sehen sie den da?«, dabei deutete er auf ein Grab zur Rechten. "Krebs. Fünf Jahre hat er dagegen angekämpft. Operationen. Hoffnungen. Rückschläge. Chemotherapie. Haarausfall. Und letztlich nur mehr Schmerzmittel. Und nicht mal die konnten ihm die letzten Wochen erträglich machen.«
»Oder der dort drüben.«, und dabei zeigte er weit nach links an ein Grab, das noch so frisch war, dass keine
Einfassung gemauert war und vertrocknende Kränze sich auf der Erde stapelten. »25 Jahre. Autounfall. Das Auto zu schnell, die Straße zu nass, die Kurve zu eng. Man hat ihn erst am nächsten Morgen am Fuße der Böschung gefunden. Als es passierte war er im Gedanken bei einem Mädchen. Er hatte nicht mal mehr die Zeit zu erkennen, dass er sterben wird. Beneidenswert.«
»Sie arbeiten in der Bestattung?«
»Sozusagen.«
Wieder schwiegen sie eine Weile, bevor nun der Fremde das Wort ergriff. »Und
dennoch hat jeder Einzelne, der hier liegt«, und dabei machte er eine weit ausholende, den ganzen Friedhof umfassende, Handbewegeung, »ein günstiges Schicksal. Sehen sie sich um. Jeder hat einen Namen. Und jeder hat seinen eigenen Tod.«
Der Fremde streifte sich umständlich die Handschuhe ab. »Es ist hier nicht so, wie in anderen Gegenden der Welt. Gegenden, in denen der Tod seine Ernte mit dem Mähdrescher einbringen muss. Gegenden, in denen der Wunsch nach einem eigenen Grab größenwahnsinnig anmutet. Gegenden, in denen die Menschen zu Hunderten in ein und
derselben Grube verscharrt werden. Namenlos. Schicksalslos. Gestorben für etwas, das es nicht lohnt.«
»Aber was lohnt schon, das Leben zu geben?«, fragte R.
»Die Antwort darauf hängt wohl davon ab, wen sie fragen«, gab der Fremde zurück. »Für den Einen mag es die Freiheit sein. Oder das, was er dafür hält. Für den anderen ein aberwitziger Glaube. Eine Ideologie. Für so manchen ist er einfach Erlösung.«
»Wenn sie allerdings meine Meinung hören wollen: Nichts von all dem lohnt
es, sein Leben dafür einzusetzen. Wie wollte man die Freiheit genießen, wenn man tot ist? Wie wollte man seine Glaubensgrundsätze im Tod bewerten? Die ganzen Geschichten vom besseren Leben nach dem Tode, vom Paradies und was weiss ich noch - vergessen sie es. Fauler Zauber, mit dem man Leichtgläubige instrumentalisiert.«
»Nein«, sagte der Fremde, und schlug dabei mit den Handschuhen nahezu unwirsch gegen seine Handfläche, »Es gibt nur einen guten Grund, zu sterben: Um ein ewiges Leben zu verhindern. Stellen sie sich das vor - nicht sterben können. Zum ewigen Leben verdammt zu
sein. Kann es denn eine schlimmere Strafe geben? Der Tod ist eine Gnade. Nichts, vor dem man sich fürchten müsste. Und dennoch, Wenns ans sterben geht, dann werden sie kleinmütig, die Menschen. Beginnen zu betteln. Ein paar Jahre noch, lieber Tod. Ich habe noch nicht alles erledigt auf dieser Welt, gib mir noch Zeit. Hol doch den anderen da, neben mir.«
Lange saßen die Beiden schweigend nebeneinander auf der Bank. Der Nebel war dichter geworden. Zwischen den Gräbern suchten ein paar Krähen nach Fressbarem. R. musste lächeln. Er wusste plötzlich, mit wem er es zu tun hatte.
Und es schreckte ihn nicht. Es war eher ein Gefühl von nach Hause kommen.
»Ist es Zeit für mich?«
»Wenn sie es wollen?«