Kälte
Er war kalt dieser Winter des Jahres 1919/20. Deutschland hatte vier Jahre geblutet, jetzt stöhnte es unter den Folgen des Krebsgeschwürs, das ´Krieg` hieß. Kriegsopfer mussten versorgt, Kriegsanleihen zurückgezahlt werden. Reparationszahlungen an die Alliierten waren fällig. Die Inflation nahm ihren Anfang und die Krisenjahre der Weimarer Republik zeigten sich schon am Horizont. Zudem wurde in den Nachkriegswirren vieles an die Oberfläche gespült, das besser verborgen geblieben wäre. Anderes wiederum blieb für immer ein Geheimnis.
Davon blieb auch das kleine Dorf im
Havelland nicht verschont. Um genau zu sein, es gehörte noch nie zu den Orten, in denen der Wohlstand zuhause war. Die Mehrheit der Einwohner bestand aus Kleinbauern, die sich dort angesiedelt hatten. Zwei Großbauern sonnten sich in der Fülle ihres Besitzes. Wenige Pächter, deren kleine Häuser sich am Rande des Dorfes duckten, als schämten sie sich des Elends, das in ihnen herrschte, fristeten ihr kärgliches Dasein in dieser ansonsten idyllisch anmutenden Landschaft.
Das kleine Stück Land, nicht größer als ein Handtuch, angrenzend an die Rückfronten der Häuser, wurde tagein und tagaus bewirtschaftet, um das Größtmögliche aus dem kargen Boden herauszuholen. Der
Winter war lang und Mägen wollten gefüllt werden.
Rosa und Gustav hatten viele Mägen zu füllen. Dreizehn Kinder hatte Rosa zur Welt gebracht. Als das zehnte Kind geboren war, murmelte der Pfarrer: „Lieber Gott, ich weiß, dass Du Dich über jedes Deiner Kinder freust. Aber jetzt lass es genug sein.“ Gott hatte nicht zugehört. Neun saßen noch am elterlichen Tisch. Die beiden ältesten Mädchen waren in der zwanzig Kilometer entfernten Stadt in Stellung, der älteste Junge ging bei einem Böttcher in die Lehre. Wilhelm packte kräftig zu. Mistete den Schweinestall aus, stapelte das Holz für den Winter, entsorgte die Bettpfanne der alten
Mutter des Böttchers. Vor zwei Jahren hatte sie der Schlag getroffen, so dass sie ihre Notdurft nicht mehr an dem dafür vorgesehenen Ort verrichten konnte. Er hatte freie Kost und Logis.
Wenn er die Jauchegrube ausgeschöpft und deren Inhalt in Eimern aufs Feld getragen hatte, gab es ein paar Pfennige extra. Zwischendurch erlernte er das Handwerk.
Ein Mädchen hatte nicht die Kraft sich den Unbilden des Lebens zu stellen und starb drei Wochen nach ihrer Geburt. Das hatte nachhaltige Folgen für den nunmehr 14jährigen Josef.
Gustav hatte Glück. Er war auf einem Auge blind. Das Vaterland hatte auf seine Dienste verzichtet. Während des Krieges arbeitete er auf dem drei Kilometer entfernten Gutshof als Schweizer. Dieser Tätigkeit ging er noch immer nach. Der Gutsherr war ein umgänglicher Mensch. Ihm gehörte das Land, das die Pächter im Dorf bewirtschafteten sowie mehrere Hektar Wald. Er bewilligte ihnen ein streng bemessenes Kontingent an Holz, das sie sich im Sommer aus vorgegebenen Regionen des Waldes holen konnten. Dem Sammeln von Reisig stand er großzügiger gegenüber. Der Wald wurde aufgeräumt.
