„Versuche nicht, ein erfolgreicher, sondern ein wertvoller Mensch zu werden.“
Albert Einstein
Mattis lag wie fast jede Nacht in seinem Bett und starrte an die Decke. Durch das Fenster fiel das Licht der Straßenlaterne, welches immer wieder durch einen wehenden Ast unterbrochen wurde und ein wirres Schattenspiel an die Decke warf. Er hatte seine Arme unter dem Kopf verschränkt und merkte, wie sich das Blut darin staute und die Finger zu kribbeln begannen. Dieses Gefühl machte ihm jedoch nichts aus, vielmehr hatte er so die Gewissheit nicht zu träumen und lebendig zu sein. In Gedanken ließ er den Tag Revue passieren.
Als er heute Morgen aufwachte war er ein zufriedener Mann, dem es nicht hätte besser gehen können. Vor einem Jahr wurde er zum stellvertretenden Geschäftsführer der Medienagentur ernannt und auch sein neues Auto konnte sich sehen lassen.
Er nahm seine Freundin wie jeden Tag in den Arm, drückte sie, küsste sie sanft auf die Wange und wünschte ihr einen schönen guten Morgen. Er ging ins Bad, betrachtete seine langsam älter werdende Haut, die Fältchen um seine Augen und erkannte Gesichtszüge seines Großvaters wieder, was ihm ein wohliges Gefühl bereitete. Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und sagte: „Na,
Junge. Das Leben ist kein Kinderspiel, was?“, genauso wie es sein Großvater damals tat. Mattis schüttelte lächelnd den Kopf, fuhr sich mit den Händen durch das verschlafene Gesicht und drehte den Wasserhahn auf. Das kühle Nass weckte umgehend seine Lebensgeister. Komisch, dass er gerade heute an seinen Großvater denken musste, hatte er ihn nach all den Jahren schon fast vergessen.
Während er sich die Zähne putzte, schaute er sich zufrieden in dem geräumigen Badezimmer um. Sie waren erst kürzlich in die Dachgeschosswohnung im Herzen von Frankfurt gezogen. Die Wohnung besaß
eine große Dachterrasse, von der man einen wunderschönen Rundblick über die Skyline hatte. Fast jeden Abend saß er draußen und genoss den Sonnenuntergang, trank ein Glas Wein und plante ihren nächsten Urlaub. Wieder schlich Mattis ein Grinsen über die Lippen. „Ich bin ein glücklicher Mann!“, dachte er bei sich und sah noch einmal zu seiner Freundin, die immer noch in eine Decke eingewickelt im Bett lag.
Er ging in die Küche und machte sich eine große Tasse Kaffee, schmierte sich ein Brot und räumte, während er aß, seine Arbeitstasche ein. Es würde ihm wohl nie gelingen seine Sachen bereits
am Abend vorher zusammen zu suchen, mehrere Versuche diesbezüglich scheiterten schon nach wenigen Tagen.
Um 7:14 Uhr verließ er die Wohnung, wie an jedem Dienstag. Direkt vor ihrer Wohnungstür befand sich der Aufzug, ein altes aber treues Schätzchen, was gelegentlich seine Macken hatte. Nicht auszudenken, wenn er jeden Tag bis in den elften Stock laufen müsste. Nach kurzer Zeit ertönte das mittlerweile vertraute „Pling“ des Fahrstuhls und Mattis stieg ein. Er drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss, lehnte sich an die kühle Wand und schloss die Augen.
Nach einiger Zeit öffnete er seine Augen wieder und war verwundert, dass er immer noch nicht im Erdgeschoss angekommen war. War er eingeschlafen? Ist der Aufzug stecken geblieben? Er schaute auf die Anzeige, welche in roten Zahlen abwärts zählte…8…7.
Erstaunt schaute er auf seine Armbanduhr, 7:34 Uhr. Das konnte nicht sein! Mattis rieb sich die Augen. 7:34 Uhr, tatsächlich! Aber das würde ja bedeuten, dass er bereits seit 20 Minuten in dem Fahrstuhl stand und dieser erst wenige Stockwerke gefahren war. Er drückte erneut auf den Knopf für das Erdgeschoss. Nichts geschah. Plötzlich wurde ihm schwindelig, die Zahlen der
Anzeige verschwammen und ihm wurde schwarz vor Augen.
