Kapitel 1 Regen
Es regnete. Ein seltenes Ereignis für Helike. Kellvian versuchte sich zu erinnern, ob es in den gut drei Monaten, die sie jetzt hier waren überhaupt einmal geregnet hatte.
Das Land seufzte beinahe hörbar auf, als die ersten Wassertropfen auf den aufgeheizten Boden fielen und praktisch sofort wieder verdunsteten. Dunkle Sturmwolken zogen vom Meer her auf und formten das graue Wasser zu mannshohen Wellen, welche die Kaimauern des Hafens überspülten. Die Fluten rissen Asche und kleinere
Trümmer mit sich zurück in die Tiefe, wenn sie sich wieder aus dem Ruinenfeld zurück zogen und brachten das Deck der Windrufer leicht zum schwanken. Die meisten Menschen waren längst von der Straße verschwunden um sich vor dem ehraufziehenden Unwetter in Sicherheit zu bringen. Nur einige der Störrischsten sicherten noch ihre grade erst neu errichteten Häuser gegen Wind und Wasser. Das Feuer hatte viel zerstört, und viele der Ruinen würden wohl so bleiben. Nach den chaotischen Zuständen der letzten Tage und Wochen hatten mehr als nur ein paar Bewohner entschieden, das Helike nicht mehr sicher war und waren aufgebrochen, ihr
Glück woanders zu suchen. Unter den alten Archonten sicher ein Ding der Unmöglichkeit. Aber von den ehemaligen Herrschern der Stadt ruhten nun drei in der Gruft auf dem inneren Stadtring und die überlebenden zwei hatten scheinbar nicht vor, die entstandenen Lücken schnell zu schließen.
Die innere Stadt Helikes erhob sich wie ein Berg im Zentrum der Stadt. Wälle, so hoch, das selbst ein Riese sich davor klein vorkam,
Eine starke Windböe brachte das Schiff unter Kellvians Füßen in Schräglage und ließ einen Schauer eiskalter Tropfen auf ihn niedergehen. An den Stadtmauern
rissen sich einige bunte Fahnen los und tanzten wie Spielzeugdrachen über den Himmel. Der Wind peitschte Kellvian den Umhang um den Körper, als er sich auf den Weg unter Deck machte. Wasser rann die hölzernen Stufen hinab, die in den Bauch des Schiffs führten. Es hatte gedauert, die Windrufer wieder seetauglich zu machen, aber nach dem Verlust aller übrigen Schiffe, die sie einstmals hergebracht hatten, war es ihr einziger Weg zurück. Er schüttelte das Wasser aus seinem Mantel, während er dem flackernden Schein eines Feuers in die Kombüse des Schiffes. Ein einfacherer Raum, in dem neben einigen Stühlen und Tischen auch ein großer,
gusseiserner Herd stand, aus dem bereits Flammen schlugen. Als Kellvian eintrat, stellte er bereits fest, dass er nicht alleine war. Neben einigen von Edens Matrosen hatte sich auch eine Gestalt eigefunden, die am Herd stand und in einem Topf rührte, in dem irgendetwas vor sich hin blubberte. Der Mann zog den Löffel aus der Brühe und probierte, bevor er sich zu ihm umdrehte.
,,Kell. Ist es euch oben auch endlich zu Ungemütlich geworden, ja ?“
Ein paar braune Augen funkelten aus dem faltigen Gesicht. Weiße Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und wurden von einem ebenfalls ausgebleichten Backenbart komplettiert,
der dem Mann das Aussehen gab, ständig unter Spannung zu stehen, wie sie bei einem Gewitter entstand.
Ein blauer Mantel mit Goldknöpfen, der in etwa den Uniformen der kaiserlichen Garde nachempfunden war, viel ihm über die Schultern. Dazu trug er eine große Tasche, in der bei jeder Bewegung Metallklapperte. Chirurgische Messer, Pinzetten und wer wusste, was sonst noch alles.
