Die Erdkugel braucht 24 Stunden um sich einmal um ihre eigene Achse zu drehen.
Die Welt eines einzelnen Menschen allerdings kann sich innerhalb weniger Sekunden komplett auf den Kopf stellen. Da braucht es keinen ganzen Tag, sondern nur wenige, schicksalhafte Momente. Lou Kalt. Alles um mich herum war einfach nur kalt. Nichts als Kälte, Eiseskälte. Alles schien stehen geblieben zu sein, der natürliche Rhythmus meiner Umgebung hatte ausgesetzt. Ich musste mich selbst ans
Atmen erinnern. Der Schmerz brannte in der Brust und er drohte von meinem ganzen Körper Besitz zu ergreifen. Ich war zu schwach um mich dagegen zu wehren. Die Menschenmenge auf dem Friedhof nahm ich nicht wahr. Ich wollte eigentlich gar niemanden sehen. Ich wollte kein „Mein Beileid.“ hören, wollte mit niemandem reden, niemandem in die Augen schauen. Ich bin mir sicher, ich würde es nicht ertragen unendliches Mitleid in sämtlichen Augenpaaren lesen zu müssen. Unter normalen Umständen hatte es die Anwesenden noch nie interessiert, ob unsere Familie wohl auf war. Doch jetzt, da einer von uns unter die Erde geschafft wurde, kamen sie alle angekrochen. Diese
Heuchler. Ich konnte sie alle nicht ausstehen, heute schon gar nicht. Mein Vater war von Kindesbeinen an mein größtes Vorbild gewesen. Ich hatte seine Ruhe und Gelassenheit so sehr bewundert. Für mich hatte er immer eine unglaubliche Weisheit ausgestrahlt, zu jeder Lebenssituation hatte er den passenden Rat parat. Er hatte ein außergewöhnliches Talent dafür immer in Allem das Positive zu sehen. Ich kann mich nicht daran erinnern mich jemals mit ihm gestritten zu haben. Immer wenn ich lauter geworden bin, hielt er inne und sagte mir mit tiefster Gelassenheit. „Mit mir kannst du nicht
streiten, Lou.“ Ich rollte dann immer nur die Augen aber der vermeintliche Streit war aus der Welt geschafft. Er war nie ein Träumer, sondern stets ein Realist gewesen. Er war nie ein Anhänger der Massen gewesen, sondern hatte sich immer sein eigenes Bild zurecht gelegt. Ich war oft angetan davon wie belesen und gebildet er war. Ich wollte aufwachsen und all seine Eigenschaften und Fähigkeiten adaptieren. Ich wollte so sein wie er. Doch jetzt war er nicht mehr bei mir. Er würde mir in Zukunft die Tränen nicht mehr von den Wangen wischen können, wenn ich mal wieder an Herzschmerz litt. Er würde mir kein Lächeln mehr auf die Lippen
zaubern können, wenn alles aussichtlos zu sein schien. Ich vermisste ihn schon jetzt so schrecklich. Es war ein Schmerz, der meinen kompletten Körper, meinen Geist und mein ganzes Herz erfüllte. Er saß tief, ganz tief und schein nicht die Absicht zu haben in nächster Zeit von mir zu weichen. Was ich nur dafür geben würde noch einmal in seine leuchtenden, klugen Augen zu schauen.
„Ist doch alles halb so wild, Lou. Ich weiß Erwachsenwerden ist nicht einfach. Aber wir haben es doch auch alle geschafft.“ Das hatte ich oft von ihm zu hören bekommen. „Wir kriegen dich schon noch an den Mann. Da mach ich mir gar keine Sorgen. Irgendwann stehen die jungen Herren hier
Schlange.“ Dieser Spruch wurde immer von einem herausfordernden Zwinkern begleitet. Er wusste immer was er sagen musste um mich aufzuheitern. Auch wenn ich ihm nicht immer zu hundert Prozent glaubte, fühlte ich mich nach einem Gespräch mit ihm immer um einiges besser.
