Tage des Donners
Battle 35 - Thema: Recht auf Flucht
*Rotzlöffel
*Dilemma
*deklamieren
*fragmentarisch
*Dreck
*versündigen
*Schrei
*geblümt
*Pippi-Langstrumpf-Radlerhose
*wankelmütig
*Ufer
*Depression
Seit zwei Tagen waren die achtundsechzig syrischen Flüchtlinge nun in dem alten Gemeindezentrum am Rande der Kleinstadt untergebracht. Hier störten sie gewiss nicht das beschauliche Leben all Jener, die schon im Vorfeld der Aufnahme nicht müde wurden, öffentlich zu deklamieren, wie sehr sie ihre bürgerliche Welt durch unsinniges Asylrecht dieser fremdartigen Menschen bedroht sahen. Britta dachte mit Schaudern an die vergangenen Wochen, in denen sie und ihre Kollegen viel Zeit in die Öffentlichkeitsarbeit investiert hatten und erkennen mussten, wie schwer es doch war, gelebte Humanität einzufordern.
Der Gemeinderat ansich war wankelmütig, gleichwohl kam er zu der Auffassung, dass
jeder Mensch ein Recht auf Flucht habe. Mit der nötigen Transparenz und Aufklärung, so glaubten sie, würde sich auch Verständnis bei den Bürgern einstellen, doch bis heute rissen die Proteste vor den Toren der Sportanlage, auf dem die Gebäude des Gemeindezentrums sich befanden, nicht ab.
Dicht gedrängt standen die Metallbetten in dem ehemaligen Festsaal. Es gab keine Rückzugsmöglichkeiten für all die Männer, Frauen und Kinder - nur diesen einen Meter Abstand zum benachbarten Leben. Hier, inmitten von anschwellendem Stimmengewirr und Geschrei, versuchte jeder Einzelne auf seine Art mit der extremen Nähe zurecht zu kommen. Britta sah die leeren Blicke, die aus
maskenhaften Gesichtern aus der Menge tauchten und sich verloren. Diese Menschen waren noch lange nicht angekommen. Wie sollten sie auch?
Vielleicht würden sie das Ende ihrer Reise niemals realisieren, hatte der Amtsarzt des Gesundheitsamtes gestern zu ihr gesagt. Nachdem die Aufnahmeuntersuchungen aller Flüchtlinge abgeschlossen waren, gab das Ergebnis allen Betreuern Grund zu größter Sorge. Die Kinder waren stark traumatisiert, ängstlich und teilweise sogar apathisch. Bei den Erwachsenen standen psychische Auffälligkeiten unterschiedlicher Ausprägung im Vordergrund. Die fragmentarischen Erinnerungen des Erlebten, basierend auf den unbeschreiblichen Greultaten in den
Tagen des Krieges, führte insbesondere bei den weiblichen Flüchtlingen zu ausgeprägten Depressionen. Wie sollten sie in dieser Umgebung zur Ruhe kommen? Es war ein schreckliches Dilemma, aus dem es für die nächsten Wochen und Monate sicher kein Entrinnen gab.
Einer der ehrenamtlichen Dolmetscher versuchte gerade eine kleine Gruppe aus drei Familien davon zu überzeugen, mit ihm in den Duschraum zu gehen, um ihre Kinder und sich selbst, vom Dreck und Schweiß vieler Tage zu befreien. Sie folgten. Doch in ihren Gesichtern stand die Teilnahmslosigkeit und Resignation einer verlorenen Innenwelt. Der laute Schrei eines Kindes, gefolgt von einer erregten Frauenstimme, hallte aus dem
Küchenbereich herüber. Im Laufschritt eilte Britta in den Nebenraum und bekam gerade noch mit, wie eine Mitarbeiterin des Caterers dem Kleinen eine Banane entriss und sie zurück auf einen gestapelten Früchteberg legte. Das Kind rannte an ihr vorbei, in die Arme seiner Mutter, die mit verständnislosem Blick dastand und Britta hilfesuchend ansah. Dieses inakzeptable Verhalten dem Kind gegenüber, ließ den breiten Strom ihres Verständnisses weit über seine Ufer schwappen. Mit einem Lächeln reichte Britta dem Jungen die heißersehnte Banane und versuchte im Anschluss daran direkt ein ernsthaftes Gespräch mit der Mitarbeiterin zu führen. Es erwies sich als hoffnungsloses Unterfangen, das Britta abrupt beendete,
nachdem die Dame ihre Handlungsweise damit begründete, sie würde sich von den dahergelaufenen Rotzlöffeln nicht alles gefallen lassen, denn schließlich wäre es schon schlimm genug, dass der deutsche Steuerzahler die Alle durchfüttern müsse.
