+ Ein Beutel Limonen.
Maria war fast noch ein Kind, als sie von ihrem Dorf in
Chiapas nach Mexiko City kam, um für Señor Bueno
dIe Hausarbeit zu erledigen. Es war keine fröhliche
Kinderzeit für das Mädchen, aber Not litt es nicht.
Als Señor Bueno spürte, dass er bald sterben würde,
schrieb er ein Zeugnis für Maria. „Das wird dich eines
Tages vor einem Dilemma bewahren“, erklärte er,
„vorerst verwahre ich es für dich.“
Kaum war Señor Bueno tot, als die Verwandtschaft
herbeieilte. Maria machte sich bereit, das Haus zu
verlassen. Ihr erspartes Geld versteckte sie in ihrem
BH, ihr Zeugnis suchte sie im Schreibtisch des
Verstorbenen, als die Tochter des alten Mannes den
Raum betrat. Die kreischte sofort los: „Hilfe, wir werden
beklaut.“
Chaos brach los, Menschen liefen zusammen, riefen
durcheinander, Hunde kläfften. Der
Schrei: ‚Wir
werden beklaut!, gellte wieder und wieder durch die
Gasse. Ein junger Polizist trat hinzu. Er packte Maria, führte sie
durch die gaffende Menge und schob sie in den Polizei-
Transporter zu den bereits aufgegriffenen Händlern, die keinen
Gewerbeschein vorweisen konnten und
mehreren kleinkriminellen Rotzlöffeln, die wortlos die neue Mitgefangene
musterten. Langwierig war die Prozedur auf der Wache. Die nicht
angemeldeten Waren wurden den Händlern abgenommen,
die sich in langen Reihen aufstellen
mussten. Ein älterer
Beamter musterte die Aufgegriffenen. Viele der
Gesichter waren ihm vertraut. „Na, Nora ,du auch wieder
da“, er lächelte zynisch , „du lernst es wohl nie, dir einen
Gewerbeschein zu besorgen“ .So begann er mit der
Befragung, die klang als deklamiere er.
Maria stand wie erstarrt in der Reihe hinter dem
schmächtigen Mädchen in dem dünnen geblümten Kleid, das mit dem Namen Nora angesprochen worden war. Es antwortete kaum hörbar auf die Fragen, die für sie
bereits Routine waren und wurde durch die Tür
abgeschoben. Als der Beamte das Wort an Maria
richtete, schrak sie zusammen. Anstatt zu antworten,
brach es aus ihr heraus: „Ich habe nichts gestohlen.“ Der
Beamte unterbrach sie . „Mädchen, das wollen
wir hier nicht wissen. Das kommt später. Also die Fragen.
Name, Adresse, Beruf, vorbestraft?“
„Was ist das?“ fragte sie schüchtern. Schallendes
Gelächter. ‚Sie weiß nicht, was ‚vorbestraft ist. Der
Beamte schüttelte missbilligend den Kopf und kritzelte:
‚Nein in diese Spalte. „Du kannst gehen“, brummte er.
„Raus?“ fragte Maria hoffnungsvoll.
„Nein, in die Zelle.“ Mit hängendem Kopf verließ
Maria den Raum. Vor ihr wurde eine Gittertür geöffnet.
Frauen, alte, junge, noch halbe Kinder kauerten am Boden
oder lehnten gelangweilt an der Mauer. Jede Neue wurde
gemustert, ob bei ihr etwas zu holen war. Maria tastete
sich an die nächste Person heran, setzte sich und
versuchte, ihre Augen an das düstere Licht zu gewöhnen.
Langsam gelang es ihr, die Gestalten der Frauen zu
unterscheiden. Neben ihr hockte das Mädchen Nora, das vor ihr
gestanden hatte. Es seufzte leise und veränderte die
kauernde Stellung. „Ein Abend ohne Schläge“, murmelte
es.
„Bekommt man hier Schläge?“, Maria erschrak.
„Keine Schläge, habe ich gesagt“, korrigierte das
Mädchen.
„Zu Hause bekomme ich Schläge, wenn
ich kein Geld
bringe.“
„Dann geh doch nicht heim“, schlug Maria kühn vor.
„Und, wo soll ich hin?“
„Arbeit suchen.“
„Hach, bis du naiv. Das ist leichter gesagt als getan. Und
bei den feinen Herrschaften geht es auch nicht immer
friedlich zu“, stieß das Mädchen hervor und knabbert an
ihren Haarspitzen.
„Weshalb bist du hier?“
„Ich soll gestohlen haben.“
„Kannst du das Gegenteil beweisen?“
„Nein, ich habe nur mein Zeugnis
gesucht, und dabei hat
die Alte mich erwischt.“
„Das sieht schlecht aus. Du musst mit einer
Gefängnisstrafe rechnen“, machte ihr das Mädchen ihr Angst.
„Und du?“, wisperte Maria.
„Ich komme morgen wieder raus. Bei mir fehlt nur der
Gewerbeschein. Ich versuchte jeweils das Geld dafür zu
sparen“, erklärte sie und fuhrt mit der Hand tastend
über den warmen Wollrock von Maria,
die leise vor sich
hin weinte und murmelte:.