-
Ein Kreis von schwarzen Gestalten hatte sich um den Sarg gebildet. Köpfe waren zu Boden gesenkt und aus allen Richtungen drangen schluchzende Laute an meine Ohren. Ich sah sie nicht an. Jeder Schritt fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich konnte nicht einmal den Sarg anschauen, geschweige denn dessen Inhalt. Ich blieb
stehen und griff nach der Hand neben mir. Wärme schoss in meinen Arm, unbekannte Wärme. Eine Wärme und Geborgenheit, die ich die letzten Tage und Wochen so sehr vermisst hatte. Die Hand meiner Mutter schlang sich fest um die meine. Ein weiterer Griff nach rechts und ich spürte die kalte, winzige Hand meines Bruders. Er war zu jung um die vollen Konsequenzen der Geschehnisse zu verstehen aber zu alt um seinen Vater einfach vergessen zu können. Zu wissen, dass er mit seinen fünf Jahren schon einem solchen Schmerz ausgesetzt war, brach mein Herz in tausend weitere Stücke. „Wir haben uns heute hier versammelt um
Jan Heger zu gedenken. Er wird für immer in unseren Herzen verweilen.“ Ich vernahm die Worte des Pfarrers, doch ich wollte sie nicht an mich heranlassen, wollte kein einziges Wort wahrhaben. Der Arm meiner Mutter begann zu zittern aber ich konnte die Kraft nicht aufbringen sie zu trösten. Ich war noch nicht bereit Abschied nehmen, jede Faser meines Körpers schrie innerlich und mein ganzes Wesen sträubte sich gegen den Gedanken, dass dies das Ende war. Ich brauchte doch einen Vater. Wie sollte es denn ohne gehen? Jacob brauchte doch jemanden mit dem er später auf der Straße Fußball spielen konnte. Ich brauchte doch jemanden, dem ich meinen ersten Freund vorstellen konnte. Jemand, der demjenigen
dann mit ernster Stimme und erhobenen Augenbrauen sagen konnte: „Wenn du meine kleine Prinzessin verletzt, bekommst du es mit mir zu tun.“ Es war nicht fair, dass uns all das genommen worden war. Mit wem würde meine Mutter abends einschlafen? Wem würde sie alle ihre Sorgen beichten, wer würde ihr Kaffee ans Bett bringen und ihr einen Kuss geben, wenn ihr nicht gut war? Warum wurde uns so ein wichtiger Teil unseres Lebens einfach entrissen? So viele Fragen und so wenige Antworten. „Es ist nun Zeit Abschied zu nehmen.“ Mein Körper schlug Alarm. Nein. Kein Abschied. Ich konnte und ich wollte nicht.
Jetzt liefen auch mir die Tränen die Wangen hinunter. Ich bekam eine rote Rose in die Hand gedrückt und wurde von unbekannten Händen hinter mir Richtung Sarg befördert. Ich wollte mich wehren, wollte um mich schlagen und zurück zu meiner Mutter und meinem Bruder rennen aber mein ganzer Körper war wie eingefroren. Ich ließ mich schieben, immer weiter auf das Grab zu. Ich schloss die Augen als ich direkt daneben stand. Alles in mir schauderte, ich zitterte am ganzen Körper. Ich konnte nicht hinsehen. Der Gedanke, dass mein Vater darin lag, stumm und reglos, machte mich krank. Plötzlich griff erneut jemand nach meiner Hand. Meine Augen schossen offen und ich
blickte auf Jacob hinunter, der sich rechts neben mich geschoben hatte. Sein Blick war leer und er sah mich nicht an sondern nur auf den Sarg vor uns. Er holte tief Luft.
„Tschüss, Papa. Ich hab meinem Schutzengel gesagt, er soll jetzt lieber auf dich aufpassen im Himmel.“ Mein Herz schmerzte als ich Jacob diese Worte flüstern hörte. Ich hatte ihm immer von Schutzengeln erzählt, wenn er mal wieder glimpflich davon gekommen war. Wenn er hingefallen war und nichts weiter geschehen war als ein aufgeschürftes Knie hatte ich immer gesagt: „Da war dein Schutzengel aber mal wieder fleißig!“ Er hatte immer gegrinst und gesagt er habe ja
auch den coolsten und stärksten Schutzengel überhaupt. Und genau diesen Schutzengel hatte er jetzt zu unserem Vater geschickt mit der Aufgabe nun ein Auge auf ihn zu haben.
„Aber du brauchst doch auch einen Schutzengel, Jacob!“ sagte ich leise zu ihm. Er schaute zu mir hoch. „Nein, ich bin doch jetzt schon groß, da kann ich auf mich selbst aufpassen.“ Sagte er äußerst überzeugt und ich brachte sogar ein kleines Lächeln hervor. Er ließ meine Hand los und lief schnell zurück zu meiner Mutter. Ich war an der Reihe. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und schaffte es mich direkt vor die große Kiste aus Holz zu stellen. Ich legte vorsichtig die rote Rose
darauf und trat wieder ein paar Schritte zurück.
