Oh, welch wunderschöner Tag. Die Sonne lacht schon seit den frühen Morgenstunden vom Himmel. Nicht das kleinste Wölkchen ist zu sehen. Das Frühstück war wieder einmal ausgezeichnet, wirklich gute Qualität. Ich werde einen kleinen Rundflug starten, mal sehen ob es den alten Getreidespeicher neben dem Dorfteich noch gibt, natürlich nur so zur Information.
Es hat sich doch einiges verändert in den vielen Monaten, in denen ich weg war. Unser Züchter scheint sehr viel dazugelernt zu haben. Der Taubenschlag wird jetzt peinlichst sauber gehalten, wahrscheinlich damit wir nicht krank werden, eine Infektion wäre furchtbar. Wir sind ja doch eine reinrassige Familie und stellen auch einen gewissen
finanziellen Wert dar. Der Name Strasser bürgt noch immer für Qualität in eingeweihten Kreisen.
Früher schien ihm das nicht so wichtig zu sein, denn er behandelte uns wie hergelaufenes Flüchtlingspack aus St.Nirgendwo. Kaum Futter, auch frisches Wasser war Mangelware. Seht doch zu, wo ihr bleibt. Ihr habt Flügel, sucht auf den Feldern nach Nahrung, Wasser gibt es genug in den Pfützen, ich habe Besseres zu tun, so waren seine Worte. Viele aus meiner Sippe suchten daher bei Gelegenheit das Weite und hinterließen eine schmerzhafte Lücke im Familienverband.
Ich selbst war lange Zeit wankelmütig. Ja, ich befand mich, um ehrlich zu sein
sozusagen in einem persönlichen Dilemma. Einerseits wollte ich natürlich auch weg, wie die anderen. Wollte die weite Welt kennenlernen und einen Platz finden, wo man einen jungen hübschen Täuberich besser schätzen würde. Andererseits war da noch Ringoletta, das hübsche Täubchen aus dem Nachbarschlag. Doch zu mehr als einem kurzen Flügelschlag bei der Begrüßung reichte es einfach nicht. Sie war wahrscheinlich noch zu jung für andere Spielchen, von denen ich doch schon einige kannte. Es beeindruckte sie offensichtlich auch nicht, als ich eines Tages versuchte, die Liste aller gefährlichen Raubvögel zu deklamieren, in der Absicht sie auf Gefahren hinzuweisen. Sie lachte mich nur aus, nannte
mich einen Angsthasen und verabschiedete sich mit einem kurzen Schrei. Daraufhin zog ich mich etwas gekränkt zurück. Dann kam dieser denkwürdige Tag, der mir die Entscheidung erleichterte.
Der Sohn des Hauses, ein junger Rotzlöffel in geblümter Pippi-Langstrumpf-Radlerhose, ballerte plötzlich mit einem Schießgewehr am Hof herum. Angeblich wollte er einen Habicht verscheuchen, um uns zu schützen. Doch scheinbar hatte er keine Ahnung, wie ein Habicht aussieht, denn plötzlich fiel Onkel Kasimir tot vom Himmel. Daraufhin bekam ich Angst und versteckte mich den ganzen Tag in der hintersten Ecke meines Verschlages. Mir wurde bald klar, wollte ich nicht eine schwere Depression
riskieren, musste ich meinem Leben eine Wende geben und so entschloss ich mich kurzerhand mein Recht auf Flucht in Anspruch zu nehmen und verabschiedete mich im Morgengrauen von meinem bisherigen Zuhause.
Ich flog über Wiesen und Felder, sah den Bauern bei ihrer Arbeit zu. Immer auf der Hut, denn überall lauerten Gefahren. Adler und Habicht waren immer unterwegs, ihre Gier nach frischem Fleisch schien grenzenlos. Meinen Durst konnte ich am Ufer eines kleinen Sees stillen, doch Hunger war das größere Problem. Ab und zu ein kleines Körnchen, zu mehr reichte es leider nicht. Gegen Abend sah ich die Lichter einer Großstadt am Horizont auftauchen. Das war
es, dort wollte ich unbedingt hin. Ich wollte eine richtige Stadttaube werden, mich nur von den besten Leckerbissen ernähren und in den edelsten Kreisen verkehren.