Als Mattis wieder aufwachte, lag er auf dem Boden des Aufzuges. Eine ältere Dame schaute ihn durch die offene Tür erschrocken an und fragte, ob es ihm gut gehe. Benebelt nickte er den Kopf, raffte sich auf und strich seinen Anzug glatt. Er nahm seine Tasche und verlies leicht torkelnd den Aufzug. Immer noch benommen schüttelte er seinen Kopf und ging zum Ausgang des Hauses. Der Portier öffnete ihm die schwere Holztür und begrüßte ihn mit einem freundlichen: „Oh Herr Norde, sie sind aber spät dran heute! Ich wünsche Ihnen
einen schönen Tag!“. Ohne darauf zu reagieren ging Mattis hindurch und reihte sich in den Strom der Fußgänger ein.
Nach ein paar Metern bog er rechts ab und lief entlang der Birkenallee, wie er es jeden Morgen tat. Aber im Gegensatz zu sonst, kam ihm nicht der alte Mann mit seiner Hündin entgegen. Auch die junge Frau mit dem Kinderwagen und ihrem quengelndem Sohn im Schlepptau war weit und breit nicht zu sehen. Sein Gang beschleunigte sich, jedoch hatte er nicht das Gefühl von der Stelle zu kommen. Während er die Allee hinunter eilte hielt er seinen Kopf gesenkt und
betrachtete den steinigen Weg. Als er wieder aufschaute fand er sich vor dem ehemaligen Haus seiner Großeltern wieder, welches einen guten Kilometer östlich von seiner Arbeit entfernt lag. Die Fensterläden waren frisch gestrichen, aber sonst hatte sich das Haus nicht verändert. Warum war er hier? Erst die plötzlichen Erinnerungen an seinem Großvater und nun das!
Er blieb eine Weile und ohne jegliche Regung vor dem Haus stehen, den Blick auf die Haustür gerichtet. Noch nie hat er sich so leer gefühlt wie in diesem Moment.
Plötzlich sprang die Haustür auf und ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und einem roten Mantel kam jauchzend die drei Stufen hinunter gesprungen. Sie hüpfte auf Mattis zu und zupfte ihn an der Anzugjacke. „Warum guckst du so traurig?“, fragte sie und sah ihn mit großen Augen an. Mattis sah verwundert an sich hinunter. Das Mädchen ging ihm nicht einmal bis zur Hüfte und schaute ihn nun direkt in die Augen. „Sei nicht traurig, alles wird gut, wenn du mit dem Herzen siehst!“, sagte das Mädchen, lief lachend zurück zum Haus, eilte die Stufen hinauf und schloss die Tür hinter sich. Er blieb noch eine Weile wie angewurzelt stehen und bemerkte dann,
wie ihn jemand aus einem der oberen Fenster anblickte. Mattis hob den Kopf und versuchte zu erkennen, wer sich hinter der Gardine verbarg, jedoch erkannte er nur die Umrisse eines Mannes. Als er einen Schritt auf das Haus zu machte, um besser sehen zu können, verschwand die Gestalt im dunklen Inneren des Gebäudes. Ihm wurde mulmig zumute. Warum meint das Kind zu wissen wie es ihm geht? Sah er so schlecht aus? Und warum starrt ihn dieser Mann am Fenster so an?
Mit einem Schlag wurde ihm wieder bewusst, warum er das Haus die letzten Jahre gemieden hatte. Schon als kleiner
Junge hatte er sich hier nicht wohl gefühlt. In seinen Augen hatte das Haus eine dunkle Seele, weshalb er seine Großeltern nie gerne besucht hatte. Dies lag jedoch ausschließlich an dem Haus und nicht an ihnen. Sein Großvater konnte die spannendsten und tollsten Geschichten erzählen und seine Großmutter backte den besten Kuchen der Welt. Aber schlafen wollte er nie dort und wenn er es doch einmal musste, weil seine Eltern ihn dazu zwangen, bestand er darauf im Bett seiner Großeltern schlafen zu dürfen. Er kuschelte sich dann immer ganz eng an seinen Großvater, damit ihn die Geister nicht sehen konnten. Mattis erinnerte
sich an den Pyjama den sein Großvater immer trug. Der Stoff war etwas kratzig und er fragte sich immer, wie sein Großvater darin nur schlafen konnte. Ihm stieg der Geruch des alten Schlafzimmers wieder in die Nase, er schloss die Augen und seufzte.