„Auf Wiedersehen, Papa. Spätestens im Himmel sehen wir uns wieder. Ich hoffe du schaust stolz auf uns herab. Du fehlst mir so sehr, ich liebe dich.“ Flüsterte ich nur für mich und ihn. Keiner brauchte diesen intimen und persönlichen Moment mitzubekommen. Ich wollte glauben, dass es einen Himmel gibt. Ich wollte glauben, dass er täglich von Wolke zu Wolke hüpfen würde und uns stets im Auge behalten würde. Doch irgendwie gelang es mir nicht wirklich. Ich schloss die Augen um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Ich wollte nicht noch mehr Mitleid, keine
tröstenden Hände auf meiner Schulter. Ich wollte einfach nur allein sein. Allein mit dem Schmerz. No Die Trauer und der Schmerz liefen durch ihren kompletten Körper. Ich konnte es sogar aus der Ferne sehen. Ich wollte zu ihre rennen, sie in den Arm nehmen. Ihr sagen, dass es mir Leid tat. Dass ich wusste wie es ist jemanden aus seinem Leben streichen zu müssen. Doch ich wusste auch, dass es genau das war, was sie jetzt in diesem Moment nicht wollte. Und schon gar nicht von mir, einem fremden Jungen,
der sich wie ein Schwerverbrecher hinter einem Busch auf dem Friedhof versteckte und die Geschehnisse aus der Distanz beobachtete. Im Nachhinein frage ich mich oft, ob es ihr nicht besser ergangen wäre, wenn sie mich erst gar nicht kennen gelernt hätte. Doch die Dinge lassen sich nicht mehr ändern. Ihr Vater würde nicht auf einmal putzmunter aus dem Sarg gekrochen kommen. Es würde nicht alles wieder gut werden, der Schmerz saß schon jetzt tief. Ich redete mir immer wieder ein, dass ich ihr vielleicht doch gut tun könnte. Ich fühlte mich so beängstigend stark zu ihr hingezogen. Ich konnte es einfach nicht ignorieren, meine Blicke waren einzig und allein auf sie gerichtet.
Der laue Wind strich freundlich und sanft durch ihr langes, braunes Haar und schmiegte sich an ihre Wangen. Sie war blass aber trotz allem atemberaubend schön. Ihre vollen Lippen und ihre großen, grünen Augen, die so viel erzählten. Im Moment erzählten sie allerdings vor allem von Schmerz, Verlust und der Sehnsucht nach Glück. Dabei verdiente sie dieses Glück doch so sehr. Ich kannte sie nicht einmal wirklich und trotzdem fühlte ich mich, als wüsste ich alles über sie. Ich verstand ihre Gefühle, konnte nachvollziehen was sie durchmachte. Sie platzierte eine rote Rose auf dem Holz des Sarges und nahm sich einen Moment Zeit
um endgültig Abschied zu nehmen. Doch ich wusste genau, dass ihr Herz schlimmer schmerzte denn je. Es war grauenvoll still geworden. Der Schwall an weinerlichem Wimmern und Schluchzen hatte nachgelassen. Alle starrten sie Lou an. Sie war in schwarzen Stoff gehüllt. Ein schwarzes Kleid, einen langen Schwarzen Mantel, sogar ein schwarzes Haarband hatte sie sich in die Haare gemacht. Sicherlich hatte sie an diesem Tag keinerlei Wert auf ihr Äußeres gelegt, hatte aber trotzdem etwas Bezauberndes an sich.
Ich wusste genau, dass es das falsche war. Ich wusste genau, dass ich ihr damit im Endeffekt nichts Gutes tun würde. Ich würde sie so sehr enttäuschen, falls jemals
die Wahrheit ans Licht kommen würde.
Aber ich konnte nicht anders.
Ich musste sie kennenlernen.
