Professor Francisco Munoz saß in seinem Lehnsessel in der Bibliothek und wartete auf den Besuch seiner Enkelkinder.
Das Dienstmädchen, Rosaria, klopfte an die Tür: „Professor Ronaldo bittet, empfangen zu werden“.
„Ronaldo, gut, führ ihn herein, kurz“ Schon stand der Besucher im Raum. „Lieber Freund,“ erklärte Francisco statt einer Begrüßung.
„Ich bin gleich wieder weg“, entgegnete der Gast, „ich bringe nur, wie versprochen, die Abhandlung. Fragmentarisch gesehen, interessant, überaus interessant, verehrter Kollege, man sollte sich überhaupt angewöhnen, die Dinge nur im Ausschnitt zu
betrachten.“
„Besten Dank, ich werde es mit ungeteilter Aufmerksamkeit lesen. Sie haben vermutlich recht".
Ronaldo spürte, dass er störte und verabschiedete sich hastig.
Gäste waren selten im Hause Munoz; der alte Herr verbrachte seine Zeit lieber mit seinen Büchern oder literarischen Abhandlungen. Sein Blick fiel auf das Bild seiner hübschen Schwester Maria und stimmte ihn wehmütig, denn sie war erst vor kurzem gestorben. Er überlegte noch, womit er die Kinder unterhalten könnte. Der Gedanke an seine Schwester brachte ihn auf eine Idee. Wieder klopfte
Rosaria und meldete: „Herr Professor, die Kinder!“
“Schick sie rein!“ Schon stürmten fünf Rotschöpfe herein und begrüßten den Großvater stürmisch. Mit „Bitte, setzt euch, Kinder“, gebot der alte Herr Ruhe. Die fünfjährigen Zwillinge Anne und Suse wählten das kleine Sofa, während die drei Schulkinder Raul, Alice und Marfeo sich auf die Samt bezogenen Stühle setzten und zuschauten, wie Rosaria einen Krug Kakao und eine Schale Gebäck auf das Tischchen neben dem Professor aufdeckte. Liebevoll betrachtete Francisco die artigen Kinder, die erwartungsvoll auf die Leckereien blickten und auf das Kommando: „Langt
zu!“ warteten. Als die Köstlichkeiten verputzt waren, fragte der Älteste, Raul, „erzählst du uns wieder von früher, Großvater? Das war so spannend.“
Der alte Herr nickte, er nahm die Brille ab und drehte sie in den Händen. Er deutete auf das Bild seiner Schwester. „Ihr erinnert euch noch an die Tante Maria?“. “Klar“, kam es fünffach. Und Anne rief. „Ich habe sie sehr lieb.“ „Hatte“, korrigierte der Großvater. „Ich erzähle euch jetzt, wie es ihr ergangen ist, als sie nicht viel älter war als ihr, zumindest als du, Raul. Wie sie in ein schlimmes Dilemma geriet.
Maria war gerade 12 Jahre alt, fast noch ein Kind, als sie von zu Hause, ihrem
Dorf in Chiapas nach Mexiko City geschickt wurde, um für Señor Bueno die Hausarbeit zu erledigen. Es war keine fröhliche Kinderzeit für das Mädchen, aber Not litt es nicht. Als Señor Bueno spürte, dass er bald sterben würde, schrieb er ein Zeugnis für Maria.
„Das wird dir eines Tages nützlich sein“, erklärte er, „vorerst verwahre ich es für dich.“
Kaum war Señor Bueno tot, als die Verwandtschaft herbei eilte. Maria erzählte viele Male, dass Sabine, die Enkelin aus Deutschland trotz Trauer den ganzen Tag das blöde Lied “Feuerrot ist Pippi-Langstrumpfs Radlerhose“ grölte.
Still machte Maria sich bereit, das Haus zu verlassen. Ihr erspartes Geld versteckte sie in ihrem BH.
