„L'homme que vous cherchez, est là-bas!" Antwortete die spärlich bekleidete Serviererin, als sie zu einer Nische zeigte, in der jemand hinter einer Flasche Yamazaki Whisky hockte. Die Gestalt wirkte verwahrlost und verloren. Miriam bedankte sich für die Auskunft bei der umwerfenden Nächtlichen, die ihr noch eine Kusshand nachschickte und warf dann einen unschlüssigen Blick Verena zu, die im Eingang des Nightclubs neben dem imposanten Holzschnitt einer Galeone stand. Die Elfe nickte bestimmt. Mit einem schweren Seufzer glättete sich
die Berghexe ihren Aurora-Rheingold Blazer, kontrollierte noch den Stehkragen und machte sich schließlich auf den Weg in das Innere des Date Maru oder Le Galion, wie die Einheimischen das Lokal nannten. Unzählige Blicke folgten ihr, wurden hinter vorgehaltener Hand Vermutungen und Zweideutigkeiten über sie und ihre Anwesenheit geäußert - aber niemand hielt sie an oder wagte es überhaupt, sie anzusprechen. Das Date Maru war zwar im Stil einer Piraten-Kascheme aus dem 16. oder 18. Jahrhundert eingerichtet, entbehrte aber absolut nichts von dem was das 21. Jahrhundert an Luxus zu bieten hatte.
Zusätzlich hingen in der Luft hauchzarte Spuren allerlei exotischer Parfüme. Manche davon sehr wahrscheinlich mit Pheromonen angereichert. Was vor allem zu den Damen der Belegschaft passte, die sich aus exquisiten Leckerbissen zusammensetzten. Sozusagen lebendig gewordenen Männerphantasien allesamt - als wären sie direkt den SimSinns entsprungen, die stets unter der Ladentheke gehandelt wurden. Natürlich waren es durch die Bank weg Elfen. Auch wenn Miriam glaubte, einige weibliche Gnomen gesehen zu haben die in Kinderkleider unterwegs waren. Ebenso schien von ihnen keine
verchromt. Aber die Berghexe ging davon aus, dass die Meisten den einen oder anderen chirurgischen Eingriff hatten machen lassen und mit Talentleitungen bis an die Ohren verdrahtet waren. Die Klientel bestand dafür aus bunt zusammengewürfelten Sararimänner und Runnern aus aller Herren Länder. Die meisten von diesen trugen edle Klamotten oder sündteuren Streetchic, der sie wie aus der Gosse aussehen ließ. Aber für alle galt, dass sie im Moment wohl zu viel Zeit und zu lockere Credsticks hatten, während sie voller Hingabe von erwählten Schönheiten bedient und verführt wurden. Und
irgendwie hatte jeder von ihnen die Einsamkeit im Blick. Inzwischen war der Gast dem ihre Aufmerksamkeit galt damit beschäftigt, seine keramikweißen Hände im Halbdunkeln der Örtlichkeit zu betrachten. Förmlich fasziniert streckte und beugte er Finger, an denen die Fingernägel zwar angedeutet, aber ebenso künstlich wie der Rest waren. Irgendwie wirkte er wie ein alter, müder Mann, der von der Welt in Ruhe gelassen werden wollte. Miriam fiel erst jetzt auf, dass er obsidianschwarze Augen mit goldenen Iriden besaß, die auf bizarrer Weise natürlich
wirkten. Schon fast aus Gewohnheit askennte sie ihn und wurde langsamer. Die Lebenskraft dieses Mannes loderte so hell, dass sie sich wie ein blitzendes Kaleidoskop von den Kerzen manch eines anwesenden Sararimannes abhob. Und obwohl seine Arme schwarze Löcher waren und sein linkes Ohr eine Nachzucht aus eigenem Geweben schien, war er überraschenderweise nicht weiter verchromt. Das waren wirklich seine natürlichen Augen. Aber auch etwas anderes war offensichtlich... Der Mann war
alt. Physisch schien er zwar topfit zu sein, doch seine biologische Uhr gab ihr zu denken. Ihre einzige Hoffnung war einiges älter als Miriam erwartet hatte. Unschlüssig blieb sie stehen. Das in der Nische könnte ebenso gut ihr Großvater sein. Das war doch nicht Verenas Ernst? Doch der Mann hatte sie bereits bemerkt. Sie zögerte nicht mehr und trat vor. „Ist hier noch frei?" Mit einem herzerwärmenden Lächeln bot er ihr einen Platz an und zauberte von einem Nachbartisch ein weiteres Glas herbei. Der Mann wirkte leicht
angeheitert. „Eine Bündnerin, nett! Ist mir echt eine Freude. Aber eine Warnung vorweg; einen Drink teile ich. Aber das ist auch alles!" Nun, für sein Alter sah er überdurchschnittlich gut aus - mit seinem vollen braunen Haar, dass bloß von einigen silberblonden Strähnen durchzogen war und einer Ausstrahlung, die wirklich etwas einnehmendes hatte. Irgendwie konnte sie Verenas Begeisterung ein wenig nachvollziehen. Sein Lächeln verflüchtigte sich, als Miriam entschieden den Kopf schüttelte. „Ich bin nicht deswegen hier." Er zögerte. „Ich habe einen Job für
sie!" Doch der Mann ging nicht darauf ein und schien sie auch nicht zu verstehen. Und dass mehrmals eine milchige Nickhaut über seine Augen zuckte, empfand sie dabei als ziemlich irritierend. „Aber sie sind doch Gryff?" Belustigt schenkte er ihr aus seiner halbleeren Flasche ein. „Nun Mäitlì, den gibt's nicht mehr", er zwinkerte ihr zu, „er ist zurückgetreten, in Rente gegangen und hat sich aufs Altenteil zurückgezogen. Such dir was aus. Kurz: Ich bin zu alt, zu müde und kann einfach nicht mehr!" Er stieß freundschaftlich mit ihr an und legte den Kopf schräg. „Aber wie
kommst du eigentlich auf mich?" Miriam spielte ganz kurz mit dem Gedanken, einen Zauber auf den alten Zausel zu wirken. Aber wenn sie an das Wächterelementar draußen dachte und sich einige der Watcher hier drinnen in Erinnerung rief; kam sie lieber der Aufforderung an der Eingangstüre nach und verzichtete vorerst auf Magie. Trotz seines vorgeschrittenen Alters konnte man dem Mann ein gewisses Charisma nicht absprechen. Und Charme hatte er, dass musste sie sich eingestehen, als er ihr bereits erneut einschenkte und sie nicht mehr genau wusste, wann sie das Glas vorher geleert
hatte. Nun, zumindest lebte er in Begleitung von Frauen auf, denn nach seinem sichtbaren Aussehen zu urteilen, hätte sie ihn höchstens für einen Endvierziger gehalten. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihm die Frage nach dem Geburtsort ihrer Mutter beantwortet hatte, noch bevor sie etwas Brauchbares von ihm selbst erfahren hatte. Miriam wechselte erbost Taktik. „Bitte hören sie mir zu, es ist wirklich wichtig. Wir brauchen sie dringend. Denn es geht um Leben oder Tod!" „Wann nicht Mäitlì, wann nicht? Leider bist du ein paar Jahrzehnte zu spät dran.