>
Lou Alle waren gegangen, ich blieb allein auf dem Friedhof zurück. Ich wollte nicht zu ihnen zurück, mir war nicht danach mit irgendwem zu reden oder zu versuchen eine freundliche Miene aufzusetzen. Die Trauer saß zu tief. Ich wandte meinen Blick nach links und sah auf die kleine Kapelle, die an das Friedhofsgrundstück angrenzte. Das war der perfekte Ort für mich und meinen momentanen Zustand. Ich fühlte mich ein wenig schlecht dabei, meine Mutter und meinen kleinen Bruder an diesem Tag
einfach allein zu lassen aber heute durfte ich auch einmal ein wenig egoistisch sein. Was ich brauchte war Ruhe und Stille. Und das würde ich nur in der kleinen Kapelle finden können. Es war duster, fast gespenstisch. Etwas Vertrautes lag in der Luft. Ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit überkam mich, während ich durch den Mittelgang an den Reihen aus Holzbänken vorbei auf den Altar zusteuerte. Ich setzte mich in die zweite Reihe von vorne und starrte ins Leere. Ich war nicht gekommen um zu beten oder mich bei Gott oder sonst wem zu beschweren. Ich war gekommen um in mich zu gehen, zu überlegen wie es denn jetzt
nur weitergehen könnte. Seit Tagen fühlte ich mich als würde sich dauerhaft alles um mich herum drehen. Und das nicht in Zeitlupe sondern beunruhigend schnell. Ein ständiges Gefühl des Schwindels hatte sich eingeschlichen und ich wurde es nicht mehr los. Die Kapelle strahlte eine starke Friedlichkeit aus. Das Wetter an jenem Tag war durchwachsen, doch Sonnenstrahlen hatten sich durch die Fenster gekämpft und warfen Schatten in allen möglichen Formen und Größen in den Kirchenraum. Es war fast als wolle mir das Universum sagen, dass auch an dunklen Tagen die Sonne immer einen Weg aus dem Schatten findet und uns, auch wenn es nur wenige Strahlen sind, ein kleines Licht
schenken möchte. Ein kleines Licht, das Hoffnung mit sich bringt. Ein Licht am Ende des Tunnels, ein Ausweg, der Besserung verspricht. Eigentlich ein schöne Vorstellung, doch nicht einmal die konnte mich wirklich trösten. Auf einmal flog die Tür hinter mir auf. Ich zuckte zusammen und schnellte herum. Eine große, männliche Person war in den Raum getreten. Er bemerkte mich sofort und ich spürte wie mein Atem stockte und der Schlag meines Herzens an Fahrt aufnahm. Wer war das und warum kam er ausgerechnet jetzt an diesen abgelegenen Ort? Ich konnte nur die Umrisse seines
Gesichtes erkennen, er stand im Schatten. Alles was ich sehen konnte waren schulterlange, braune Haare. „Entschuldigung.“ Sagte er ein wenig unsicher und schuldbewusst. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wusste nicht, dass auch andere hier alleine herkommen.“ Er trat ins Licht. Ich reagierte nicht auf das, was er gesagt hatte, sondern schaute ihn einfach nur an. Seine Augen waren so ausdruckstark, wie ich es noch nie gesehen habe. Ein stechendes Blau. Er war das lebende Klischee eines Mädchenschwarms. Seine Gesichtskonturen waren ausgeprägt, seine Wangenknochen stark und seine Lippen voll.
„Ich komme hier oft zum Nachdenken hin. Wenn ich allein sein will, wenn ich niemanden sehen möchte. Es ist ein guter Ort um still seine Gedanken los zu werden ohne, dass ständig jemand dazwischen redet und nervt. Ich mag es nicht wenn ständig jemand -“ er hielt inne, schien kurz zu überlegen. „Oh man, ich mach ja gerade selbst nichts anderes als ohne Punkt und Komma zu quasseln und dich zu nerven.“ Er seufzte und ohne, dass ich es beabsichtigte verzogen sich meine Lippen zu einem kleinen Lächeln. Für einen echten Lacher war es noch um einiges zu früh aber das war zumindest einmal ein Anfang.
Irgendetwas an diesem Jungen strahlte eine unglaubliche Sympathie aus, die mich sofort ergriffen hatte. Er schien so offen und herzlich, behandelte mich wie eine alte Freundin, die er jetzt merkwürdigerweise in einer verlassenen Kapelle wieder getroffen hatte. „Ist schon gut. Vielleicht ist allein sein heute doch nicht das Richtige für mich.“ Sagte ich und war selbst überrascht über das, was da meinen Mund verließ. Hatte ich ihn gerade indirekt dazu aufgefordert zu bleiben und mich weiter zu „nerven“? Sah ganz so aus. Eine komische Situation. Doch der Drang allein zu sein, war auf einmal verschwunden.
