Einleitung
Ein Beitrag zur Forumsbattle 35 mit dem Thema Recht auf Flucht.
Zu verwendende Worte:
Rotzlöffel
Dilemma
deklamieren
fragmentarisch
Dreck
versündigen
Schrei
geblümt
Pippi-Langstrumpf-Radlerhose (nicht
verwendet)
wankelmütig
Ufer
Depression
Die Beugung der Worte ist erlaubt.
Ach ja, wen es interessiert: Den in der Erzählung angesprochenen Gottesbeweis gibt es tatsächlich. Er wurde von Gödel nach den Regeln der Logik korrekt geführt, jedoch zu Lebzeiten nie veröffentlicht. Und um jede Vermutung zu vermeiden: Gödel war ein Genie, kein Irrer und fungiert hier ausschließlich als missbrauchter Lieferant der Beweisführung.
Im Irrenhaus
Professor Domeyer saß an einem der Tische im Aufenthaltsraum der geschlossenen Abteilung über sein Notizbuch gebeugt und kritzelte, vor sich hin murmelnd, hinein. Leise fluchend strich er die letzten beiden Zeilen der Aufzeichnungen durch, schüttelte den Kopf, so dass sein struppiges weißes Haar noch wirrer das Gesicht umrandete, und begann von Neuem.
»Ha! Ich habs!«, der Schrei entfuhr Domeyer, der völlig auf seine Umwelt vergessen hatte. »Das ist die Lösung für das Dilemma!«
»Wenn ein Wesen göttlich ist, dann ist seine Göttlichkeit eine essentielle Eigenschaft. Und wenn dem so ist, ergibt sich daraus ganz zwangsweise, dass es nur einen Gott geben kann«.
› G(x) → G ess x ‹ kritzelte er aufgeregt in sein Notizbuch. Neugierig näherte sich Robert Edelberger und blickte über die Schulter des Professors in das Notizbuch.
»Sagen sie, was treiben sie hier eigentlich, werter Herr Professor?«
»Mein Freund«, sagte Domeyer und spielte dabei rastlos mit dem Kugelschreiber in
seinen Fingern, »ich habe soeben mit den Mitteln der formalen Logik bewiesen, dass Gott existiert.«
»Ah ja.« Edelberger blickte fasziniert aber einigermaßen verständnislos in das Notizbuch und die fragmentarisch hingekritzelten und mehrfach ausgebesserten Formeln, die Professor Domeyer nun in so etwas ähnliches wie eine Reinschrift zu übertragen versuchte.
»Nun, schließlich ist das hier ein Irrenhaus.« Robert Edelberger zuckte gleichgültig mit den Schultern, ging die paar Schritte zum vergitterten Fenster und sah nachdenklich in den Park der Privatklinik.
»Dennoch muss ich ihnen sagen, dass sie ihre Zeit verschwenden, Herr Professor. Gott ist tot.« Unten im Park durchwühlte ein Strotter den Dreck im Mistkübel nach Verwertbarem.
»Versündigen sie sich nicht, Edelberger«, sagte der Professor und tippte aufgeregt mit der Spitze des Kugelschreibers auf seine Formeln. »Hier sehen sie es schwarz auf Weiss. Gott existiert. Die Wissenschaft irrt nie.«
»Ach, hören sie mir doch auf mit diesen Geschichten.« wurde Edelberger laut. »Da kommt so ein Rotzlöffel dahergelaufen und
deklamiert, gestützt auf ein paar wirre Zeilen in seinem Notizbuch, die Existenz Gottes!« Wütend schnaubend ging er mit schnellen Schritten an den Tisch des Professors zurück.