Wasser tropfte aus dem Stoff auf den Boden und sammelte sich in einer größer werdenden Pfütze zu seinen Füßen. Offenbar, dachte Kellvian, war er nicht der einzige, der sich während des Sturms an Deck gewagt hatte. Aber für Erik
Flemming war das nichts Ungewöhnliches. Soweit Kellvian wusste, hatte ein Teil der Crew den Mann anfangs schon für einen bösen Geist gehalten. Schon alleine wegen seiner Angewohnheit, zu den unmöglichsten Zeiten herumzuwandern. Einige hatten die Abergläubische Furcht vor dem Schiffsarzt wohl bis heute nicht abgelegt.
,, Wenn das so weiter regnet, säuft der Hafen ab.“
,,Gleich nachdem er verbrannt wurde.“ Erik griff in ein Regal über dem Herd und zog ein paar Säcke und Schalen mit Gewürzen hervor, die er nacheinander in die Suppe kippte. ,, Man könnte ja
meinen, die Elemente hätten Sinn für Humor. “
Kellvian nickte und wollte den Arzt wieder seiner Arbeit überlassen. Bevor er jedoch dazu kam, sich an einen der Tische zu setzen, rief er ihm nach: ,, Übrigens, ihr habt nicht zufällig Eden irgendwo gesehen?“
,,Heute noch nicht.“ Warum wollte Erik wissen, wo sich die Kapitänin befand ? Die Windrufer war zwar groß, aber immer noch nur ein Schiff. Niemand konnte sich hier lange verstecken, selbst, wenn er es wollte. ,, Ist etwas passiert?“
,, Wenn ihr von dem Chaos der letzten Monate abseht, nicht. Aber ihr könntet den anderen dann auch Ausrichten, das
wir Essen können.“
,,Verschont uns.“ , lachte er. Erik war zwar ein begnadeter heiler, aber sicher kein Koch. Trotzdem hatte er es sich aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt und den Smutje so lange beschwatzt, bis dieser ihm aus Frust die Küche überlassen hatte. Zum Leidwesen für sie alle…
Der Arzt schnaubte. ,, Ich bekomme das schon hin.“ , schmollte er. ,, Ein bisschen Übung wird ja wohl erlaubt sein.“ Erik war leicht dreimal so alt wie Kellvian, aber in diesem Moment wirkte er mehr wie ein kleines Kind, dem man ein neues Spielzeug wegnehmen wollte.
,, Warum besteht ihr eigentlich darauf ?“
,, Wenn ihr Wochen in staubigen Gewölben verbracht hättet, wäre euch auch nach Ablenkung. Und in dieser ganzen Stadt gibt es im Augenblick nichts für mich zu tun. Nicht einmal ein Matrose mit Schnupfen. Da rostete man ja ein. “
Kellvian schüttelte lediglich den Kopf. ,, Also gut. Ich hole die anderen.“
Der Arzt klatschte in die Hände. ,, Heute hab ich den Bogen raus, Kell, glaubt mir.“
Er schüttelte nur den Kopf, bevor er die Kombüse wieder verlies und sich auf den Weg weiter ins Schiffsinnere machte. Als Kellvian eines der Geschützdecks
passierte, wurde er langsamer. Die Luken für die Kanonen waren geschlossen worden und ließen nur einzelne Strahlen aus grauem Licht herein. Er musste aufpassen, um im Halbdunkel nicht ausversehen über eine der schweren Waffen zu stolpern. Insgesamt besaß die Windrufer über drei Decks wie dieses, jedes vollständig Bestückt mit Geschützen, was sie leicht zu einem der gefährlichsten Schiffe im ganzen Kaiserreich machte. Nur das sie nicht dem Kaiser unterstand. Oder… in gewisser weise zumindest Zeitweise, dachte Kellvian. Am Ende des Decks führte eine weitere Treppe hinab zu den Quartieren, die sich auf halbem Weg
zwischen dem Kielraum und den Zugängen zum Laderaum befanden. Bevor er den Abstieg jedoch erreichte, tauchten von dort zwei Gestalten auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Die erste war ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge. Fast schon ein junger Mann, aber eben auch noch weit vom Erwachsenenalter entfernt. Das erste, was einem auffiel, war die ungewöhnlich blasse Haut, die im Kontrast zu den dunklen Haaren und den türkisfarbenen Augen stand. Er trug einfache Hosen und ein schlichtes weißes Hemd. Auf seiner Brust ruhte, von einer angelaufenen Silberkette gehalten, ein Saphir von der Größe
seiner Handfläche. Der Stein funkelte im Licht, das aus der ausgestreckten Rechten des Jungen hervorbrach und alles in eine brillante Helligkeit tauchte. Der Lichtzauber war nach der Dunkelheit und dem trüben Tag fast schmerzhaft anzusehen. Offenbar wurde dem Jungen rasch klar, dass er Kellvian blendete, den sofort wurde das Strahlen etwas dunkler, als hätte jemand einen grauen Schleier über die Kugel aus Licht gelegt, die über seiner Hand Gestalt annahm. Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge, während er zurückwich, wie, um Kellvian Platz zu machen. Wie seine Ziehmutter, lief er barfuß über die
Planken.