Und wer genau schickt dich?" Doch die Hexe ließ sich nicht mehr beirren. „Haben sie schon einmal was von AristoC.A.T. gehört?" Erfreulicherweise spannte sich nun der Rücken des Mannes durch und sein Glas blieb auf dem Tisch. Dafür bekam seine Stimme einen bedrohlichen Unterton. „Was ist mit ihr?" Seine nachtschwarzen Augen fixierten sie derart, dass Miriam ein eiskalter Schauer den Rücken hinab lief. Auch das Zucken der Nickhäute wurde nervöser. „Sie hat zwar den Crash 2.0 überlebt…" „Weiß ich", unterbrach er sie eine Spur zu schroff, „und ist seitdem im Koma." Und für Miriam hieß es ‚jetzt oder
nie'. „Genom hat sie, und wir brauchen jemanden, der sie aus der F&E-Abteilung der Genom Arkologie befreit!" Was auch immer sie für eine Reaktion erwartet hatte; die Berghexe erlebte nun, wie das Feuer in den Augen des Mannes erlosch, ein heftiges Zucken durch ihn ging und er dann förmlich in sich zusammen sank. Augenblicklich schien es, als hätte ihn sein natürliches Alter endlich eingeholt. Ausgebrannt und von der Welt enttäuscht füllte er sein Glas bis zum Rand. Seine Stimme klang dabei gebrochen. „Tut mir wirklich leid für sie. Sie war ein
wunderbares Kind und wäre eine einzigartige Frau geworden. Das Leben ist manchmal wirklich ungerecht…" Miriam stand dafür die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, als sie ihn heftig anfuhr. „Das war es? Das war alles? Ein simples ‚tut mir leid'? Ich reiße mir den Arsch auf, um diesen legendären Gryff, von dem jeder nur Gutes zu berichten weiß ausfindig zu machen... und was ist mein Lohn? Das fass ich nicht. Ich…" Ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sie feststellen musste das der Mann weinte. Er versuchte zwar seine Stimme fest und sachlich klingen zu lassen, aber scheiterte
kläglich. Augenblicklich wirkte er uralt. „Schau Mäitlì, das hätte ich nicht einmal in meinen besten Zeiten versucht. Das ist in jeder Hinsicht Selbstmord! Und ihr werdet niemanden mit gesundem Menschenverstand finden, der bereit wäre das Risiko einzugehen. Vor allem nicht, da man sie eigentlich lebend da rausholen sollte..." Er konzentrierte sich einzig auf sein Glas. „Und vor allem ich nicht. Ich war vielleicht einmal überdurchschnittlich und vielleicht hättest du mich sogar rumgekriegt. Aber heute? Auch wenn ich mal eine Telomer-Behandlung hatte; ich gehe inzwischen auf die sechzig
zu! Aber vor allem diese verfluchte Kometenmutation gab mir den Rest. Sie zerstörte mein Leben und meine Laufbahn als Runner und zwang mich, mich aus den Schatten zurück zu ziehen. Ich brauchte Jahre, bis ich wieder normal sehen, geschweige denn eine Waffe benutzen oder ein Motorrad fahren konnte. Und auch jetzt habe ich noch regelmäßig Mühe damit. Nein Mäitlì, es tut mir so unendlich leid! So sehr ich wünschte, ich könnte dir helfen... der Gryff den du suchst ist tot. Er hörte schon lange auf zu existieren!" Der Mann setzte das Glas an die Lippen und
erstarrte. Seine Augen weiteten sich. Erst jetzt wurde Miriam Verena zu ihrer Rechten gewahr, wie sie sich die Kapuze ihrer Fleecejacke zurückwarf. Wie von der Tarantel gebissen schoss der Mann hoch. Dabei wirkte er ziemlich verwirrt, hatte jedoch ein Leuchten in den Augen, wie sie es von ihm nie erwartet hätte. Gleichzeitig entglitt ihm das Whiskyglas, knallte auf die Tischplatte und verspritzte seinen Inhalt über Miriams Anzug. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. „Lis…" Doch bereits hatte ihm die Elfe zärtlich
einen Finger auf die Lippen gelegt. „J'ai besoin de toi, mon ami!"
