Kurzgeschichte
Wir bleiben - Randbeitrag - Forumbattle 35

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"Wir bleiben - Randbeitrag - Forumbattle 35"
Veröffentlicht am 26. Oktober 2014, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse. Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie. Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.
Wir bleiben - Randbeitrag - Forumbattle 35

Wir bleiben - Randbeitrag - Forumbattle 35

In diesen Tagen, da sich die Ereignisse des Wendeherbstes 1989 zum 25. Male jähren, werden sie besonders bejubelt. 


All jene, die, zum Teil mit Kleinstkindern über die Zäune der Botschaften in Prag und Budapest stiegen, Kinderwagen mühselig hinterher hievten, die im letzten Moment auf fahrende Züge aufsprangen und ihr Leben riskierten, um in das Land ihrer Träume, in die Freiheit zu gelangen. Sie werden wie Helden gefeiert, sie stehen im Mittelpunkt für den Bruchteil eines Augenaufschlags der Geschichte, wieder einmal.

In diesem Augenblick präsentieren sie die Stolz geschwellte Brust, dabei endete

oft genug ihr Weg ans andere Ufer in Depressionen.

Meine Gedanken gehen zurück, ein viertel Jahrhundert.

Ich sehe die Bilder jener Tage wieder vor mir, spüre fast den feinen Nieselregen, der am 7. Oktober 1989 über Görlitz nieder ging. Feiertag-Geburtstag der Republik. Ich sehe den Dreck, der Häuserfronten und Gehsteige schwarz färbte, fühle fast körperlich die Spannung, die in der Luft lag. Ein Funke, ein Schrei würden genügen, die Stadt in ein Flammenmeer zu verwandeln.

Seit langem saß die Intelligenz unseres Kreises, jeder Wirtschaftsbereich für sich, manchmal auch vereint, zusammen, um zu beratschlagen, wie das allgemeine Dilemma, das Chaos in Wirtschaft und Gesellschaft zu reformieren sei. Das es einer Veränderung bedurfte war klar.

Wir erarbeiteten Konzepte, entwickelten Ideen, die wenigen, die immer noch glaubten, sich zu versündigen, wenn sie nicht konsequent die Auffassungen der Partei, der SED, deklamierten, wurden einfach ausgelacht oder ausgebuht.

Und plötzlich diese Massenflucht, die Bilder im Fernsehen. Jeden Morgen, wenn wir auf Arbeit erschienen, fehlte

wieder jemand. Allmählich wurden auch jene wankelmütig, die bis jetzt fest an diesen Staat geglaubt hatten.

Mein Mann und ich sahen uns an. Was war mutiger, unsere kleinen Kinder auch über solch einen Zaun zu heben oder in der Heimat mit anzufassen, einen Neuanfang zu wagen?

Nein, wir würden bleiben, Freiheit lässt sich verschieden definieren, auch als Einsicht in die Notwendigkeit. Und es war notwendig, dass wir unseren Platz hier behielten und mit zupackten, nicht nur redeten.

In den nächsten Tagen überschlugen sich

die Ereignisse, jeden Tag gab es etwas Neues, Aufregendes. Die Zeitung riss man sich gegenseitig aus den Händen, das Radio lief permanent Tag und Nacht.

Nie wieder habe ich eine so interessante, spannende, aber auch schöne Zeit erlebt.

Vor Weihnachten, mit dem Kohlbesuch in Dresden, schlugen die Wellen in meinem Betrieb besonders hoch. Einige junge Leute bejubelten am Frühstückstisch schon die deutsche Einheit, die D-Mark, ihr Leben damit im Schlaraffenland.

Als Ökonomin wusste ich um die desolate Situation vieler Wirtschaftszweige, aber auch die gewaltigen Veränderungen, die auf

unsere Landwirtschaft zukommen würden. Das deutete sich bereits an. Solche Großbetriebe waren jenseits der Elbe absolut ungewöhnlich, würde man sie kritick- und kampflos hinnehmen?


In der hitzigen Diskussion ließ ich mich zu der unüberlegten Aussage hinreißen:  „Ihr werdet euch noch wundern.“, woraufhin einer dieser Rotzlöffel in geblümter Pippi-Langstrumpf-Radlerhose, er hatte sich eben seiner schmuddeligen Stallkleidung entledigt, aggressiv aufsprang: „Stellt die an die Wand und erschießt sie!“

Ja, in jene Tagen lagen die Nerven und Gefühle durchaus blank, es gab auch

Tote. Jede Revolution verlangt ihre Opfer, nur davon spricht man heute nicht.

Das Recht auf Flucht viele haben es damals wahrgenommen, ein sehr großer Teil ist in der Fremde nicht heimisch geworden oder musste erleben, dass hochfliegende bunte Träume wie Seifenblasen platzten.


Wir sind geblieben, so wie tausende andere auch, zupackend, alle Höhen und Abgründe überstehend, bis heute.