Diese erklärte Unerträglichkeit forderte die sofortige Beendigung ihrer Tätigkeit im Umfeld der Flüchtlinge und ein klärendes Gespräch mit dem Caterer.
Woher rührte nur das Unverständnis für die Notlage dieser Menschen, das ihnen ohne jedes Hintergrundwissen brutal entgegen geschleudert wurde? Nein, sie hatte jetzt Feierabend. Morgen war auch noch einTag, um sich darüber Gedanken zu machen...
Die Nacht begann und damit übernahmen Mitarbeiter der Security - Firma die gesamte Überwachung des Geländes und aller Gebäude.
Es war jetzt kurz nach zwanzig Uhr und im Schlafsaal wurde es still. Hier ein vereinzeltes Seufzen, dort noch ein tränenunterdrücktes Schluchzen - Kinderweinen, Mütter summten leise, ganz leise und manchmal ertönte ein rauhes Räuspern und Brummen...
Draußen grollte der Himmel. Wolkengebirge wölbten sich auf. Es stürmte. Ein Blitz zerriss das Dunkel, gefolgt von einem berstenden Donnerschlag. Wieder und wieder. Ein Mann sprang auf, rannte panisch durch den Raum. Er zitterte. Weinte. Hockte sich in eine Ecke und machte sich ganz klein.
Niemand im Raum beachtete scheinbar die dunkle Gestalt. Ein Wachmann kam und fragte ihn unwirsch, warum er nicht in seinem Bett liegen würde und was er glaubte, wo er hier sei. Die verängstigte Gestalt schrie dem Wachmann immer wieder die gleichen Worte entgegen: أيام الرعد = Tage des Donners, Tage des Donners....
Dann folgte ein dumpfes Geräusch. Danach Stille. Nur der Himmel grollte.
Bei Dienstantritt am nächsten Morgen erfuhr Britta dann, dass sich im Laufe der Nacht ein Zwischenfall ereignet hatte, der die sofortige Krankenhauseinweisung eines männlichen Flüchtlings erforderte. Nach Aussagen des Wachpersonals habe man den verletzten
Mann im Aussenbereich der Sportanlage gefunden. Er war nur mit einer geblümten Pippi-Langstrumpf-Radlerhose bekleidet gewesen. Allen Anschein nach sei er verwirrt in der Dunkelheit umhergeirrt und aus nicht erklärlichen Gründen, wohl mehrfach schwer gestürzt.
Einige Tage später kam die Mutter jenes kleinen Jungen, dem Britta die Banane geschenkt hatte, und bat um ein Gespräch. Sie war verängstigt, dennoch wollte sie über die Nacht des Gewitters ihren Teil zu der Wahrheit beitragen.
" Er hatte so große Angst, weil er glaubte, es würden wieder Bomben fallen. أيام الرعد = Tage des Donners, Tage des Donners....
schrie er immer wieder und dann schlugen sie ihn....Wie konnten sie sich so an ihm versündigen?" beendete sie ihre anklagenden Ausführungen.
" Wir alle taten es..." antwortete Britta leise...
©roxanneworks 2014 / 10