Ein wenig zersaust, aber ziemlich zufrieden saß Verena auf der Rückbank einer abenteuerlich aufgemotzten Schneekatze und schwelgte in Erinnerungen. Gerade als sich die Pistenraupe einer steilen Böschung annahm, wandte sich Miriam vom Beifahrersitz zur Elfe um. „Du hast mit einer Leiche geschlafen!" Verena lächelte. „Er ist längst noch nicht tot!" „Na gut, Tüpflischisserin; aber hast du im Bett nicht einen dezenten Verwesungsgeruch wahrgenommen?" „Ist das Eifersucht in deiner
Stimme?" Miriams Wangen erröteten, als sie sich in ihren Sitz zurückwuchtete und das momentane Kichern der Fahrerin mit einem vernichtenden Blick quittierte. „Nein! Ich bin nur bestürzt, dass du plötzlich nekrophile Tendenzen zeigst. Der Kerl schrammt doch schon auf die sechzig zu. Das ist so, als wärest du mit meinem Urgroßvater intim gewesen!" Es schüttelte sie sichtlich. „Wie dir sicherlich schon aufgefallen sein wird, bin ich eine Elfe", Verena verschränkte die Arme und ihr Tonfall wurde ernster, „weißt du überhaupt, wie alt ich bin?" „Entschieden jünger!" Kam die
schnippische Antwort. Theresa - Besitzerin und Pilotin der Schneekatze – lenkte inzwischen das Fahrzeug auf die kaum sichtbare Spur einer ehemaligen Autostrasse, die inzwischen unter Metern von Eis und Schnee begraben lag. Die ganze Zeit konnte sie sich ein Grinsen kaum verkneifen. „Ach? Schon mal was von Spikebabies gehört?" Mit untertellergrossen Augen schoss jetzt Miriam zur Elfe herum und schaffte es nur noch ein „Nicht!" zu formulieren. Während Theresa darauf losprustete, klopfte Verena auf den Platz neben sich und klang ganz versöhnlich. „Wieso
kommst du nicht nach hinten und wir können beide nekrophilen Gedanken nachhängen, wie du es wohl ausdrücken würdest. Dabei kann ich dir ja auch zeigen, wieso ich unbedingt zurück muss!" Die Pistenraupe bremste abrupt ab und schleuderte dabei sogar ein wenig - was Theresa mit „Bayards, hab sie im Schneegestöber kaum gesehen!" kommentierte. Miriam ließ sich nun resigniert auf den freien Rücksitz fallen. Gleichzeitig nahm die Elfe ein altes Trideo-Tablet von ihrem Schoss und zeigte es ihr. „Wir sind überein gekommen, dass ich versuchen muss, so viele Hexensippen
wie nur möglich für unsere Sache zu gewinnen..." „Dachte ich mir doch, dass der voll auf uns setzt, wenn er schon mal n'e Hexe zur Hand hat!" „Um seine Flucht aus der Arkologie zu decken! Ich habe von ihm auch eine Liste seiner alten Connections erhalten, die wir für ihn unbedingt ausfindig machen müssen." „Wie will er reinkommen?" Fragte Theresa. „Das hängt davon ab, wie viele der Personen auf dieser Liste noch am Leben sind und wir in den nächsten Stunden kontaktieren können!" Sie scrollte durch die Liste, „aber wir
haben noch eine reelle Chance, falls Genom Parda, wie es scheinbar üblich ist, noch in Quarantäne hält", und hielt inne. Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. „Das wird verdammt hässlich…" Miriam wollte gerade etwas fragen, als sich ein Watcher mit dem Aussehen einer humanoiden, uniformierten Gämse aus dem Nichts vor ihr manifestierte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Das Grinsen der Berghexe wuchs hierauf von einem Ohr zum anderen. „Erinnert ihr euch noch an die Idioten, die uns dieses Mal zu folgen versuchten? Die sind gerade im Fieschertal endgültig verloren
gegangen!"
„Rächt so!" kommentierte Theresa die Nachricht, während Verena nachdenklich das Tablet ausschaltete und sich mit geschlossenen Augen zurück lehnte.
Ihr war der letzte Name auf Gryffs Liste äußerst präsent.
Aber vor allem die Komplikationen, die er mit sich brachte.
„Willst du dass wirklich wissen, mon ami?" murmelte sie.
Dumpf hallten Schritte durch die unterirdischen Eingeweiden der Genfer Banque Cantonale. Der perfekt in einem Maßanzug von Zoé gehüllte elfische Bankdirektor schritt kopfschüttelnd die Stufen hinab, während Gryff ihm in seiner verschlissenen Lederkluft folgte und visuell einen absoluten Kontrapunkt bildete. „Wollen sie es sich nicht anders überlegen, Herr Abagnale?" Die Stimme des hageren Elfen klang noch nach, als Gryff bereits mit entschlossener Stimme
antwortete. „Nein. Es war schon längst überfällig!" Der Filialleiter nickte nur knapp, als er am Ende der steilen Treppe den spartanisch eingerichteten Kontrollraum erreichte. Die imposante Tresortüre an der gegenüberliegenden Wand - wohl für die Ewigkeit gebaut - ließ den wachhabenden Oger davor klein und unbedeutend erscheinen. Dieser begrüßte freundlich die beiden Männer mit Namen und trat von seinen Schreibtisch nach vorne. Die Hand sicherheitshalber auf seiner Morrissey Alta, verglich er mit seinem Headware-Kommlink die Signatur der IDS - implantierte, personalisierte Kommlinks,
die in der Schweiz IDentitätSensoren heißen und amtlich bewilligte Personalausweise darstellen - der Neuankömmlinge mit den in der Erweiterten Realität oder AR (für Augmented Reality) nur für ihn sichtbaren, hinterlegten Personaldaten. Als er mit dem Ergebnis zufrieden war; bat er den Elf zu einen Fingerabdruck- und Retina-Scan, sowie einen Stimmtest, den dieser mit stoischer Ruhe über sich ergehen ließ. Dann wandte sich die Wache Gryff zu. „C'est votre tour monsieur Abagale!" Gryff grinste bloß und schob die verspiegelte Sonnenbrille hoch. Während nun der Oger - ein gewisser