Mit dem Öffnen seiner Augen fand er sich plötzlich im Inneren des Hauses wieder. In so einem Moment würde man sich eigentlich fragen, wie man in das Haus gelangte, jedoch war es Mattis egal. Er sah die alten Möbel, die schon etwas bräunlichen Tapeten mit dem floralen Muster, die seine Großmutter so liebte. Das Haus wirkte auch in den
einzelnen Zimmern immer etwas dunkel, obwohl in jedem Zimmer mindestens zwei Fenster vorhanden waren. Er erinnerte sich an die Raffgardine im Wohnzimmer, die er mit einem Seilzug immer hin und her schieben konnte. Früher hat er dort oft gelegen und hat sich gedacht, dass die Gardinenleiste eine Bahnschiene sei und die Gardine die Schranke. Immer wenn jemand den Raum betrat, rief er laut „Tuuut tuuut, Vorsicht an dem Bahnübergang!“ und zog die Gardine wieder zu. Nicht selten erntete er von seinen Großeltern hierfür Gelächter, was ihn jedoch nicht störte. Es erfreute ihn sehr sie lachen zusehen und wenn er dazu beitragen konnte,
machte er dies gerne.
Er ging weiter in die Küche, in der es immer warm war und nach Gewürzen roch. Mattis liebte diese Atmosphäre und verband sie auch später noch mit dem Gefühl von Sicherheit und Zuhause sein. Dabei fiel ihm ein, dass er dieses Gefühl schon lange nicht mehr erlebt hat und etwas Wehmut machte sich breit. Er hoffte inständig bald eine eigene Familie gründen und für diese auch so eine Atmosphäre schaffen zu können. Plötzlich klirrte etwas hinter ihm, was ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Mattis drehte sich um und schlich vorsichtig den Flur entlang. Vor dem Büro seines Großvaters
hielt er an, legte seine Hand auf die Klinke und drückte sie langsam herunter. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Ächzen. Mattis schaute durch den Türspalt, konnte jedoch nicht viel erkennen. Ihm wurde bewusst, dass er noch nie in diesem Raum war, da sein Großvater es ihm stets verboten hatte. „Das ist mein Reich, Junge.“, hörte er ihn sagen. Mattis öffnete die Tür, die den Staub auf dem Boden aufwirbelte. Er hustete und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. Als sich der Staub wieder legte, schaltete er das Licht an und ein großer Kronleuchter erstrahlte den Raum in einem gelblichen Licht. Mit großen Augen und offenem Mund schaute
er sich in dem Raum um. Darin befanden sich Bücherregale, die bis zur Decke reichten. Der Raum wirkte insgesamt viel höher als die anderen. Am Fenster befanden sich rote Samtvorhänge, die dem Raum etwas Majestätisches verliehen. In der Mitte stand ein schwerer Schreibtisch aus Holz, auf dem sich ein Globus und ein Mikroskop befanden. Dahinter stand ein Stuhl aus Leder, den man zu einer Liege umfunktionieren konnte. Mattis ging weiter in den Raum hinein und schritt langsam die Bücherregale ab. Die Holzbalken unter seinen Füßen untermalten jeden Schritt den er tat mit einem geräuschvollen Knarzen. Teilweise
schienen die Bücher bereits mehrere Jahre alt zu sein, was an ihren verfärbten und auch abgenutzten Buchrücken erkennbar wurde. Er erkannte Bücher über die Weltkriege, Biographien über Menschen die ihm auf den ersten Blick nichts sagten, Gedichtbände und eine Unmenge an Gartenbüchern. Hin und wieder wurden die Buchreihen von privaten Gegenständen, wie Fotos, Skulpturen oder Steinen unterbrochen. Mattis schaute sich diese an und fand auf den Rückseiten stets einen kleinen Zettel mit einer Beschreibung. Entweder stand darauf wer auf dem Foto abgebildet war, wo es gemacht wurde oder aus welchem Land die Gegenstände stammten.