No Du bist ein Lügner, No. Ein schlechter Lügner und ein ganz dreister. Du kommst hier also ab und zu hin um allein zu sein und nachzudenken? So ein Schwachsinn! Hättest du nicht noch ein paar Tage warten können? Musstest du ihr denn direkt am Tag des Begräbnisses ihres Vaters auf die Pelle rücken? Hat sie nicht ein wenig Ruhe und Einsamkeit verdient? Hat sie nicht ein Recht darauf zu trauern? Die Fragen flogen in meinem Kopf hin und her, kreuz und quer. Ich hatte keine Zeit, keine Nerven sie zu beantworten. Ich ließ mein Herz
handeln, ignorierte meinen Kopf. Ich war schon immer ein Gefühlsmensch gewesen, der immer aus dem Bauch heraus entschieden hatte und so würde das auch bleiben. Ich hatte sie überrumpelt. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. Auch in ihrem Kopf überschlugen sich offensichtlich die Fragezeichen und ich war ihr absolut nicht geheuer. Und was mach ich Genie? Überschutt sie mit einem Schwall an Worten. Immer wenn ich nervös werde bricht es aus mir heraus. „Darf ich mich setzen?“ Die Frage war zögerlich. Sie schaute mich für einen Moment an. Es war ein durchbohrender und prüfender Blick, als versuche sie in meinen
Augen zu lesen, ob ich vertrauenswert war oder nicht. Die Unsicherheit spiegelte sich in ihrem ganzen Körper wieder. Sie war angespannt und hatte die Hände aufeinander gepresst, während sich ihr linkes Bein nervös auf und ab bewegte. Sie antwortete nicht aber nickte mir auf einmal zu. Ich lächelte und nahm neben ihr Platz. Für einige Augenblicke starrten wir schweigend vor uns hin. Im Augenwinkel sah ich, wie sie das ein oder andere Mal ihren Kopf erwartungsvoll in meine Richtung neigte aber ich fühlte mich als hätte ich das Sprechen verlernt. Mein Kopf schaffte es nicht mehr sinnvolle und korrekte Sätze zu formen und ich traute mich nicht mehr den Mund aufzumachen.
Ich hatte Angst, dass nur Schwachsinn aus mir herausplatzen würde und ich sie ein für alle Mal vergraulen und abschrecken würde. Was erzählt man sich denn aber auch an einem Ort wie diesem? Ich wusste generell nicht wie man vorgeht, wenn man ein Mädchen kennenlernen möchte. Ich hatte mir zuvor nicht wirklich viel aus dem weiblichen Geschlecht gemacht. Doch sie war eine Ausnahme, wahrscheinlich die einzige Ausnahme. „Ich bin No.“ Mein Körper drehte sich auf einmal zu ihr um. Gelegentlich fühlte ich mich wie ferngesteuert, als wäre ich nicht Herr meiner eigenen Sinne und Bewegungen. Ich streckte ihr meine Hand
entgegen. Relativ schnell erwiderte sie die Geste. „Lou.“ Sagte sie und schaute mir direkt in die Augen. „Ich weiß.“ Noch während ich diese beiden Worte sagte, hätte ich mir selbst eine Ohrfeige verpassen können. Ihre Stirn legte sich in Falten und ihre Augen weiteten sich augenblicklich. „Was soll dass den heißen?“ fragte sie und klang fast schockiert. Du Idiot. No, du absoluter Vollidiot. Sie wird mich für einen Stalker halten, einen Perversen, der nichts Besseres zu tun hat als ihr hinterher zu stehlen und alles über sie herauszufinden. Aber so war es nicht, auch wenn es zugegebener Weise sehr danach aussah. Meine Motive waren völlig andere aber auch die konnte ich ihr nicht sagen.
Cool bleiben. Du hast doch Humor, und rausreden konntest du dich aus brenzlichen Situationen auch schon immer recht gut. „Wir waren im gleichen Kindergarten. Ich hab dich gleich wieder erkannt.“ Was eine schlechte Ausrede. Jetzt log ich ihr auch noch direkt ins Gesicht. Doch ihre Gesichtsmuskeln entspannten sich sofort. Sie schien mir tatsächlich zu glauben. „Wirklich? Ich erinnere mich leider nicht wirklich an die Kindergartenzeit, zumindest nicht in großen Details.“ Sie überlegte, versuchte mich vermutlich mit einem kleinen Kind aus ihrem Gedächtnis in Verbindung zu bringen. Natürlich ohne Erfolg. Ich war nie in ihrer
Kindergartengruppe gewesen. Unsere Verbindung war von ganz anderer Natur.