Dunant, wenn sich Gryff richtig erinnerte - verunsichert den Retinascanner ansah, fuhr der Bankdirektor mit einem kollegialen „ich bürge, äh… je réponds de lui!" dazwischen und schob sein modisches Gegenstück zur Tresortüre. Die Wache gab sich nickend damit zufrieden, als die Schleuse mit einem scharfen Zischen eine Handbreite aufsprang und dann aufging. Der Filialleiter kommentierte inzwischen noch auf Französisch, dass Herr Abagnale wohl schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, als er diesen hindurch bugsierte und ihm folgte. Als die Schleuse hinter ihnen zu ging,
schloss sie sie vom Rest der Welt aus. Die Männer wechselten nun irritierte Blicke, wobei der Elf auf Gryffs Gesicht zeigte. "Davon hast du mir aber nichts gesagt!" Dieser, zeigte dafür an eine Stelle an seinem Cyberarm, an der die meisten Schweizer ihr IDS implantiert hatten. "Ich dachte echt, heutzutage genügten die hier." "Die könnten gefälscht sein! Manch zwielichte Gestalt läuft heutzutage mit ganzen Batterien von gefälschten SINs herum, Herr Abagnale!" „Nun, da haben sie wohl recht, Herr Direktor Henri Druey," seufzte Gryff wehmütig, „aber ich mochte ihren le
bélier Teil trotzdem besser!" Schon fast zu heftig fuhr hierauf der Bankdirektor Gryff an. „Psst! Die elektronische Überwachung ist zwar aus und alle Aufzeichnungsgeräte abgeschaltet, aber astral sind unsere Watcher immer noch da, mein Herr Dr. Seltsam!" „Die schnallen's aber nur, wenn wir französisch sprechen, oder?" „Eben!" „Okay, hab's begriffen Kümpe," er legte dem Elf freundschaftlich die Hand auf die Schulter, „sorry, ist wirklich eine Ewigkeit her. Und die letzten Tage waren ziemlich heftig für mich!" Seine Nickhäute blieben dabei eine Spur
länger als sonst unten und kamen erst mit den Augenlider hoch. Der Hauch eines lausbübischen Lächeln schlich sich dafür in seine Mundwinkel. „Aber was ist mit den Sicherheitslogs?" Entsetzt wich sein Gegenüber zurück. „Was soll das? So etwas fragt man einen der besten Decker der CSF doch nicht!" „Immer noch? Heißt das inzwischen nicht Hacker?" konstatierte Gryff mit einer Prise Ironie, während das Lächeln immer breiter wurde. Der Elf schnaubte bloß missmutig. „Ja ja, ich weiß. Und plötzlich heißt alles anders und soll noch besser sein! Trotzdem bin ich immer noch gut genug. Allemal besser als die meisten dieser
Nuggisuuger! Also lass das mit den Sicherheitslogs ruhig meine Sorge sein!" Er wirkte ernsthaft beleidigt, als Gryff herantrat und ihn umarmte, als sei er sein leibhaftiger, längst verschollen geglaubter Bruder. „Das ist der Elf, den ich vermisst hatte! Seit wann hast du dermaßen einen Stock verschluckt?" Henri Druey versteifte sich zuerst, schien dann verwirrt und schließlich überrascht, als er die Umarmung erwiderte. „Conard! Und ich falle doch jedes Mal drauf rein!" Sie brachen in schallendem Gelächter aus, und holten die freundschaftliche Begrüßung nach, die sie bei der unterkühlten, förmlichen Begegnung in
den Geschäftsräumlichkeiten der Bank tunlichst vermieden hatten. Kurz wurden auch Belanglosigkeiten über das eigene Leben, die eigene Gesundheit oder dem Werdegang des anderen ausgetauscht; entrüstete man sich über den Stand der Welt in der heutigen Zeit und folgten einige spöttische Kommentare zum jeweiligen Aussehen des anderen - bei denen Gryff stets schlechter wegkam. Dann verlor sich sein Blick in der Ferne. „Wie geht's eigentlich Duchesse?" Die Frage hing kurz unbeantwortet im Raum bis sich der Elf Gryffs verträumten Gesichtsausdruck bewusst
wurde. „Ach, du meinst Mylène. Sie vermisst dich schrecklich!" „Echt?" „Nein!" Während nun Henri Druey heftig lachen musste, gelang es Gryff nicht, die Enttäuschung zu verbergen. „Du hast sie nie überwunden, eh!" Er schüttelte den Kopf. „Mann ich war damals noch nicht mal 20 Jahre alt. Und sie war das allererste Frauenzimmer mit Stil, Charme und Raffinesse, dem ich ins Messer lief. Sie frass mein Herz zum Frühstück!" Der Elf schloss sich dem Seufzer an. „Nicht nur deines!" Dann schien ihm etwas in den Sinn zu
kommen. „Aber ich sollte dir auch verraten, dass sie dich nicht vergessen hat. Sie erinnert sich noch sehr gut an dich!" „Wirklich!?" „Ja, erst kürzlich hat sie Carolyne wieder einmal deine Geschichte erzählt. Von diesem einzigartigen Jüngling, der damals wegen mieser Cyberware seinen noch verbliebenen Arm opferte, um eine Stadt zu retten…" Die Erinnerungen waren zwar auch nach Jahrzehnten immer noch schmerzhaft und ließen Gryff unschlüssig grinsen; doch da war noch etwas anderes, das einen undefinierbaren Beigeschmack hatte. „Wer ist
Carolyne?" „Unser gemeinsames Kind!" Ein Schatten legte sich abrupt auf Gryffs Gesicht und wirkten seine Gesichtszüge jetzt härter und kantiger. Schlagartig hatte er auch das Interesse am Gespräch verloren und wandte sich ab. Verloren suchte er das Meer Schließfächer zu seiner Linken und Rechten ab. „Glaubst du mir, dass ich nicht einmal mehr weiß, auf welcher Seite es ist?" Seinem Freund entging der abrupte Stimmungswechsel zwar nicht, aber er hielt es für besser nicht darauf einzugehen. Dafür steuerte er jetzt zielsicher eines der Schließfächer an. „Zur linken, bei
den geraden Zahlen. Weißt du vielleicht die Zahl noch?" Gryff schüttelte abwesend den Kopf und trottete ihm nach. „Jetzt wär's Zeit für den Schlüssel." Als Gryff diesen aus dem Lederetui befreite den er in seinem Brustbeutel trug, musste er unbewusst lächeln und heiterte sich seine Miene ein wenig auf. „Ich erinnerte mich gar nicht daran, dass es mein Geburtsjahr ist!" „Du erinnerst dich wohl auch nicht daran, dass es dein ausdrücklicher Wunsch war?" Kopfschüttelnd übergab Gryff dem Bankdirektor den wuchtigen Titanschlüssel, denn er zusammen mit