Unweigerlich musste er schmunzeln. Sein Großvater war immer sehr genau und hatte einen Hang zur Listenführung und Beschriftung aller Dinge.
Mattis ging weiter und nahm gelegentlich ein Buch heraus, schaute sich den Einband an, blätterte darin und stellte es wieder zurück ins Regal. Mit einem Mal viel sein Blick auf ein Buch zwei Regale über ihn. Der braune Lederrücken mit dem Pferd darauf, was kaum noch zu erkennen war, kam ihm unglaublich bekannt vor. Er schaute sich in dem Raum um und fand in der Ecke zum Fenster stehend eine Trittleiter. Eilig stellte er diese vor das Bücherregal und stieg mit zitternden Beinen die drei
Stufen hinauf. Mit Höhe konnte er noch nie gut umgehen. Er griff nach dem Buch, welches eng zwischen den anderen eingeklemmt war und zog es vorsichtig heraus. Prompt fiel ihm das links daneben stehende Buch, natürlich ein viel dickeres, gegen die Stirn. Fluchend nahm er eine Stufe nach der anderen abwärts. Als er unten ankam merkte er bereits wie sich eine Beule formte. Mattis war jedoch so in Gedanken versunken, dass er den Schmerz gar nicht mehr wahrnahm. Wie gebannt schaute er sich das Buch von allen Seiten an. Er erkannte die Einkerbung auf der Rückseite, die er damals verursachte, als er es schnell vor seinen Eltern
verstecken wollte. Sein Großvater hatte ihm immer aus dem Buch vorgelesen, wenn er sie besuchte. Als seine Eltern ihn wieder abholen wollten, nahm Mattis das Buch heimlich mit und las es unter seiner Bettdecke weiter. Es hatte ihm damals viel Mühe gekostet dies geheim zu halten und besonders schwierig gestaltete es sich, das Buch wieder ins Haus der Großeltern zu schleusen.
Er war sich bis heute sicher, dass sein Großvater wusste, dass er das Buch mitgenommen hatte. Jedoch hat dieser nie etwas zu ihm gesagt. Er erinnerte sich allerdings an das Augenzwinkern dass ihm sein Großvater schenkte, als dieser erklärte, dass er ein paar Seiten
überspringen wird. Mattis rief sofort: „Aber nur 5!“, schluckte und starrte seinen Großvater an. Dieser nickte, lächelte zufrieden, blätterte die Seiten vor und begann zu lesen.
Mattis fuhr mit dem Zeigefinger über die Prägung der Vorderseite „Der Junge und sein Pferd“. Heute ein eher liebloser Titel, doch damals nannten sie es immer „Mattis und der wilde Hengst“. Wie gerne wäre er der Junge aus dem Buch gewesen und hätte die abenteuerlichen Geschichten erlebt. Er schlug den Vorderdeckel mit den ausgefransten Ecken auf und las die handgeschriebene Widmung auf der ersten Seite: Für unseren geliebten Enkel zum 8.
Geburtstag von Oma und Opa. Ihm stiegen Tränen in die Augen und wieder beschlich ihn ein Gefühl der Leere.