Es war eine Verbindung, die ich mit gutem Grund lieber verschwieg.
No „Hast du vor heute den ganzen Tag hier herumzusitzen und Löcher in die Wand zu starren oder wollen wir etwas Spannenderes mit den verbleibenden Stunden anfangen?“ Ich war von mir selbst überrascht und beeindruckt, wie überzeugend ich den coolen Typ spielen konnte. Gleichzeitig hätte ich mir erneut selbst eine Backpfeife verpassen können. Natürlich wollte sie am Tag der Beerdigung ihres Vaters herumsitzen und Löcher in die Wand starren. Sie wollte traurig sein und das sollte sie auch dürfen. Aber auf der anderen
Seite wollte ich ihr auch nicht erlauben sich in ihrer Trauer zu ertränken. Dafür war sie viel zu wertvoll. Sie schaute mich etwas irritiert an, aber ihre Augen funkelten mir freundlich entgegen. „Nur wenn du mich mit deinen Plänen überzeugen kannst. Meine Erwartungen sind hoch.“ Sagte sie und verzog ihren linken Mundwinkel zu einem kleinen, verschmitzten Lächeln. Das war meine Chance. Komm schon. No. Sei kreativ. Ich wollte ihr nicht zu nahe treten und eine super romantische Unternehmung vorschlagen, ich wollte sie aber auch nicht langweilen. „Darf ich dir meine Lieblingsbeschäftigung
zeigen?“ „Die wäre?“ Die Gegenfrage kam sofort und ich grinste sie nur an. Sie würde mich für bescheuert halten. „Leute beobachten.“ Sie ließ einen Laut von sich, der sich zu einer Hälfe belustigt und zur anderen abgeneigt anhörte. Lou Er nahm mich mit in den Park, der wenige Minuten vom Friedhof entfernt lag. Leute beobachten, hatte er gesagt. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, weshalb man das als seine Lieblingsbeschäftigung bezeichnen würde, aber ich war viel zu neugierig um nicht mitzukommen.
„Und jetzt? Wie funktioniert dieses faszinierende Leute Beobachten?“ fragte ich absichtlich sarkastisch. „Ich finde es nicht in Ordnung, dass du dich über mich lustig machst. Du wirst noch Spaß daran haben, glaub mir.“ Er nahm mit einem Mal meine Hand und zog mich mit ihm. Es fühlte sich an wie ein elektrischer Schlag, der durch meinen kompletten Arm wanderte. Die Härchen auf meinem Arm stellten sich auf und ein kalter Schauer lief meine Wirbelsäule hoch und runter. Er schien sich nicht weiter Gedanken über diese Geste zu machen und zog sich einfach mit mir und hielt meine Hand eng umschlungen. Meine Wangen
glühten und ich stolperte unbeholfen hinter ihm her. Er zerrte mich auf eine Bank und ich musste erst einmal tief Luft holen. „Gut.“ Sagte er, sichtlich zufrieden. Er machte es sich neben mir bequem und schwenkte seinen Blick zur Seite. „Schau dich um. Dieser Park ist zu jeder Tageszeit gut besucht. So viele verschiedene Menschen, die so viele verschiedene Geschichten erzählen. Wenn sie hier an mir vorbeilaufen, rennen oder joggen mache ich mir einen Spaß daraus, mir die passende Lebenssituation und Geschichte zu jedem Einzelnen auszudenken. Viele bringen mich zum Lachen aber manchen ist auch nichts als Trauer und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Diese Menschen erinnern mich
dann immer daran, dass ich nicht der Einzige bin, der eventuell eine harte Zeit durchmacht. Da sind auch Andere, die mit alltäglichen Dingen zu kämpfen haben. Hier zu sitzen bringt für mich alles wieder in Perspektive und ich kann ein wenig reflektieren.“ Ich sog jedes seiner Worte auf. Er hatte einen so ungewöhnlichen und wunderschönen Blick auf die Welt. Die meisten Menschen gehen planlos und ohne sich umzusehen durchs Leben. Doch er, er hatte ein weitläufiges Sichtfeld. Er sah die Menschen anders als ich, er konnte ihre Geschichte an ihren Gesichtszügen ablesen. Ich war beeindruckt, höchstwahrscheinlich sichtlich beeindruckt. Und ich wollte es