seinem eigenen in die Sicherheitsschlösser des Schließfaches 2012 steckte. Gleichzeitig drehte er beide herum. Mit einem dumpfen Knacken öffnete sich die fussballgroße Türe und der Elf holte eine große, gepanzerte Kassette daraus hervor. „Damit wir uns richtig verstehen: Dir ist es ernst? Du willst das Schließfach aufgeben?" Beide gingen nun zum Raum am Ende des Ganges, der einzig einen Tisch, einen Stuhl und einen Eimer besaß. In der Tischfläche war für Notfälle und Nachfragen ein kleines Kommunikationsterminal eingearbeitet. Henri Druey hatte immer noch Mühe mit
dem Gedanken. „Aber es sollte doch deine Altersfürsorge sein. Deine Absicherung, wenn du dich endlich aus dem Biz zurückziehst. Du selbst hast mir doch gesagt, dass du das nicht antasten wolltest bis du deine Runnerkarriere endlich an den Nagel gehängt und eine Familie gegründet hast?" Mit einem Gesichtsausdruck der dem Elf einen Schauer den Rücken hinab jagte, nahm ihm sein Freund die Kassette ab, und ging mit einem unbestimmbaren „Das war einmal…" in den Raum. Dann schloss er die Türe hinter sich. Der Filialleiter zuckte nur mit den Schultern und wandte sich einem nahen Terminal zu, von wo aus er dem Oger
vor der Tresortüre bestätigte das alles in Ordnung war. Pius Meyer Wettstein, einst unter der Strassennamen 'Gryff' ein absoluter Top-Runner der SEg, sass wie versteinert vor der gepanzerten Kassette und zögerte immer noch. In über 30 mühseligen und gefährlichen Jahren angesammelt, stellte dessen Inhalt die Essenz seines Lebens und Wirken in den Schatten der Schweiz dar. Er legte die Hand darauf. So wenig blieb von einem Leben zurück. Bis… Wieder einmal verspürte er den wachsenden Drang, sich mit der Cyberhand die Augen
auszureißen. Aber er hatte sich geschworen - gemessen am Schmerz und Leid den ihm seine Cyberarme gekostet hatten - dass er einen Ersatz nur dann akzeptieren würde, wenn sein Überleben davon abhänge! Und so bösartig es auch klang; er hatte seine wirklichen Augen nie verloren… Der Knall war dumpf, als seine Hand die Kassette aufbrach und er den Deckel abriss. Bis zum Anschlag war diese mit 1'000 Noten - meistens Konzerngeld - gefüllt. Sorgfältig nahm er nun Bündel für Bündel heraus und ordnete sie auf dem Tisch. Saeder-Krupp D-Marks, Ares
Dollars und einige weitere. Bei einem der Bündel musste er schmerzhaft grinsen, als er die Arabian Futures E-Dinare in den Eimer warf. Eben so brachte er einen beachtlichen Stapel Schweizer Franken zusammen. Das meiste davon würde ihm Direktor Henri Druey wohl zu einem fairen Kurs wechseln können. Am Grund der Kassette kamen schließlich fünf Gold, drei Platin und zwei Ebenholz-Credsticks und drei Schatullen aus Wolframcarbid zum Vorschein. Vorsichtig stellte Gryff diese nebeneinander auf den Tisch. Nacheinander kontrollierte er die jeweils
fünf Datenchips in den Schatullen. Vor allem die zwei mit der Genom Signatur überprüfte er gründlich, wie auch einen Chip mit der Top Secret Kennung des Schweizer Militärs, der mit lauter Schweizerkreuze verziert war und einen, auf dem ein gelbes Katzenaugenpaar abgebildet war, in dem scheinbar jemand tanzte. Mit einem Schmunzeln hielt er letzteren hoch. Erst dann fiel ihm die Glasphiole in der Kassette auf. Vorsichtig legte er den Chip wieder hin und fischte die Phiole mit zittriger Hand heraus. Minutenlang betrachtete er die mit einem filigranen Lederband zusammengebundene rote Haarsträhne
darin. Mehrfach versuchte er etwas zu sagen. Schließlich hielt er sie aufgewühlt und mit Tränen in den Augen über den Abfalleimer, zerbrach sie und zerrieb den Rest. Es war wohl seine Art Abschied zu nehmen, als sich die Keramikhand langsam öffnete und Glasscherben, Haar- und Lederfragmente fallen ließ. Fast eine Viertelstunde verharrte er so. Erst als von draußen ein „Alles in Ordnung?" erklang, raffte er sich zusammen und brachte ein wenig überzeugendes „Ja..." hervor. Rasch versorgte er die Datenchips in einem Geheimfach seines linken
Cyberarmes, steckte die Credsticks ein und legte den verbeulten Deckel wieder auf die nun leere Kassette. Dann erhob er sich und öffnete die Türe. „Hast du mir noch eine Tasche?" Kurz war der Elf sprachlos, als er mit entsetztem Blick hinein trat und die Verwüstung begutachtete. „Natürlich kannst du die Kassette von meinem Geld abziehen. Darf ich das meiste bei dir einlösen?" Nachdenklich verharrte Henri Druey beim Anblick des Abfalleimers; dann räusperte er sich laut. Sich seinen Anzug zurecht streichend wandte er sich seinem modischen Gegenstück zu. „Ich hab 'ne bessere Idee. Ich lass wer
kommen, der dein Geld hier in Franken auf einen Checkstick spitzt; natürlich zu den besten Haus-Konditionen!" Er lächelte. „Was hast du heute sonst noch für Verpflichtungen?" Gryff schüttelte den Kopf. „Eigentlich nichts mehr. Ich warte bloß noch auf einen wichtigen Anruf, bevor ich überhaupt irgendetwas unternehmen kann!" „Fantastique," kurzerhand packte der Elf Gryff an den Schultern und dirigierte ihn Richtung Tresortüre, „ich hoffe doch wirklich, dass du auch etwas zum anziehen hast, dass dich menschlicher erscheinen lässt. Und rasier dich bitte gefälligst! Brauchst du vielleicht Geld
für Garderobe oder muss ich dir einen Laden empfehlen?"