Wie von einer inneren Kraft getrieben eilte Mattis aus dem Raum und lief die Treppe in das Obergeschoss hinauf. Oben angelangt bog er nach rechts ab und steuerte auf das zweite Zimmer von links zu. Die Tür stand einen spaltbreit offen, er gab ihr einen Tritt, so dass sie aufflog und laut krachend gegen den Kleiderschrank prallte, der dahinter stand. Nach Luft schnappend stand er in Mitten des Raumes, drehte sich nach rechts und sah sein Kinderbett in der Ecke stehen. Das Bett sah aus, als habe
seine Großmutter es erst vorhin aufgeschlagen. Die roten Autos auf dem Bettbezug waren jedoch verblasst und mit einer Staubschicht belegt, so dass deutlich wurde, dass in diesem Bett schon lange niemand mehr geschlafen hatte. Auf dem Kopfkissen lag sein alter Teddy, welcher ihn mit großen Knopfaugen anschaute. Mattis ging zu ihm, nahm ihn hoch und drückte ihn fest an sich. „Wie hab ich dich vermisst, alter Freund!“, flüsterte er. Die Sonne machte sich bemerkbar und brachte ein Fensterbild zum Vorschein, das Mattis damals gemalt hatte. Die Farbe hatte er zu Ostern bekommen und hatte sich gleich, zum Leidwesen seiner
Großmutter, daran begeben alle Fenster im Haus mit diversen Zeichnungen zu versehen. Er erkannte eine große gelbe Sonne umrahmt von einem roten Herz, was beide große Risse aufwies. Darunter standen Buchstaben „I“, „h“, „u“. Mattis setzte sich auf das Bett und starrte die Buchstaben an, welche immer wieder vor seinen Augen verschwammen. Sein Name konnte es nicht sein und ihm fiel auch kein weiterer Name ein, der diese Buchstaben beinhaltete. Mit einem Mal fiel ihm die Bedeutung wieder ein:
„Ich + Du“!
Er erinnerte sich, wie sein Großvater diese Worte an das Fenster schrieb, ihm anschließend seine Hand auf die Schulter legte und in einem ruhigen Ton zu ihm sagte: „Denk immer daran Junge, du bist nicht alleine! Das Schlimmste was einem passieren kann, ist von Menschen umgeben zu sein und doch niemanden zu haben.“. Regungslos verharrte Mattis auf dem Bett. Nach mehreren Minuten drehte er sich zum Kleiderschrank und sah in den Spiegel. Er erschrak, da er sich nicht gleich erkannte. Aus dem Spiegel schaute ihn jemand mit traurigen Augen an. Mattis richtete sich langsam auf, was die Gestalt im Spiegel ihm gleich tat. Er
ging behutsam auf den Spiegel zu, stellte sich davor und sah ungläubig in die Augen seines Gegenübers. Der Mann hatte eine fahle Gesichtsfarbe und dunkle Ringe unter den Augen. Die Haut war faltig und die Haare bereits mit silbernen Strähnen durchzogen. Mit der rechten Hand wischte Mattis über den Spiegel um die Fläche klarer zu bekommen. Was er sah, erschrak ihn sehr. Er erkannte in dem Spiegelbild den Mann hinter der Gardine wieder! Automatisch machte er einen Schritt zurück, starrte dabei jedoch weiter auf den Spiegel. Der Mann trug ein zerschlissenes Holzfällerhemd, das ihm eine Nummer zu groß zu sein schien,
denn es hing an ihm herunter wie ein Bademantel. Darunter trug er ein altes, am Kragen aufgeribbeltes und mit Fettflecken übersätes, dunkelgraues T-Shirt. Die Jeanshose war speckig und mittlerweile war die eigentliche Farbe nur noch zu erahnen. Er trug ein paar ebenfalls völlig verschlissene Pantoffeln, die seinem Großvater hätten gehören können. Mattis sah auf die Hände des Mannes, welche Schwielen an den Fingerkuppen aufwiesen. Sein Blick fiel auf die rechte Hand des Mannes und ihm fiel auf, dass er keinen Ehering trug. Langsam hob er seinen Blick und schaute ihm wieder ins Gesicht. Ein kalter Schauer lief Mattis über den Rücken, als
er in die Augen des Mannes sah. Sie sahen so unendlich traurig aus...