Es reichte um die gute Stube im Winter warm zu bekommen. Die Küche war sowieso warm. Gekocht wurde auf einem Herd mit offenem Feuer. Das war im Sommer belastend im Winter vermittelte die Wärme des rotglühenden Ofenrohrs einen trügerischen Anschein von Behaglichkeit. In den Schlafkammern wärmte man sich gegenseitig. Es war beengt.
Gustav und Rosa waren sogenannte Zugezogene, wie die meisten Pächter. Das war nichts Ungewöhnliches. Auch nicht ungewöhnlich war die Ablehnung, die ihnen von den Alteingesessenen entgegengebracht wurde. Die Kälte, die ihnen entgegenschlug, ließ die Temperatur im Sommer um zwei Grad sinken, im Winter zwang sie sie, ein
Holzscheit mehr in den Ofen zu legen. Sie lernten damit zu leben. Man ging sich aus dem Wege. Schwierig gestaltete sich das für Josef. Er ging niemandem aus dem Wege. Da ihm das Denken schwer fiel und er die Gefahr einer möglichen Konfrontation nicht erkennen konnte, war er oft Zielscheibe für böse Scherze und Schlimmeres. Seine verwachsene Gestalt und eine übergroße Nase beflügelten die pubertierenden Jungen des Dorfes sich die absurdesten Bezeichnungen für ihn einfallen zu lassen. Trotzdem hatte Josef für alle ein Lächeln übrig.
Er war ein lieber Junge, half Rosa immer, wenn sie Hilfe benötigte. Und das war oft.
Vor vier Monaten hatte Gustav es geschafft, Josef als Stalljungen auf dem Gut unterzubringen. Der Gutsverwalter hatte zugestimmt. Die Ställe ausmisten, die Pferde tränken und wenn er anstellig war, sollte er sie auch striegeln dürfen.
Gustav war zuversichtlich. Mit Tieren konnte Josef umgehen. Sie störten sich weder an seinem Äußeren noch an seiner verwaschenen Sprache. Also brachen Gustav und Josef jeden Morgen um fünf Uhr auf und machten sich zu Fuß auf den Weg zum Gutshof. Gustav hatte zwar ein altes Fahrrad. Woher wusste Rosa nicht. Sie wollte es auch nicht wissen. Sie hatte
jedoch einen merklichen Schwund ihres Kartoffelvorrates festgestellt. Er hatte es im letzten Kriegsjahr aus der Stadt mitgebracht. Doch dieses, schon vom Rost gezeichnete, quietschende Vehikel wurde geschont. Es wurde nur benutzt, wenn eines der Kinder krank war und der Doktor im Nachbardorf benachrichtigt werden musste. Außerdem hätte Josef morgens dann allein den Weg gehen müssen. Das musste er schon am Abend. Gustav hatte viele Arbeiten auf dem Gut zu erledigen. Er kehrte erst spät heim.
Wenn sie am Friedhof vorbei waren, nahmen sie die Abkürzung durch den Wald. Der kleine Ort hatte zwar keine Kirche, die gab es im Nachbardorf, aber einen Friedhof. Umgeben von einer eineinhalb Meter hohen
Mauer aus Feldsteinen, hatte die Zahl seiner Gräber nach dem Krieg schnell zugenommen. Auf ihm fand auch die so früh verstorbene Schwester von Josef ihre letzte Ruhestätte. Es war Winter als man sie in ihr kleines Grab legte. Seitdem fürchtete Josef sich vor dem Friedhof.
Er hatte nicht verstanden, warum man sie in die kalte Erde legte. Wenn er auf dem Weg zum Gutshof am Friedhof vorbei ging, drängte er sich immer dicht an den Vater. Der Weg allein zurück am Abend war für ihn eine Tortur. Nachdem er den Wald verlassen hatte, rannte er die Landstraße an der Friedhofsmauer entlang bis er außer Atem den kleinen Hof, sein Zuhause, erreicht hatte. Jetzt im Winter war das noch
komplizierter. Es war dunkel. Durch den Wald zu gehen war nicht möglich. Es blieb nur die Landstraße, die das Dorf mit dem Gutshof verband. Morgens hatte er den Vater neben sich. Am Abend kämpfte er gegen Dämonen. Er war allein.