Irritiert löste sich Gryff und blieb stehen. „Wieso? Was ist schlecht an meinen Kleidern? Und wieso soll ich mich herausputzen?"
„Nun, Ich würde sagen alles an deinem modischen Geschmack ist katastrophal. Und der Grund ist so simpel wie einfach: Weil du heute bei mir zum Abendessen eingeladen bist! Und damit das klar ist; ich akzeptiere keine Ausrede und kein Nein!"
„Ich weiß nicht…"
„Mylène würde es sicherlich freuen!"
„Wirklich!?"
Neugierig trat Doktor Harald F. Schiffmann an die gepanzerte Glaswand der Quarantänestation, welche im Moment einen einzigen Gast beherbergte. Die zierliche Frau auf der medizinischen Liege erinnerte ihn an Dornröschen aus dem gleichnamigen Märchen. In tiefem Schlaf gefangen, schien sie auf einen unerschrockenen Held zu warten, der sie erretten sollte. Nur würde diese Maid hier niemals wach geküsst werden. Irgendwie verunstalteten die Gurte mit denen ihr nackter Körper an die Liege
fixiert wurde ein wenig das Bild der ruhenden Prinzessin. Obwohl ihre dichte Körperbehaarung diesem Eindruck auch nicht zuträglich war. SURGE hatte ganze Arbeit geleistet... Denn diese Prinzessin hatte Katzenohren und einen echten Schwanz. Ihre Finger, sowie Zehen schienen darüber hinaus Krallen zu besitzen und sogar Schnurrhaare waren auszumachen - zusätzlich zum graublauen, schwach getigerten Fell das ihren Körper überzog. Wenn er so ihre Behaarung bedachte, würde er sie wohl scheren müssen. Nachdenklich aktivierte der Wissenschaftler über sein Kommlink ihr
Patientendossier, öffnete es im Raum vor sich und blätterte sich ein wenig durch die virtuellen Daten. Mal sehen, was ihm da in den Schoss gefallen war... Prinzessin oder Bettlerin? Es juckte ihm bereits in den Fingern und lächelte er beim Gedanken daran, sein Sezierbesteck - ein echtes Familienerbstück - wieder in die Hand nehmen zu dürfen. Selbstvergessen vollführte er präzise Schnittbewegungen mit einem imaginären Skalpell und wirkte wie ein Dirigent der voller Leidenschaft seinen Stab schwingt. Dennoch irritierte ihn etwas gewaltig. Wieso er? Wieso hatten ihn seine Vorgesetzten
hierher beordert? Seine Prinzessin würde vielleicht einen netten Zeitvertreib abgeben, aber hätte das nicht jemand mit weniger Renommee machen können? Andererseits empfand er den Aufwand beunruhigend, der unternommen worden war, um eine halbtote Kleinkriminelle ins Allerheiligste Genoms zu schaffen. Nach den Ausführungen des Dossiers, rührte der komatöse Zustand von während des Crash 2.0 beim hacken erlittenen Schäden, die ihr die gesamte Headware ausgebrannt hatten. Ihre Cyberware konnte demzufolge nicht der Grund sein. Vor allem, weil diese bereits schon
entfernt worden war - man hatte hier in der Quarantänestation inzwischen alle Überbleibsel davon herausoperiert. Neugierig öffnete er nun seine Aufgabenmappe und begann sie in der AR aufzufächern. Der Umfang des Dossiers war beeindruckend. Nur schon die Untersuchungen umfassten das ganze Spektrum: Gentest, Haar- und Blutanalyse, Leberkontrolle; ja sogar einen Wischtest wurde verlangt. Er begutachtete seinen zukünftigen Patienten nachdenklich. Und wieso war es so wichtig die genetische Entwicklung all ihrer Organe und ihres lymphatischen Systems so
präzise zu dokumentieren? Vor allem der Untersuchungs- und Wertungskatalog für das Bursaäquivalente Organ ließ ihn stutzig werden. Dafür würde er Wochen, wenn nicht sogar Monate brauchen! Überraschenderweise existierten für alle Untersuchungen computerunterstützte Näherungswerte. Als wenn jemand ein Leben lang über diesen Patienten Buch geführt hätte - ohne zu wissen ob es ihn wirklich gibt. Doch diese Forschungen waren von höchster Stelle aus in Auftrag gegeben worden. Er hatte bloß Zugriff auf die nackten und unkommentierten Resultate. Nun war seine Neugierde