Mit einem Mal erkannte Mattis sich selbst in dem Mann wieder. Aber was hatte das zu bedeuten? Schließlich war er ein glücklicher Mensch, der eine Freundin hatte, die ihn liebte und er wollte ihr demnächst einen Heiratsantrag machen. Er hatte viele Freunde und auch seine Arbeitskollegen mochten ihn sehr. Also warum sollte er irgendwann alleine sein und so enden? Das alles ergab doch überhaupt keinen Sinn! Mattis drehte sich zur Zimmertür und schüttelte den Kopf. Als er wieder in den Spiegel sah, war der Mann verschwunden. Plötzlich hörte er wieder die Stimme seines
Großvaters, wie er ihm sagte: „Das Schlimmste was einem passieren kann, ist von Menschen umgeben zu sein und doch niemanden zu haben.“. Mattis ging mit großen Schritten in das gegenüberliegende Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und schüttete sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Das Wasser lenkte ihn kurz von den Geschehnissen ab. Er trocknete sein Gesicht mit den Ärmeln seines Hemdes, da er kein Handtuch finden konnte und ging zurück zur Treppe.
Als er die Treppe langsam hinabstieg, fielen ihm die Bilder an der Wand auf. Sie waren in dunkle Holzrahmen gefasst
und in Stufen angeordnet. Das erste Bild zeigte seine Großeltern mit einem Jungen in der Mitte, der nur sein Vater sein konnte. Auf dem nächsten Bild war Mattis als Baby zu sehen. Er lag in den Armen seiner Mutter, die auf einem Gartenstuhl saß. Sein Vater stand schräg hinter ihr und schaute stolz in die Kamera. Wieder ein Bild weiter, war er an seiner Einschulung zusehen. Er erinnerte sich wie nervös und gleichzeitig stolz er war. Die Knickerbocker, die ihm seine Mutter angezogen hatte, hatte er nicht ausstehen können und ihm war es peinlich ausgerechnet so in die Schule gehen zu müssen. Die Schultüte wog bestimmt
eine Tonne, aber Mattis hatte sie die ganze Zeit in den Händen gehalten. Er wusste noch, wie groß seine Angst war, dass ihn niemand von der Schule abholen könnte und er zu weinen begann. Sein Großvater hatte ihn damals in den Arm genommen und ihm versprochen vor der Tür zu warten, was er auch getan hatte. Es kamen noch weitere Bilder auf denen Mattis immer älter wurde. Sie zeigten Familienfeste, wie Geburtstage, seine Kommunion oder Weihnachtsfeiern. Als er so die Stufen hinab stieg und die Bilder betrachtete, wurde ihm bewusst, dass die Menschen um ihn herum immer trauriger wirkten. Mattis stand stets im Vordergrund und lächelte in die Kamera.
Die Farben der Bilder wurden immer blasser und schließlich waren sie nur noch schwarz/weiß, obwohl sie doch aktuelleren Datums waren. Mit großen Augen blieb er vor einem Bild stehen. Es zeigte ihn mit seiner Freundin. Soviel Schmerz und Leid hatte er noch nie in einem Gesicht gesehen, wie in dem Ihrigen. Mattis fühlte sich, als habe ihm jemand den Boden unter den Füßen weg gezogen. Ihm wurde heiß und kalt mit einem Hauch von Übelkeit versehen. Er schloss die Augen, was die Übelkeit jedoch nur verstärkte. Er hielt sich an dem Geländer fest und nahm die letzte Stufe der Treppe. Es folgte nur noch ein leerer Bilderrahmen, der wie an einem
dünnen Faden an der Wand zu hängen schien und drohte jeden Moment hinunter zufallen. Noch bevor sich Mattis weitere Gedanken darüber machen konnte, brach ein markerschütterndes Krachen und Heulen über ihn herein. Mattis legte seine Hände schützend über seinen Kopf und schrie aus vollen Leibeskräften.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete er seine Augen und fand sich im Inneren des Fahrstuhls wieder. Er kniete auf dem Boden und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Völlig überwältigt und hilflos schaute er sich um. Sein Blick fiel auf seine Armbanduhr, 7:18 Uhr! Hatte er
das alles nur geträumt?