selbst testen, wollte mir meine Mitmenschen einmal genauer anschauen. „Lass es uns zusammen machen. Zwei Augenpaare sehen mehr als eins.“ Sagte ich und lächelte ihm schüchtern zu. Er nickte und drehte seinen Kopf wieder dem Weg zu. Die erste Person, die unsere Blicke kreuzte war eine ältere Dame mit einem Dackel, der vor ihr herlief. Sie war klein, schon ein wenig nach vorne gebeugt. Sie trug einen roten Stoff-Hut mit einer Blume an der Seite. Sie hatte ihre Einkäufe in eine Tasche gepackt und sich über die Schultern gehängt. Sie schien ein wenig Mühe zu haben mit ihrem Hund mitzukommen, doch sie schien sichtlich froh zu sein über ihren
kleinen Nachmittagsspaziergang. „Was fällt dir ein wenn du diese alte Dame betrachtest?“ ich hielt kurz inne aber eigentlich hatte ich eine ganz genaue Vorstellung davon, wie ich mir ihre Lebensgeschichte vorstellte. „Sie hat ein sehr vielseitiges und erfülltes Leben geführt. Schon jung hat sie ihre große Liebe getroffen. Er hat ihr zwei wunderschöne Kinder geschenkt, ist dann in den Krieg gezogen und musste sie zurücklassen. Sie hat eine beeindruckende Stärke entwickelt und die Kinder in den ersten Jahren allein großgezogen ohne zu wissen ob sie jemals wieder einen Vater haben würden. Als er dann unversehrt zurückkam, war das Familienglück perfekt.
Er nach vielen, vielen gemeinsamen Jahren musste er sich schließlich seiner Altersschwäche hingeben. Ihre Kinder sind ihr immer noch eine große Freude, besuchen sie regelmäßig und haben ihr bereits drei niedliche Enkelkinder beschert. Sie ist auch auf ihre alten Tage, dank ihres kleinen Dackels, noch fit und verbringt ihre Tage mit backen, kochen und spazieren gehen. Wenn ich alt bin möchte ich all das auch von mir behaupten können. Eine glückliche Ehe, gesunde und zufriedene Kinder und im besten Falle auch schon Enkelkinder, die mir meine alten Tage versüßen.“ Ich seufzte und schaute verträumt in die Leere. Der Gedanke an eine solche Zukunft erfüllte mich mit einem
ungewohnten und schönen Gefühl der Hoffnung. Auch wenn meine Kinder nie einen Opa haben würden hieß das nicht, dass wir kein erfülltes und zufriedenstellendes Leben führen könnten. Ich lächelte. Ein schöner, motivierender Gedanke. Ich wollte einen guten Vater für meine Kinder finden, einen Menschen der eine ähnliche Stellung in ihrem Leben einnehmen würde wie mein Vater in meinem. Jedes Kind hat einen Vater verdient, der ihm unendliche und uneingeschränkte Liebe entgegenbringt. Ein Vater sollte seine Kinder auf Händen tragen und sie mit allem verteidigen was er hatte. Er sollte immer ein offenes Ohr für sie haben und sie in der bestmöglichen Art und
Weise auf ihrem Lebensweg begleiten. „Und schon hast du es raus.“ Sagte No und unterbrach meinen Gedankenfluss. „Du bist ein Naturtalent. Ein gutes Gefühl, nicht wahr? Zu überlegen wohin das Leben einen Menschen tragen kann?“ Ich nickte. Wir fuhren fort und erzählten uns gegenseitig noch viele weitere Lebemsgeschichten. Unter ihnen war ein Geschäftsmann, der unglücklich mit seiner momentanen Situation war, da er vor lauter Karriere keinerlei Zeit mehr für seine Familie hatte. Ein kleiner Junge, dem wir eine Profifußballkarriere prophezeiten. Ein junges Mädchen, dem wir das gebrochene Herzen in den Augen ablesen konnten. Eine
junge Frau, die unserer Meinung nach kurz vor dem Burn-Out stand und ein kleines Mädchen mit seiner Mutter, das gerade laufen gelernt hatte und dessen Leben noch so viele neue Erfahrungen und Erlebnisse bereit stehen hatte. Er hatte mich erfolgreich abgelenkt und meine Sympathie für ihn stieg von Minute zu Minute. Ich fühlte mich, als würde ich ihn schon viel länger als nur einige Stunden kennen. Ich wollte mir meinen eigenen Lebensweg zeichnen und fragte mich auf einmal wie dieser wohl aussehen würde. Wer würde meine Wege in der Zukunft kreuzen? Wo würde ich leben? Würde ich eine Familie gründen und würde ich mein Glück finden? Und seltsamer Weise war die