geweckt. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, und er musste seinen ganzen Einfluss und wissenschaftliche Reputation in die Waagschale werfen, bis er zumindest die Herkunft der mysteriösen Näherungswerte herausfand. Doktor Schiffmann stockte der Atem. Alessandro Rizzetti! Professor A. Rizzetti - oder ‚Arize', wie er von Studenten und Doktoren gleichermaßen ehrwürdig genannt wurde - war eine absolute Koryphäe was die Hämatopoese und jegliche Leukämieforschung betraf. Noch jetzt profitierte Genom von unzähligen Patenten, die sie ihm zu verdanken
hatten. Mehrfach war er sogar für den Nobelpreis der Medizin nominiert gewesen. Aber es hatte nie geklappt - hauptsächlich, weil er zu Lebzeiten sehr viele ignorante Neider gehabt hatte. So kam es sogar, dass einige davon - die ihn wohl wegen seiner innovativen und unorthodoxen Vorgehensweise in der Biogenetik anfeindeten - einmal eine derart heftige Kontroverse entfachten, dass er bereits schon in Stockholm angekommen war, als er erfahren musste, das der Preis ihm nachträglich aberkannt worden war. Irgendwann gab Arize dann schließlich das Streben nach Anerkennung auf und
kam zu Genom, um seine Träume zu verwirklichen. Doch hier entwickelte er leider mit den Jahren und dem zusammengekommenen Gram - sowie einer schon fast panischen Angst, jemand könnte seine Forschungen stehlen - eine derart wachsende Paranoia, dass er sich schließlich Headware implantieren ließ und seine Forschungsarbeiten wie in einem Safe einzig in seinem Headmemory verwahrte. Er ging einst sogar gerichtlich gegen eine wissenschaftliche Publikation vor, die einige seiner Thesen zitiert hatte. So kam es, dass keine Abschriften oder Kopien seines Lebenswerkes existierten, als er 2064 von seinem eigenen
Forschungscomputer getötet und seine gesamte Cyberware dabei gegrillt wurde. Ein rabenschwarzer Tag für die Wissenschaft! Doch seit damals hatte sich das Gerücht gehalten, dass auch seine grenzüberschreitenden Forschungen an Embryonen einzigartige Resultate erzielt hatten. Sein Genie sollte eine überlebensfähige Kreatur hervorgebracht haben, die es einst in die Wildnis da draußen geschafft hatte... Bis heute war das bloß eine Legende gewesen. Dennoch hatten nicht wenige davon geträumt, durch dieses Geschöpf einen Blick auf das verschollene Wissen Arizes zu
erhalten. Harald Schiffmann hielt die Luft an. Also gingen seine Vorgesetzten wohl davon aus, dass dies hier Arizes Schöpfung war - sein Vermächtnis und Meisterwerk! Plötzlich fühlte er sich klein und bescheiden - behagte dies ihm zwar nicht; erfüllte ihn jedoch mit Stolz, in Arizes Fußstapfen treten zu dürfen. Jetzt war alles klar, weshalb er hier war. Ein wohliges Gefühl erfüllte ihn beim Gedanken, dass er persönlich dabei sein dufte, als Arizes Kreatur endlich nach Hause gefunden hatte. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung
gewahr. Harald Schiffmann schloss das Dossier und schaltete sein Kommlink aus. Dann wandte er sich dem näher kommenden Stationsarzt zu. „Hallo Friedrich." Dieser blieb kopfschüttelnd vor der Glaswand stehen. „Hallo Doktor Schiffmann. Ich verstehe immer noch nicht, wie es möglich sein soll, dass unsere Systeme in unregelmäßigen Abständen Status-Updates ihres gesundheitlichen Zustandes eingespiesen bekommen." Er verwarf die Arme. „Wir haben wirklich jedes letzte Stück Chrom aus dieser halbtoten Mieze rausgekratzt.
Aber es wird jedes Mal als direkter Dateninput verzeichnet, als wäre sie mit funktionierender Headware eingestöpselt." Dann musste er grinsen. „Manchmal werden diese Daten von einem unzusammenhängenden Datenwirrwar überlagert, deren Herkunft wir bisher nicht eruieren konnten... wir haben diesen Datenmüll sogar einmal durch die Lautsprecher gejagt, und wissen sie was?" Schiffmann schüttelte den Kopf. „Meine Assistentin - sie wissen schon, die kleine mit den großen Titten und dem romantischen Tick - ist felsenfest davon überzeugt, dass das ein Miauen
von der halbtoten Mieze da ist!"
Beiden Männer brachen in schallendem Gelächter aus.