Diese stand im Kontrast zu dem verschüchterten, jungen Zauberer. Eden war eine Luchs-Gejarn. Weißes Fell bedeckten, zusammen mit schwarzen Haaren, ihr Gesicht und Kopf. Sie trug einen roten, mit Goldbrokat besetzten, Gehrock, der für Eden schon mehr ein Markenzeichen als bloße Kleidung geworden war.
Kellvian wusste bis heute nicht, welches seltsame Schicksal sie eigentlich alle zusammengeschmiedet hatte. Nur, das er während ihrer bisherigen Reise sowohl vor dem jungen Magier, als auch vor der Kapitänin der Windrufer einen gesunden Respekt gewonnen hatte.
,, Was treibt euch den hier herunter ?“ , wollte Eden wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein schwaches Lächeln, das leicht spitz zulaufende Zähne erkennen ließ, trat auf das Gesicht der Gejarn.
,, Schlechte Nachrichten.“
,, So schlimm können sie nicht sein.“ , meinte Eden. ,, Immerhin… mein Schiff ist nicht schon wieder am brennen.“
,, Ich fürchte, das ist auch nur eine Frage der Zeit. Erik hat wieder gekocht.“
,,Kellvian, ihr werdet mich besser verflucht gut bezahlen, wenn wir es nach Canton zurückschaffen.“ Eden lachte. ,,
Vor allem wenn dieser wahnsinnige Arzt seine Kochkünste weiter an uns erprobt.“
,, Ihr seid seine Kapitänin. Vielleicht könntet ihr ihm gut zureden.“
,, Erik und auf mich hören ? Das wäre ja wie meinen Großvater herumzukommandieren.“ Und außerdem, dachte Kellvian bei sich, mochte sie den Alten dafür vermutlich zu sehr.
,, Jedenfalls, soll ich allen bescheid geben.“ , erklärte er nur.
,, Der Kaiser Cantons wird von einem verdrehten Knochensäger als Bote herumgeschickt.“ Eden lachte wieder. ,, Ich habe langsam alles erlebt…“
Das stimmte wohl. Manchmal war es seltsam, wenn ihn jemand auf diese Art
daran erinnerte, was er eigentlich war. Der Herrscher Cantons, zumindest von Namen her. Ein Titel, der ihm erst vor einem halben Jahr, nach dem Tod seines Vaters, verliehen worden war. Und nach wie vor fühlte er sich alles andere als Wohl damit. Das Herzland Cantons lag vielleicht eine wochenlange Seereise entfernt von hier… für ihn schien das jedoch trotzdem noch zu nahe. Er hatte die Krone selbst gewählt, ermahnte er sich wieder. Das hieß aber nicht, dass er sich danach sehnte, sich weiter mit dem Adel herumzuschlagen, der in der Heimat auf ihn wartete. Aber er würde sich dem Stellen. Und er wäre ja nicht völlig alleine, oder? Der Gedanke
munterte ihn etwas auf.