Ihr Zeugnis suchte und fand sie im
Schreibtisch des Verstorbenen, als die Tochter des alten Mannes den Raum betrat, und kreischte: „Hilfe, wir werden beklaut.“
Unbemerkt konnte Maria das Zeugnis zwischen die Falten ihres Rockes schieben.
„Aber sie hat doch gar nicht geklaut“, warf Raul ein. Der Großvater gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
Er fuhr fort:
„Chaos brach los, Menschen liefen zusammen, riefen durcheinander, Hunde kläfften. Der Schrei: ‚Wir werden beklaut!, gellte wieder und wieder durch die Gasse. Ein junger Polizist trat hinzu.
Er packte Maria, führte sie durch die gaffende Menge und schob sie in den Polizeitransporter zu den bereits aufgegriffenen Händlern, die keinen Gewerbeschein vorweisen konnten, und mehreren kleinkriminellen Rotzlöffeln, die wortlos die neue Mitgefangene musterten.
Langwierig war die Prozedur auf der Wache. Die nicht angemeldeten Waren wurden den Händlern abgenommen, die sich in langen Reihen aufstellen mussten. Ein älterer Beamter musterte die Aufgegriffenen. Viele der Gesichter waren ihm vertraut. „Na, Nora, du auch wieder da“, er lächelte zynisch, „du lernst es wohl nie, dir einen
Gewerbeschein zu besorgen“ .So begann er mit der Befragung, die klang, als deklamiere er.“
„Was ist deklamieren?!“, meldete sich die kleine Suse. „Später“, erhielt sie zur Antwort.
„Maria stand wie erstarrt in der Reihe hinter dem schmächtigen Mädchen in einem dünnen, geblümten Kleid, das mit Nora angesprochen worden war. Es antwortete kaum hörbar auf die Fragen, die für sie bereits Routine waren, und wurde durch die Tür abgeschoben. Als der Beamte das Wort an Maria richtete, schrak sie zusammen. Anstatt zu antworten, brach es aus ihr heraus:
„Ich habe nichts gestohlen.“
Der Beamte unterbrach sie. „Mädchen, das wollen wir hier nicht wissen. Das kommt später. Also die Fragen: Name, Adresse, Beruf, vorbestraft?“
„Was ist das?“ fragte sie schüchtern. Schallendes Gelächter.
‚Sie weiß nicht, was vorbestraft ist.
„Ich auch nicht“, kam es von Anne.
„Der Beamte schüttelte missbilligend den Kopf und kritzelte: ‚Nein in diese Spalte. „Du kannst gehen“, brummte er. „Raus?“ fragte Maria hoffnungsvoll. „Nein, in die Zelle.“ Mit hängendem Kopf verließ Maria den Raum. Vor ihr
wurde eine Gittertür geöffnet. Frauen, alte, junge, noch halbe Kinder kauerten am Boden oder lehnten gelangweilt an der Mauer.
Jede Neue wurde gemustert, ob bei ihr etwas zu holen war. Maria tastete sich an die nächste Person heran, setzte sich und versuchte, ihre Augen an das düstere Licht zu gewöhnen. Langsam gelang es ihr, die Gestalten der Frauen zu unterscheiden. Neben ihr hockte das Mädchen Nora, das vor ihr gestanden hatte. Es seufzte leise und veränderte die kauernde Stellung. „Ein Abend ohne Schläge“, murmelte es.
„Bekommt man hier Schläge?“, Maria erschrak.
„Keine Schläge, habe ich gesagt“, korrigierte das Mädchen. „Zu Hause bekomme ich Schläge, wenn ich kein Geld bringe.“
„Dann geh doch nicht heim“, schlug Maria kühn vor.