Gryff lehnte sich an die Natursteinbalustrade des weitläufigen Dachgartens und blickte schläfrig zum wolkenverhangenen Mond hoch. Ihm war schwindlig und er hatte viel zu viel gegessen! Die kalte Nachtluft fühlte sich belebend an, als er zufrieden dem Rauschen der Rhone unter sich lauschte. Früher; unter anderen Umständen oder wahrscheinlich in einem anderen Leben, hätte er den Moment für magisch gehalten. Heute ließ er sich bloß treiben und fürchtete den
Morgen. Duchesse oder Mylène Druey, wie sie inzwischen offiziell hieß, hatte das Fondue zwar mit viel Liebe zubereitet, aber dabei nicht gerade an Weißwein gespart. Zwar hatte er sowohl beim Brot, wie auch bei den Morcheln kräftig zugelangt. Aber dennoch fühlte er die leicht betäubende Wirkung des Riesling-Silvaners. Er schloss die Augen. Und obwohl er immer noch einen Stich im Herzen verspürte, wenn er die kleine Carolyne vor seinem inneren Auge sah, gönnte er den beiden ihr Glück. Das Mädchen war knapp vier Jahre alt
und sowohl Mylène, wie auch Henri hatten sich förmlich überschlagen, sie zu Bett zu bringen; nachdem sie den ganzen Abend dem seltsamen Onkel mit den Armen aus Porzellan und den lustigen Augen versucht hatte das Herz zu brechen. Er hielt die Hand hoch, öffnete ein Auge und griff nach dem Mond. Als er ihn berührte, spürte er ein Vibrieren. Während er nun verwirrt die Hand zurückzog, wurde ihm erst jetzt bewusst, dass es sein Kommlink war. Er aktivierte es und zog die Datenbrille an. Gryff war hellwach, als er sich Verenas
umwerfender Persona gegenüber sah. „Hallo Pius, wie geht’s?" Dieser wollte gerade antworten, als die Elfe eine Augenbraue hochzog. „Bist du an einer Beerdigung? Das ist doch das Hemd zu deinem uralten Anzug, nicht?" Er räusperte sich kurz und kämpfte verlegen mit dem Kragen. „Ja, bin eingeladen worden, und…" „Ist sie wenigstens schön?" wurde er mit einem Augenzwinkern unterbrochen. „Ja… Wie?" Verenas Grinsen war so entwaffnend, das er nur noch müde mit den Achseln zucken konnte. „Und glücklich verheiratet und noch glücklichere Mutter… ihr Ehemann hat mich
eingeladen. Ein alter Freund." Die Elfe kam sofort zum Punkt, schlug einen ernsthafteren Ton an. „Ich habe das Datenpaket wie abgemacht dort hinterlegt, wo du es wolltest. Wir konnten bisher noch nicht alle Personen ausfindig machen. Einige sind bereits verstorben." Sie legte eine nachdenkliche Pause ein. „Allgemein haben sich viele deiner Kontakte nach 2064 endgültig aus den Schatten zurückgezogen oder sind aus dem Verkehr gezogen worden. Aber dein Jean-Philippe Garand ist jeden Morgen um 7 Uhr im Lausanner Friedhof unterwegs. Er würde sich freuen, dich dort zu treffen. Und auch unser Zürcher
Kollege mit der Sicherheitsfirma hätte morgen Zeit für dich!" Gryff nickte erfreut. „Du hattest übrigens recht, mon ami. Sie ist in Sicherheitsquarantäne und wird es auch für die nächsten fünf Tage bleiben! Wieso eigentlich?" „Nun, die Regelung wurde nach dem Crash aufgestellt. Und massiv verschärft, als ihnen eine bestimmte, deutsche Echse oder die Sons of Sauron - vielleicht auch beide - das ist nie so richtig geklärt worden; ein lebendes Geschenk in die F&E-Abteilung schmuggelten, welche eine nette Epidemie verursachte, die ihnen fast das ganze Personal
ausrottete…" Er zuckte mit den Schultern. "Eine Gefälligkeit wohl für all die Metamenschenversuche, nicht genehmigte Abtreibungen und Sterilisationen an ahnungslosen Orks und Trollen." Verena verkniff sich mühsam einen Kommentar, während Gryff einen internen Timer aufrief. „Ab wann gelten die fünf Tage?" „Ab ein Uhr morgens. In fünf Tagen und eineinhalb Stunden wird sich ein gewisser Doktor Schiffmann ihrer annehmen…" „Gut! In genau fünf Tagen, oder 120 Stunden erwarte ich euren Begleitservice
über der Genom Arkologie!" Er stutzte kurz, "Ostermontag Nacht!" und startete den Time. Verena nickte dankbar, als sie sich an etwas zu erinnern schien. „Ich hab übrigens ihr Kleinod wieder gefunden. Willst du es?" Ein undefinierbares Lächeln huschte als Antwort über Gryffs Lippen. „Danke, aber nein. Ich hab's selbst immer noch!" Die Elfe lächelte nur verstehend und hauchte ihm dann einen Kuss zu. „Ich muss leider wieder. Meld dich, wenn du was brauchst; ich meld mich, wenn ich was habe!" Und Verenas Persona war verschwunden. Gryff dagegen rief eine uralte Datei ab,
die er stets wie einen Schatz gehütet hatte. Wer jemals näher Bekanntschaft mit AristoC.A.T. und ihrer unnachahmlichen Art gemacht und es sogar in den erlauchten Kreis ihrer Freunde geschafft hatte, war früher oder später damit beschenkt worden. Bei der Video-Aufzeichnung handelte es sich um einen kurzen Ausschnitt aus einem obskuren, gezeichneten Film aus dem Ende des letzten Jahrhunderts. Er startete ihn, so dass das Bild durch die Brille auf sein Sichtfeld projiziert wurde. Eine seltsame, blaue Kreatur mit riesigen Ohren erschien. Auf dem Boden
sitzend und ihre vier Arme in metallischen Manschetten gesteckt, intonierte sie einer mit üppigen Konturen gezeichneten Menschenfrau gegenüber ein brüchiges „Ohana means family, family means nobody gets left behind. Or forgotten." Wobei diese den letzten Teil des Satzes mit der Kreatur zusammen sprach. Dann war der Spuk auch schon vorbei. Er versorgte die Datenbrille und schloss kurz die Augen. „Ich hol dich da raus Mäitlì, egal was es mich kosten möge!" Als er wieder aufsah, erblickte er Henri, der frösteln zu ihm gerannt kam. „Mon Dieu, was suchst du hier draußen in der Kälte? Eine
pneumonie?" Gryff löste sich von der Natursteinbalustrade und versuchte entspannt zu wirken. „Ich hab den Anruf bekommen, auf dem ich den ganzen Abend gewartet hatte. Ich muss morgen spätestens um 7 Uhr in Lausanne sein, also denke ich, dass es Zeit…" Doch der Elf ließ ihn nicht ausreden, als er ihn kurzerhand an den Schultern packte und in Richtung Balkontür dirigierte. „Fantastique, du schläft natürlich heute in unserem Gästezimmer. Hat Mylène schon für dich eingerichtet; ich dachte mir doch, dass es so kommen würde. Und morgen fahre ich dich dann persönlich nach Lausanne, so dass du
pünktlich dort sein wirst, wo dich dein Schicksal erwartet!" Dieses Mal wandte Gryff nichts ein. Die Müdigkeit machte sich bereits unangenehm bemerkbar und irgendwie war ihm, als wäre dies vielleicht die einzige Nacht in den kommenden Tagen, in der er wirklich noch Schlaf finden würde.