Die Fahrstuhltür öffnete sich und Mattis sah in das Gesicht der alten Dame, die ihn jedoch völlig ignorierte und irgendetwas Undefinierbares vor sich her brabbelte. Langsam rappelte er sich auf und ging, immer noch benommen, durch die Eingangshalle. Er erblickte den Portier. Auch dieser zeigte sich nicht gerührt ihn zu sehen und hielt ihm mit einem Kopfnicken die Haustür auf. „Welcher Tag ist heute?“, fragte er den Portier, welcher mit einem knappen und unfreundlichem: „Dienstag!“ antwortete. Langsamen Schrittes ging Mattis den Bürgersteig entlang. In der Birkenallee angelangt, nahm er auf einer alten
Parkbank platz. Er stützte seine Arme auf den Beinen ab und legte seinen Kopf in die Hände. Noch während er darüber nachdachte, was mit ihm geschehen war und was das alles zu bedeuten haben könnte, wurde er in die Rippen gekniffen. Zunächst reagierte er nicht darauf, jedoch wurde das Kneifen immer stärker. Mattis schaute nach links, neben ihn saß das kleine Mädchen mit dem roten Mantel, welches er vor dem Haus seiner Großeltern getroffen hatte. Das Mädchen schaute ihn erneut mit großen Augen an und sagte: „Hast du es verstanden?“. Einen kurzen Augenblick wurde er von einem an der Parkbank schnüffelnden Hund abgelenkt, als er
seinen Blick wieder nach links richtete, war das Mädchen verschwunden. Was mag sie nur gemeint haben?
Die Erkenntnis traf ihn mitten ins Herz und war stärker und schmerzvoller als alles was er je zuvor aushalten musste! Hätte ihn jemand gefragt, ob es dem Mann, den er seinen besten Freund nannte, in seinem neuen Job gut geht oder wie es seinen Eltern, die bereits seit drei Monaten wieder Zuhause waren, im Urlaub gefallen hat. Er hätte es nicht gewusst. Noch viel schlimmer traf ihn jedoch die Tatsache, dass er nicht einmal wusste, wie es der Frau geht, neben der er jeden Morgen aufwachte.
Wann hatte er aufgehört sich für seine
Mitmenschen zu interessieren und ist zu so einem Egomanen und Narzissten geworden?
Mattis sprang auf und lief zurück zum Haus. Die Bürgersteige waren gut gefüllt, so dass es einem Hindernislauf glich. Der Portier hatte große Mühe ihm rechtzeitig die Tür aufzuhalten. Er lief zu dem Aufzug, doch dann beschlich ihn ein ungutes Gefühl und er bog ab zum Treppenhaus. Mit aller Kraft lief er die Treppen hinauf. Je höher er kam, desto mehr verfluchte er sich, nicht doch den Aufzug genommen zu haben. Völlig durchgeschwitzt und außer Atem stieß er die Tür des elften Stocks auf und
stolperte weiter zur Wohnungstür, welche sich genau in diesem Moment öffnete. Seine Freundin schaute ihn mit großen Augen an. Noch bevor sie irgendetwas sagen konnte, nahm Mattis sie in den Arm und sagte: „Es tut mir alles so leid! Ich liebe dich!“.
Vier Jahre später stand Mattis in dem Garten seines Hauses, das er vor zwei Jahren gekauft hatte. Mittlerweile war er verheiratet und Vater einer süßen Tochter. Seit dem damaligen Vorfall im Fahrstuhl nahm er sich mehr Zeit für seine Familie und Freunde. Jedoch hatte er niemanden erzählt was passiert war, ihm kam es auch heute immer noch total verrückt vor. Sicher war jedoch, dass er seit diesem Tag jede Nacht durchschlief.
Er hörte das freudige Geschrei seiner Tochter, drehte sich um und sah wie sie durch die Terrassentür in den Garten lief. Mattis blieb wie gelähmt auf der Stelle stehen und starrte seine Tochter
an. Sie kam mit einem roten Mantel bekleidet auf ihn zu, ihre blonden Haare waren zu zwei Zöpfen gebunden und sprangen in der Luft umher. Mit vollem Schwung, so dass er alle Mühe hatte stehen zu bleiben, prallte sie gegen seine Beine und klammerte sie sich lachend an ihm fest. „Hab dich!“, rief sie aus vollen Kräften.
Tintenklecks eine Geschichte, die ich mit einem Schaudern gelesen habe.. Danke dafür vom Tintenklecks |
AnniSorglos Vielen Dank für die Rückmeldung! Dann muss ich mal deine Gedichte durchforsten :-) Sonnige Grüße |