„Und, wo soll ich hin?“
„Arbeit suchen.“
„Hach, bis du naiv, ohne anständiges Zeugnis geht da gar nichts. Und bei den feinen Herrschaften geht es auch nicht immer friedlich zu“, stieß das Mädchen hervor und knabberte an ihren Haarspitzen. „Weshalb bist du hier?“ „Ich soll gestohlen haben.“
„Kannst du das Gegenteil beweisen?“ „Nein, ich habe nur mein Zeugnis
gesucht und dabei hat die Alte mich erwischt.“
„Das sieht schlecht aus. Du musst mit einer Gefängnisstrafe rechnen“, machte ihr das Mädchen Angst.
„Und du?“, wisperte Maria.
„Ich komme morgen wieder raus. Bei mir fehlt nur der Gewerbeschein. Ich versuchte, jeweils das Geld dafür zu sparen“, erklärte sie und fuhr mit der Hand tastend über den warmen Wollrock von Maria, die leise vor sich hin weinte und murmelte: „Ich habe Angst, Angst, dass ich hier länger eingesperrt werde.
Der alte Herr schob ein: „Maria hätte eine Depression bekommen.
Wisst ihr, was eine Depression ist?“ Raul nickte, Anne rief: „Ich nicht“, bekam aber keine Erklärung.
"Das schmächtige Mädchen rückte etwas näher „Weißt du was?“ und machte einen Vorschlag, „ich kenne mich hier besser aus. Wir tauschen die Rollen. Du bist Rosa Magro und ich die kleine Diebin.“ „Das willst du wirklich für mich tun?“ Maria wischte sich die Tränen weg. „Hast du Geld?“ raunte Rosa ihr zu. „Nein“, schwindelt Maria.
„Na gut, dann tauschen wir wenigstens die Kleider, so fällst du morgen nicht auf.“
Maria wurde wankelmütig, erklärte sich
jedoch einverstanden. „Aber die Beamten“, gab sie zu bedenken, „werden die mich nicht erkennen?“ Sie müsste lügen und sich somit versündigen.Würde ihre Mutter sagen.
“Kaum, wahrscheinlich sind es andere, die rufen die Leute nach den Listen auf. Die Händler kommen immer zuerst dran.“
„Und wie willst du dann hier rauskommen?“ Maria war immer noch skeptisch.
„Das mache ich schon.“ Rosa beschrieb eine wegwerfende Handbewegung.
„Lass das meine Sorge sein“.
Verstohlen betastete sie erneut Marias Rock. Sie hörte Papier knistern. Das Zeugnis? Einen so schönen Rock hatte
sie ihr ganzes Leben nicht gehabt. Voller Vorfreude schlief sie ein, während Maria von Angst geplagt wurde.
Mit einem unsanften Stoß wurde sie vor Tagesanbruch geweckt. „Lass uns die Kleider tauschen. Jetzt ist alles ruhig“, flüsterte Rosa. Mit langsamen Bewegungen streifte Maria ihren Rock ab, zog die Bluse über den Kopf. Rosa schob ihr das dünne Kleid herüber. Es war viel zu eng. Die Knöpfe schlossen nicht.“ Jeder kann sehen, dass es nicht mein Kleid ist“, wisperte Maria.
Ach was“, beruhigte sie Rosa, die um keinen Preis diese Kleidungsstücke wieder hergeben wollte und bot ihr ihr graues, vor Dreck starrendes
Umschlagtuch an. „Schling dir das um den Rücken!“
Gehorsam nahm Maria den Schal und rückte ihn so gut wie möglich zurecht. Sie fror, und die Angst, entdeckt zu wurden, wurde immer drohender. Nur langsam krochen die Stunden dahin. Es schien eine Ewigkeit vergangen, als die Gittertür geöffnet wurde. Mit lauter Stimme verlas der Beamte die Namen: „Edith Ramon, Marina Garcia, Rosa Magro … Rosa versetzte der Nachbarin einen Stoß, dass sie auffuhr und stotterte: „Ich, ich.“ Als Letzte trottete sie hinter den aufgerufenen Frauen aus der Gefängniszelle. Arme und Beine schlotterten vor Angst. Die kleine
Gruppe gelangte über Gänge, treppauf, treppab, hin zu einem düsteren Raum. Ein Beamter thronte hinter einem mächtigen Tisch, er nahm die Liste zur Hand. „Sind die alle wegen Fehlens des Gewerbescheins festgenommen?“ wollte er wissen und schüttelte den Kopf, "die scheint mir unvollständig“. Dennoch entschied er: „Wir entlassen zunächst die, die die Strafe zahlen können. “ Maria tastete nach dem Ausschnitt ihres Kleides. Der Schal rutschte von der Schulter, hastig rückte sie ihn zurecht. “Kann niemand zahlen?“ donnerte die Stimme des Beamten.