»Ich sage ihnen nochmals«, rief er entrüstet, »Gott ist tot. Mausetot. Ich muss es wissen. Schließlich bin ich ein Massenmörder. Habe meine ganze Familie ausgerottet. Frau, Tochter, Sohn. Tot! Alle tot! Ich habe sie umgebracht! Glauben sie, dass Gott so etwas zulassen würde? Sie hatten ein Lächeln auf den vergifteten, toten Lippen. Sie hätten ein Recht auf Flucht gehabt. Flucht vor mir, dem Irren. Aber da war kein verdammter Gott, der ihnen zu Hilfe gekommen wäre.
Keine Flucht. Nur der Tod. «
Erschöpft ließ sich Edelberger auf einen Stuhl fallen und zeichnete mit den Fingern das geblümte Muster der Tischdecke nach. Tränen rannen über seine unrasierten Wangen.
Professor Domeyer klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Westentasche. »Ich kann ihre Depression verstehen.« sagte er und legte Edelberger die Hand auf die Schulter.
»Das Leben ist ein Fluss. Und an seinem Ufer spült es zuweilen Treibholz wie sie und mich an. Sie mit ihrer Schizophrenie, die ihrer
Familie das Leben gekostet hat. Ich mit meiner Paranoia, mit der ich mein Labor und drei meiner Mitarbeiter abgefackelt habe.«
Der Professor schien im Vergangenen zu versinken und auf seine Umgebung zu vergessen. »Oh ja, ich gebe zu, ich war am Anfang wankelmütig. Stellen sie sich vor, eine Entdeckung, welche die Welt revolutioniert! Funktionierende Kernfusion! Energie für alle, und das unbeschränkt und auf ewige Zeiten. Keine Macht mehr den Ölkonzernen. Keine Abhängigkeiten mehr von Ländern, die ganz zufällig auf einem Haufen Gas oder Öl sitzen. Eine bessere Welt! Und ich derjenige, der sie ermöglicht hat. Die Aussicht auf diesen Ruhm macht
etwas mit Menschen, das kann ich ihnen gerne versichern. Das ist so, wie sechs Richtige im Lotto.
Aber letztlich siegte mein Realitätssinn. Diese Welt ist in ihrem Inneresten schlecht und böse. Sie wird das Geschenk meiner Entdeckung missbrauchen. Sie wird es verwenden, um Kriege zu führen. Um Hass und Zwietracht zu säen und Menschen zu unterdrücken. Was hat die Welt mit Nobels Entdeckung des Dynamits gemacht? Ja, genau, Krieg, Tod und Leid hat sie daraus geschaffen, wie aus jeder anderen großen Entdeckung davor und danach.
Es war ein Gebot der Stunde, das Labor zu
vernichten und alle Aufzeichnungen, die sich darin befanden. Ja, dass drei Menschen dabei starben, das war nicht geplant. Aber bedenken sie, wie viele Tote durch die Vernichtung dieser Entdeckung verhindert werden!«
Domeyer trommelte mit den Fingern auf das Tischtuch. »Glauben Sie, dass es ein Zufall ist, dass ich meine Tage hier verbringe? Oder gar die Entscheidung eines Gerichtes? Nein, mein Freund. Wir beide, sie und ich, wir sitzen hier, weil wir unser Recht auf Flucht wahrgenommen haben. Flucht vor dieser Welt da draußen, die uns nicht versteht, und die wir nicht verstehen. Flucht in ein Exil, welches uns durch ein wohlgenährtes
Bankkonto ermöglicht wird und das uns die Niederungen der Justiz erspart. Das wissen sie genauso gut wie ich.«
Der Professor sank in sich zusammen. Es war, als kehre er seine ganze Aufmerksamkeit nach Innen und befände sich an einem weit entfernten Ort, jenseits aller Fenstergitter und Türschlösser.
Der Pfleger, welcher Aufsicht über den Aufenthaltsraum hatte, machte sich daran, die Medikamentenausgabe vorzubereiten. Mit stillem Lächeln dachte er ›Wahrscheinlicher aber ist, dass es einfach die Welt da draußen ist, die ein Recht auf Flucht vor euch gemeingefährlichen Irren hat und euch
deshalb hierher verbannt.‹