Die Friedhofsmauer geriet früher in sein Blickfeld und schon setzte die Panik ein. Er rannte und rannte. Das blieb natürlich niemandem verborgen. Besonders die größeren Jungen im Ort spotteten mit bösen Worten.
„He, Zwergnase, bist wohl wieder vor einem Gerippe davon gelaufen?“
Josef konnte mit dem Begriff ´Gerippe` nichts anfangen. Erst wenn er im schützenden Umfeld seiner Familie war,
beruhigte er sich.
„Was ist ein Gerippe?“, fragte er nuschelnd seine Mutter. Rosa fand nicht die richtigen Worte um es ihm zu erklären. Sie machte sich Sorgen. Vielleicht könnte Josef doch mit Gustav gemeinsam den Heimweg antreten. Aber das würde spät sein. Und was sollte Josef so lange auf dem Gut machen? Der Gutsverwalter sollte ihn auf keinen Fall als Störenfried empfinden. Rosa war so froh, dass Josef ein paar Pfennige nach Hause brachte. Und er fühlte sich wohl bei den Pferden. Also blieb alles beim Alten.
Jeden Tag durchlebte Josef die gleichen Ängste und begann sich schon beinahe daran zu gewöhnen.
Doch eines Abends, die Sterne leuchteten, der Mond warf sein kaltes Licht auf die schneebedeckte Landschaft, begegnete ihm auf seinem Heimweg das Böse. Das war es zumindest für Josef. Angestrengt blickte er auf die breite Schlittenspur im Schnee und die Abdrücke von Pferdehufen. Der Gutsherr war unterwegs. Josef hatte den Rappen auf den Hof führen müssen. Angespannt hatte der Knecht. Auch die Hufspuren der Fuchsstute erkannte er. Der Verwalter ritt sie. Sie musste zum Schmied. Ein Hufnagel hatte sich herausgedrückt. Ja, Josef hatte scharfe Augen. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen.Das Thermometer zeigte 14 °C unter Null. Der Wind war eisig. Seine fadenscheinige Jacke, die schon seinem
älteren Bruder einige Jahre mehr oder weniger gedient hatte, bot kaum Schutz vor der Kälte. Er kam um die kleine Biegung, die ihn noch hundert Meter von der Friedhofsmauer trennte. Josef schrie. Gellend.
Auf der Friedhofsmauer wanderte ein Totenkopf langsam in seine Richtung. Seine leeren Augenhöhlen leuchteten. Josef lief und lief ... in den Wald.
Gustav fand Leute aus dem Dorf, die ihm bei der Suche nach Josef halfen. Mit Laternen suchten sie an allen Stellen, die zugänglich waren. Die Dunkelheit und der hohe Schnee behinderten sie jedoch so sehr, dass sie ihr Unterfangen abbrechen
mussten. Bei Tagesanbruch begaben sie sich erneut auf die Suche. Jetzt entdeckten sie Fußspuren im Wald und folgten ihnen. Sie mussten weit gehen und fanden Josef. Sitzend, an einen Baum gelehnt. Erfroren.
An der Friedhofsmauer fand man einen an einem langen Stab befestigten Totenschädel. In ihm eine halb abgebrannte Kerze.
Die größeren Jungen des Ortes sah man für längere Zeit nicht auf der Dorfstraße ihre Späße treiben.
Rosa wurde 98 Jahre alt, Gustav verstarb im 72. Lebensjahr. Ihren Söhnen war kein hohes Alter beschieden, die jüngste Tochter starb mit 86 Jahren, die anderen Töchter überschritten alle das 90. Lebensjahr.
Der Schauplatz der Handlung entspricht nicht dem tatsächlichen Ort des Geschehens.
© KaraList 11/2014
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