Stellte ich anderen die Frage nach dem Warum, bekam ich stets die Antwort, die auch ich geben würde: Aus Liebe zu

diesem Stückchen Erde mit seinen Granitsteinbrüchen und Heidefeldern, den Teichen und Tagebaurestlöchern, dem kleinsten Mittelgebirge Deutschlands mit seinem höchsten Gipfel, der Lausche, den wir uns ganz brüderlich mit den Tschechen teilen. Es ist da, dieses Gefühl von Heimat, und es wird trotz aller Probleme bleiben.

Vielleicht verlangt das Recht zu bleiben größere Heldentaten als das Recht auf Flucht, und vielleicht sollte darüber mal jemand schreiben.

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Hörbuch

Über den Autor

Albatros99
Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse.
Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie.
Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.

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erato 
Habe deine Sicht der Dinge
mit Interesse gelesen und meinem
Erinnerungsmosaik beigelegt...
HERZlichst
Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
FrozenScorpion Deine Worte gefallen mir sehr gut, war allerdings etwas verwundert, weil bei dem Forumbattel doch steht, dass man ein Gedicht schreiben soll...?
Vor langer Zeit - Antworten
pekaberlin Ja, Christine,
Randbeitrag ist schon richtig!
Auch wenn ich allen Vorrednern widerspreche!
Erstens sehe ich Literatur wie Kunst im allgemeinen nicht als "Schlacht" oder "Gefecht", was ja die Bedeutung von "Battle" ist.
Zwar ist Sprache Waffe, wie Tucho einst schrieb, doch ist sie das in der Auseinandersetzung mit der Realität der Politik!
(Und dein Thema ist ein sehr friedliches, emotionales, das nicht für ein Gefecht taugt.)
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! ... könnte man resümieren.
Würde man heute über die reden, die bleiben wollten und vielmehr über ihre Beweggründe auch zu ändern, zu erneuern und zu verbessern, hieße das ja auch, es muss etwas dagewesen sein, was vielen die Mühe wert schien, den schnellen Verlockungen eine große freudige Anstrengung vorzuziehen.
Da es aber nur wenig gibt, was heute wirklich und vom Wesen her besser ist, belässt man es dabei, die sprechen zu lassen, die den einfacheren Weg wählten. Und dazu kann man philosophische Gespräche führen. Schlachten führen zu diesem Thema nur Propagandisten und Lobbyisten!
Deshalb, chapeau und liebe Grüße
Peter
P.S. Ich las es auch nur, weil "Randbeitrag" drüber stand. Und wir hatten mal wieder einen ähnlichen Gedanken bei unseren Schreibereien.
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Mit Interesse habe ich Deine Geschichte gelesen, liebe Christine. Für mich ist das sehr berührend, obwohl ich selbst niemals gezwungen war, eine derart weitreichende Entscheidung zu treffen. Ich finde, es sollte in Bezug auf Gehen/Bleiben keine Bewertung in GUT oder SCHLECHT erfolgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man damit den einzelnen Menschen und ihrem ganz persönlichen Weg gerecht werden kann. Über Kriterien zum Bleiben zu schreiben, ist jedoch im Sinne der Ausgewogenheit längst überfällig gewesen.
Ich finde auch, Du solltest das als Hauptbeitrag einreichen!
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Vielen Dank für deine aufrichtige Meinung. Ich gebe dir vollkommen recht, doch scheint mir, gerade in diesen Tagen wird es immer schlimmer und wir bekommen immer mehr suggeriert, wer gut und wer böse war/ist, wer gehen darf und wer nicht, und das sagen immer andere. Anstatt die wirklichen Ursachen für Flucht und Vertreibung zu sehen und zu bekämpfen tut man sich groß im Richten. Und was wir sagen (der Westen) ist natürlich auch immer richtig. Man könnte darüber noch lange polemisieren.
Nochmals Dank und einen schönen Tag.
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Dieses Ungleichgewicht bzw. dieses undifferenzierte Betrachten nehme ich - sogar als nicht direkt Betroffene - ganz genauso wahr.
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Liebe Christine,
ich bin sehr froh, dass du das mal geschrieben hast, DANKE!
Mein Mann und ich haben nicht eine Sekunde lang erwogen, nach "drüben" zu gehen.

Liebe Grüße
fleur
Du solltest es als Wertungsbeitrag einreichen!
Vor langer Zeit - Antworten
EllaWolke TOLL das Du es getan hast! Das DARÜBER schreiben ...
Tränchen wegwisch .... War doch Deine Heimat da in den Bergen auch mir mal für eine kurze Zeit Heimat
Gänsehaut
DANKE
Liebe Grüße zu Dir

Vor langer Zeit - Antworten
baesta Liebe Christine,
ja auch ich gehöre zu denen, die blieben. Trotz alledem! Wir waren in jener Zeit im Urlaub in der CSR und hätten uns ja auch auf den Weg über die Zäune der Botschaft machen können. Die Ungewißheit, was uns dort erwartet hätte, hat uns zurück gehalten.
Du hast wieder ein Stückchen Erinnerung an jene Zeit in mir wachgerufen. Schön, aber warum als Randbeitrag?

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
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