Frage, die ich mir in meinem Kopf am häufigsten stellte: Würde No diesen Lebensweg in irgendeiner Weise mit mir bestreiten? No Der Nachmittag mit ihr war perfekt, einfach nur perfekt. Sie ließ ihrer Kreativität freien Lauf, erfand die spannendsten und ungewöhnlichsten Lebensgeschichten für die Menschen, die an unserer Bank vorbeigingen. Ich war beeindruckt, wie leicht es ihr auf einmal fiel sich mir zu öffnen und ihre Gedanken mit mir zu teilen. Auch wenn sie es nicht so sah, hatte sie trotz allem einen sehr ähnlichen Blick auf
die Geschehnisse wie ich. Erst nach ungefähr 3 Stunden beendeten wir unsere kleine Märchenstunde und verabschiedeten uns. Ich wusste zunächst nicht was ich sagen sollte. Ich wollte sicher gehen, dass wir uns auf jeden Fall wiedersehen würden. Aber wie? Ich wusste es nicht. Sie schien von mir zu erwarten, dass ich den ersten Schritt machte, aber auf einmal hatte mich mein Mut verlassen. Umarm sie wenigstens, dachte ich. Das wirst du ja wohl noch hinbekommen. Ich holte tief Luft und zog sie zu mir. Meine Arme schlangen sich um ihre Schultern und drückten sie sanft an meinen Oberkörper. „Pass auf dich auf.“ flüsterte ich in ihr Ohr, bevor ich ohne ein weiteres Wort davonlief.
-- „Hallo?“ rief ich als ich das Haus betrat. Sofort stand meine Mutter im Türrahmen. Ihre Stirn hatte sich zu besorgten Falten verzogen. „Wo warst du? Sag mir nicht, dass du auf dem Friedhof warst. No, ich weiß, dass die Beerdigung heute war. Ich bin nicht blöd, auch wenn du mich oft dafür verkaufst.“ Ich seufzte. Ich hatte nicht die Nerven mich jetzt mit meiner Mutter zu streite,n aber es schein unvermeidbar. „Doch, ich musste.“ Meine Mutter ließ einen wütenden Laut von sich.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich von ihnen fernhalten. Wir haben dieser Familie schon genug Schaden bereitet. Denkst du nicht, dass sie wegen uns schon genug leiden mussten?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ihnen nichts getan und ich würde mich nicht für etwas entschuldigen, was ich nicht getan hatte. „Wo warst du denn dann den ganzen Nachmittag? Keine Beerdigung der Welt geht so lange.“ Ich war zu müde und zu frustriert um sie anzulügen. „Ich war bei Lou.“ Das war zu viel für meine Mutter, sie explodierte förmlich und wäre mir vermutlich am Liebsten an die
Gurgel gegangen. Sie schaffte es gerade noch sich zurück zu halten. Sie holte einmal tief Luft und sagte mit ernster Stimme.
„No, du tust diesem Mädchen nicht gut. Du weißt genau was passiert ist. Wenn sie erfährt, wer du wirklich bist wird sie dir nie vertrauen. Wenn sie das erfährt, wirst du sie für immer verlieren und ihr das Herz brechen. Mach ihr keine Hoffnungen. Wieso musst du alles nur noch schlimmer machen?“
Sie hatte Recht. Warum musste sie immer Recht haben?
LonelyWolf Du schreibst wirklich sehr schön und sehr bildhaft. Ich bin gespannt wie es weitergeht! |
Apollinaris Schönes Buchcover! |
TaraMerveille Habe gleich weiter gelesen. Und plötzlich habe ich Fragen in meinem Kopf. Wer ist No? Und warum ist seine Mutter so sauer, dass er auf dem Friedhof war? Hat er etwas mit dem Tod von Lous Vater zu tun? Ich bin gespannt. LG Yvonne |
TaraMerveille Wieder sehr schön beschrieben. Freue mich auf die Fortsetzung.LG Yvonne |
TaraMerveille Habe heute Abend dein BUch entdeckt. Und was soll ich sagen? Mir sind beim Lesen die Tränen gekommen. Du hast die Szene auf dem Friedhof mit so schönen Worten und mit viel Emotionen geschrieben. Bin gespannt auf mehr. LG Yvonne |