,,Ich treffe euch nachher in der Messe ?“ , fragte Kellvian
Eden nickte. ,, Uns bleibt ja wirklich keine Wahl. Ich bringe Cyrus mit. Und falls ihr noch Jiy sucht, ich habe sie eben unten bei den Quartieren gesehen.“
,, Wo steckt der Wolf eigentlich ?“
,,Schläft noch.“ , erklärte Eden, bevor sie sich mit Zachary auf den Weg über das Geschützdeck in Richtung Küche , machte. ,, Neben diesem Mann könnte noch ein Sprengsatz detonieren und er würde es nicht einmal merken.“
,, Das kann ich mir vorstellen.“ , meinte Kellvian, als er sich verabschiedete und selber weiter im
Schiffsinneren verschwand. Die Mannschaftsquartiere waren eine Reihe in die Bordwand eingelassener Räume, die nur durch einen schmalen Gang voneinander getrennt wurden. Der meiste Platz auf dem begrenzten Deck ging für die Räume selber verloren, trotzdem wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, einen davon Geräumig zu nennen. Der Großteil der Crew zog es, sofern das Wetter es zuließ, ohnehin vor, an Deck oder im offenen Laderaum zu schlafen, wenn dieser nicht belegt war. Kellvian brauchte nicht lange nach Jiy zu suchen. Nur eine der Türen im Gang stand offen und er klopfte kurz an, bevor er eintrat. Der Raum war spärlich
eingerichtet, wie die übrigen Quartiere. Ein Bett in einer Nische, eine Truhe für Habseligkeiten und ein kleiner Schreibtisch, dessen Schubladenschlüssel sicher in seiner Tasche ruhte. Was vermutlich auch besser so war, wenn er Jiys Neugier bedachte. Nicht, das es etwas gab, das er ihr verheimlichen musste. Aber wenn sie die Ringe entdeckte, die sich dort verbargen würde das die Überraschung ruinieren. Er hatte sich geschworen, nur zu warten, bis sich alles etwas beruhigte. Nun, eine bessere Gelegenheit würde er wohl kaum erhalten.
Sie stand an einem kleinen, verglasten Fenster in der Schiffswand und sah auf
die aufgewühlte See hinaus. Manche Der Wellen waren immer noch hoch genug, um gegen das Glas zu schlagen. Die Gejarn besaß einen grauen Pelz, der fast mit ihrer, in derselben Farbe gehaltenen, Kleidung zu verschmelzen schien. Lediglich einige weiß-schwarze Flecken darin zerstörten die Illusion. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt und ließ Ohren und Schweif hängen. Kellvian kannte Jiy jetzt lange genug um zu wissen, wenn sie sich über irgendetwas Gedanken machte, so wie jetzt.
,,Stimmt etwas nicht ?“ , fragte er leise um sie nicht zu erschrecken. Sie drehte sich zu ihm um, ein verhaltenes Lächeln
auf den Lippen. Kellvian sah sich zwei grünen Augen gegenüber, die ihn von Anfang an fasziniert und vor allem einmal zu Tode erschreckt hatten. Die Leopardin schien nicht sicher, wie sie anfangen sollte.
,, Ich mache mir wohl zu viele Sorgen über das, was Feryakin gesagt hat.“
,,Du meinst außer Rätseln, die uns zu viel Zeit gekostet haben ?“ , versuchte er es abzutun. Dennoch, ganz konnte er über die Worte des Drachen nicht hinweg kommen. Er hatte gemeint, das Bruchstück des alten Volkes in ihm, wäre nicht der einzige Grund, wäre nur ein Teil der Dunkelheit in ihm. Und insgeheim fürchtete er, dass es der
Wahrheit entsprechen könnte. Kellvian hatte es gewusst, als er Dagian getötet hatte. Er hätte den verräterischen Hochgeneral entwaffnen und in Ketten legen lassen können, aber er hatte sich Bewusst für die Klinge entschieden. Und jetzt, wo er den Makel einer fremden Seele los war, würde sich erweisen müssen, wie sehr Feryakin Recht hatte. ,, Gegen kryptische Andeutungen hat mich Melchior schon abgehärtet. Aber leider nicht gegen Eriks Kochkunst. Das wäre wenigstens eine warnende Prophezeiung wert gewesen.“ , meinte er jedoch nur und fragte sich gleichzeitig, was aus dem alten Seher wohl geworden war ? Das letzte Mal hatte er ihn Ende
des letzten Winters gesehen und nun würde bereits bald der Sommer das Land beherrschen. Zumindest, soweit es Canton betraf.