Gedacht, getan, müde aber glücklich ließ ich mich bald darauf auf einer Parkbank nieder. Doch,Oh Schreck, bald kamen Menschen und jagten mich wieder weg. Also rauf auf das nächste Dach, denn dahin kommen sie nicht, aber auf Greifvögel achten war jetzt oberstes Gebot. Am nächsten Morgen durchstreifte ich mit hungrigem Magen einige Gassen. Schließlich wurde ich fündig. Eine ältere Dame verteilte großzügig Semmelstückchen, doch leider hatten sich schon viele Artgenossen eingefunden. Diese Adresse schien ihnen bekannt zu sein. Mit
etwas Geschick gelang es mir doch, begleitet von den Schimpftiraden der Stadttauben, einige Stückchen zu erhaschen. Ich verabschiedete mich wieder und zog weiter. In der Stadt war das Leben härter, das hatte ich mir anders vorgestellt. Nur auf Touristenpfaden konnte man ab und zu einige Leckerbissen bekommen. Doch dieser Dreck, der hier überall herumlag, Plastikflaschen und Metalldosen, sogar Einkaufssackerln aus Plastik und Zigarettenkippen. Nein, hier wollte ich nicht länger bleiben, ich musste schleunigst weiter bevor ich mir noch eine Magenverstimmung zuzog.
Ich flog jetzt langsamer und beobachtete das Land unter mir sehr genau um nur ja nichts
zu übersehen. Am zweiten Tag meiner Reise tauchte plötzlich unter mir ein kleiner Bauernhof auf. Auf dem wunderschönen Misthaufen tummelten sich einige Hühner, auch ein älterer Hahn war dabei. Ich beschloss hier kurz zu rasten und ließ mich auf dem First des Hauses nieder um mir alles genauer anzusehen. Bald war ich mir sicher, das ist es. Hier wollte ich bleiben. Obwohl ich mir ja nur fragmentarisch ein Bild machen konnte, schien hier alles in bester Ordnung zu sein. Vor allem die Futterschüssel der Hühner hatte es mir angetan. Auch Pferde hörte ich wiehern und eine Schar frecher Spatzen lärmte fürchterlich.
Noch in der Dämmerung, als sich die Hühner längst in ihren Stall zurückgezogen hatten,
wagte ich mich kurz an die Futterschüssel. Endlich wieder eine gute Mahlzeit, das war ein wahrer Glückstag, fand ich. Hühner gehen immer sehr früh zu Bett, sie sind dafür ausgesprochene Frühaufsteher. Am nächsten Morgen machte ich dem Hahn meine Aufwartung, stellte mich kurz vor und bat um Kost und ein Nachtquartier. Anfangs schien er nicht sehr begeistert zu sein, doch als ich ihm von meiner langen Reise und meinem hungrigen Magen erzählte, bekam er Mitleid. Ich musste ihm nur versprechen, mich ruhig zu verhalten und seine Hühner nicht zu belästigen, was ich natürlich gerne machte.