„Ich habe Angst, Angst, dass ich hier länger eingesperrt
werde.“
„Weißt du was“, das schmächtige Mädchen rückete etwas
näher, „ich kenne mich hier besser aus. Wir tauschen die
Rollen. Du bist Rosa Magro und ich die kleine Diebin.“
„Das willst du wirklich für mich tun?“ Maria wischte sich
die Tränen weg.
„Hast du Geld?“ raunte Rosa ihr zu.
„Nein“, schwindelt Maria.
„Na, gut, dann tauschen wir wenigstens
die Kleider, so
fällst du morgen nicht auf.“ Maria wurde wankelmütig ,
erklärte sich jedoch einverstanden.
„Aber die Beamten“, gab sie zu bedenken, „werden die
mich nicht erkennen?“
„Kaum, wahrscheinlich sind es andere. Die rufen die
Leute nach den Listen auf. Die Händler kommen immer
zuerst dran.“
„Und wie willst du dann hier rauskommen?“ Maria war
immer noch skeptisch. „Das mache ich schon.“ Rosa
beschrieb eine wegwerfende
Handbewegung. „Lass das
meine Sorge sein.“ Verstohlen betastete sie erneut nach
Marias Rock. Einen so schönen Rock hatte sie ihr ganzes
Leben nicht gehabt. Voller Vorfreude schlief sie ein.
Mit einem unsanften Stoß wurde Maria vor Tagesanbruch
geweckt. „Lass uns die Kleider tauschen. Jetzt ist alles
ruhig“, flüsterte Rosa. Mit langsamen Bewegungen streifte
Maria ihren Rock ab, zog die Bluse über den Kopf. Rosa
schob ihr das dünne Kleid herüber. Es war viel zu eng.
Die Knöpfe schlossen nicht.“ Jeder kann sehen, dass es
nicht mein Kleid ist“, wisperte Maria. Sie spürte die
Depression in ihr.„Ach was“, beruhigte sie Rosa, die um
keinen Preis diese Kleidungsstücke wieder hergeben wollte
und bot ihr ihr graues, vor Dreck starrendes Umschlagtuch an.
„Schling dir das um den Rücken!“ Gehorsam nahm Maria den Schal und rückte ihn so gut wie möglich zurecht. Ihr war es kalt, und die Angst, entdeckt zu wurden, wurde immer
drohender. Nur langsam krochen die Stunden dahin.
Es schien eine Ewigkeit vergangen, als die Gittertür
geöffnet wurde. Mit lauter Stimme verlas der Beamte
die Namen: „Edith Ramon, Marina Garcia, Rosa Magro …
Rosa versetzte der Nachbarin einen Stoß, dass die
auffuhr und stotterte: „Ich, ich.“ Als letzte trottete
sie hinter den aufgerufenen Frauen aus der
Gefängniszelle. Arme und Beine schlotterten vor Angst.
Die kleine Gruppe gelangte über Gänge, treppauf, treppab,
hin zu einem düsteren Raum. Ein
Beamter thronte hinter
einem mächtigen Tisch, er nahm die Liste zur Hand.
„Sind die alle wegen Fehlens des Gewebescheins
festgenommen?“ wollte er wissen.
„Also entlassen wir zunächst die, die die Strafe zahlen
können. “ Maria tastete nach dem Ausschnitt ihres
Kleides. Der Schal rutschte von der Schulter, hastig
rückte sie ihn zurecht.“ Kann niemand zahlen?“ donnerte
die Stimme des Beamten.
„Doch, ich“, meldete sich Maria
„Dann tritt vor! Wie heißt du?“
„Rosa …“ Maria überlegte krampfhaft, fast hätte sie
Riviera gesagt. „Ja, und weiter?“
Der Name war weg, aus dem Gedächtnis ausgelöscht. Der
Mann hinter dem Schreibtisch wurde ungeduldig. Er
überflog die Liste.
„Rosa Magro?“
Maria nickte erleichtert.
„Ja, Rosa Magro“, hauchte sie, zerrte den Brustbeutel
hervor, entnahm das Geld und schob es über den Tisch.
Der Mann nickte zufrieden und kritzelte seine
Unterschrift auf den Entlassungsschein.
„Du kannst deine Ware am Ausgang abholen. Und lass
dich nicht noch einmal ohne Schein erwischen.“ Er machte
eine kurze Bewegung mit der Hand, Maria war entlassen.
Ganz leise, um nicht noch aufzufallen, schloss sie die Tür
hinter sich, dann rannte sie durch die Gänge. Am
Ausgang zeigte sie ihren Schein vor und nahm ein weißes
Bündel in Empfang. Neugierig schaute sie hinein. Limonen.
Sorgfältig verknotete sie die langen Zipfel des Tuches.
Das war nun ihre ganze Habe, ein Bündel
Limonen.
Unentschlossen blieb Maria stehen, mitten im Strom der
Passanten. Ängstlich schaute sie zum Himmel empor. Die
Dunkelheit brach an. Wie gebannt starrte sie in die
Höhe, als habe sie nie im Leben gesehen, wie rasch in
Mexiko der Tag zur Nacht wird. Sie sehnte sich nach
ihrem Heimatdorf am Ufer des Usimasinto
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