„Doch, ich“, meldete sich Maria.
„Dann tritt vor! Wie heißt du?“
„Rosa …“ Maria überlegte krampfhaft, fast hätte sie Riviera gesagt. „Ja, und weiter?“ Der Name war weg, aus dem Gedächtnis ausgelöscht. Der Mann hinter dem Schreibtisch wurde ungeduldig. Er überflog die Liste. „Rosa Magro?“ Maria nickte erleichtert. „Ja, Rosa Magro“, hauchte sie, zerrte den Brustbeutel hervor, entnahm das Geld und schob es über den Tisch. Der Mann nickte zufrieden und kritzelte seine Unterschrift auf den Entlassungsschein. „Du kannst deine Ware am Ausgang abholen. Und lass dich nicht noch einmal ohne Schein erwischen.“ Er machte eine kurze Bewegung mit der Hand, Maria war entlassen. Ganz leise, um nicht noch
aufzufallen, schloss sie die Tür hinter sich, dann rannte sie durch die Gänge. Am Ausgang zeigte sie ihren Schein vor und nahm ein weißes Bündel in Empfang. Neugierig schaute sie hinein. Limonen. Sorgfältig verknotete sie die langen Zipfel des Tuches. Das war nun ihre ganze Habe, ein Bündel Limonen. Unentschlossen blieb Maria stehen, mitten im Strom der Passanten. Ängstlich schaute sie zum Himmel empor. Sie sehnte sich nach ihrem Heimatdorf am Ufer des Usumacinto.“
Hier endete der alte Herr.
„Arme Tante Maria“, rief Alice „und was hat sie dann gemacht?“
„Sie hatte sich mit dem Dienstmädchen im Nachbarhaus angefreundet. Zu der ist sie gegangen. Die Familie hat sie sehr freundlich aufgenommen.“
"Arme Tante Maria, und sie war erst 12 Jahre alt?“ Alice war den Tränen nahe. “Nein, Es war ein paar Jahre später; als ihr das passierte. „Und was hat die Tochter des alten Mannes gesagt, als sie Maria bei den Nachbarn sah“? wollte Raul wissen.
„Davon hat Maria nichts mehr erzählt. „Sie hat sich immer gut versteckt“ meinte Suse. und fuhr fort: „Du wolltest mir noch erklären, was dekla ist“, erinnerte sie den Großvater.
„Richtig, du meinst deklamieren. Das ist,
wenn man spricht, als sage man etwas wie auswendig gelernt auf".
„Großvater, das war eine spannende Geschichte und ein wenig traurig“, bedankte sich Raul „Gibt es noch mehr solcher Geschichten?“
„Ja, aber nicht mehr heute.“ Der alte Herr freute sich, wie aufgeschlossen seine Enkel waren und nahm sich vor, beim nächsten Besuch etwas Ähnliches für die Kinder vorzubereiten. Sie verabschiedeten sich stürmisch.
„Opa Roberto kann nicht so spannend erzählen“, meinte Alice beim Abschied. „Können wir alle wieder kommen?“ wollte Marfeo wissen. „Oder sind wir alle dir zuviel?“
„Kommt ruhig alle. Kämet ihr teilweise, würde mir etwas fehlen,“ Francisco lachte herzlich und dachte an seinen Kollegen Ronaldo und seine Theorie, die Dinge nur stückweise zu betrachten.