Für mich begann eine wunderschöne Zeit, denn ich wurde auch von den Bauersleuten
freundlich aufgenommen. Tagsüber bewachte ich den Hof und schlug sofort Alarm, wenn sich ein Raubvogel nähern wollte, damit die Hühnermütter ihren Nachwuchs in Sicherheit bringen konnten. Nachts hatte ich mir ein kuscheliges Plätzchen auf einem starken Balken im Pferdestall reserviert. Bei den beiden Pferden war es urgemütlich und warm. Eine Spatzenschar übernachtete auch öfters bei uns, hoch oben unter dem Giebel. Was diese Vögel immer zu erzählen hatten, war äußerst interessant, nichts entging ihren neugierigen Blicken und alles wurde bis ins kleinste Detail stundenlang besprochen. Nach einigen Tagen bekam ich sogar meine eigene Futterschüssel. Der Bauer stellte sie mit den
Worten „Für dich, Paolo“, unter meinen Balken. Jetzt hatte ich sogar einen eigenen Namen, ich war Paolo. An heißen Tagen im Sommer wurde mit einem Schlauch der Rasen gesprengt. Um mir etwas Abkühlung zu verschaffen zischte ich in einem waghalsigen Flugmanöver durch den Wasserstrahl, was mir immer grenzenlose Bewunderung der Zuseher verschaffte. Interessant waren auch die vielen Autos, die immer in unserem Hof abgestellt wurden. Meist richtige Luxuskarossen der Nobelmarken Mercedes oder BMW. Wie ich diese feinen Schlitten liebte. Ich nahm sofort auf den Kühlerhauben Platz und bewunderte mein Ebenbild hinter der Windschutzscheibe. Ich war schon ein schöner junger Täuberich
und konnte mich nicht sattsehen an meiner tadellosen Erscheinung. Anfangs dachte ich noch, hinter der Scheibe würde ein Artgenosse sitzen, doch bald merkte ich, dass das ein Irrtum war. So verging ein Tag nach dem anderen. Ich hatte alles, lebte im Schlaraffenland und trotzdem war ich nicht restlos glücklich. Ich fühlte mich einsam und dachte immer öfter an Ringoletta. Wie es ihr wohl gehen würde? Vielleicht war sie auch schon verheiratet, ich wollte mich wirklich nicht versündigen und schob den Gedanken an neuerliche Flucht weit weg.
Aber mein kleines Glück bekam in der Tat ganz feine Risse. Jedwede Gemütlichkeit war abhanden gekommen. Die Spatzenschar war längst weiter gezogen. Keine lustige
Unterhaltung mehr abends. Auch die Pferde waren den ganzen Tag über auf der Koppel und schliefen abends sofort ein. Die Hühnerschar wurde von Tag zu Tag kleiner. Wohin die Hennen gegangen waren, konnte ich mir nicht erklären. Ihre Federn lagen fein säuberlich ausgebreitet auf dem Misthaufen zum Trocknen. Ob sie wohl die Flucht ergriffen hatten, aber nackt? Das schien mir eher unwahrscheinlich. Der Hahn und ich wurden jetzt gute Freunde. Uns verband das gleiche Schicksal, ich sehnte mich nach Ringoletta und er schwärmte ständig von seiner Lieblingshenne Berta, die unauffindbar war.
Doch nichts währt ewig und eines Tages hörte ich ein altes Moped durch den Hof
rattern. Das Geräusch kannte ich noch aus meiner Kinderzeit. Mein Züchter hatte so ein Gefährt. Und in der Tat, er war es wirklich. Er hatte lange nach mir gesucht und stellte sofort Besitzansprüche. Bald war er mit dem Bauern handelseins. Man fing mich mit einem Netz, verfrachtete mich in eine große Schachtel und los ging die halsbrecherische Fahrt. Ich Paolo, der eine Vorliebe für edle Luxuslimousinen hatte, wurde auf einem alten klapprigen Moped weggebracht. Ich schämte mich sehr, obwohl ich nichts dafür konnte.
Wieder in meinem alten Taubenschlag angekommen, erwartete mich eine freudige Überraschung. Ringoletta, inzwischen erwachsen und noch schöner geworden,
erwartete mich bereits am Eingang. Nachdem ich ihr ausführlich von meiner Reise erzählt hatte, beschlossen wir beide für immer zusammen zu bleiben.
Wer so viel von der Welt gesehen hat wie ich, weiß ein gemütliches Zuhause zu schätzen.