Angekommen
Mohamed Abdi war in einem Alter, da man dem Körper Unglaubliches zumuten konnte. Deswegen lebte er überhaupt noch. Mit 27 Jahren lag seine Zukunft noch vor ihm. Im Augenblick aber war sein Kopf auf glitschigen Steinen gebettet. Land!
Er hatte es geschafft. Das Salzwasser rollte stetig über seinen Körper, aber das spürte er gar nicht mehr. Er konnte atmen und war noch am Leben.
Nicht weit von Porto Lampedusa war er an Land gespült worden. Die Unterkühlung war weit fortgeschritten. Das Zittern hatte aufgehört. Schläfrig war er, aber seine weißen Augäpfel in dem dunklen Gesicht
registrierten, dass er zumindest das Ufer der Insel Lampedusa erreicht hatte. Irgendwo am steinigen Strand. Es konnte nicht allzu weit von dem Hafen Porto Lampedusa entfernt sein. Jetzt würde alles gut werden. Die Nacht brach herein. Gott, war er müde!
Die nächste, kleine, plätschernde Welle umspülte seine Hand und befingerte seinen Mund.
Er würde ein neues Leben in Angriff nehmen können.
Vor vierzehn Tagen hatte er seinen Entschluss gefasst. So ging es nicht weiter!
Auslöser war sein Bruder gewesen, der ihn zu dieser endgültigen Entscheidung gebracht hatte seine geliebte Heimat zu verlassen.
Damit auch seine Mutter Ranai und die Heimatstadt Senafe. Das Städtchen hatte nur ca. 4000 Einwohner, aber die Stellvertreter der Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit waren gerade in der Provinz Semienawi Kayih Bahri besonders perfide in ihrer Vorgehensweise.
Man musste fliehen! Ganz woanders hin!
Dort, wo noch Recht und Ordnung herrschte. In den Westen, in das gelobte Europa.
Sein Bruder war so verblödet gewesen sich kritisch zu äußern. Genauer gesagt öffentlich über den Terror zu deklamieren. Abdi hatte es aus seiner Deckung heraus gesehen, wie sein Bruder ganz profan gleich im Hinterhof erschossen wurde. Dann kamen seine
Schwester und seine Mutter an die Reihe. Sagen sie ehrlich, so ein Weib zu erschießen, bevor man sich daran verlustiert hat, wäre doch Blödsinn.
Abdi zog sich zurück, nachdem seine Familie danach endlich sterben durfte und hastete am nächsten Morgen durch die verwinkelten Gassen. Die Nacht hatte er in einem Versteck verbracht, das ihm schon in der Kindheit als Abenteuerspielplatz gedient hatte. Der aufgelassene Bergwerksstollen war ideal gewesen bis zum Morgen auszuharren.
Es war soweit.
Jussuv hatte ihm schon mehrmals angeboten bei seiner Flucht zu helfen. Er hatte schon geweissagt, dass das vorlaute Geschwätz
seines Bruders unweigerlich zu brutalem Zugriff führen würde.
Nun bat Mohamed Jussuv zu Hilfe.
Jussuv war ein Realist. So hatte er schon viele Flüchtlinge versorgt, sofern er über die bestehenden Möglichkeiten von Zuträgern informiert wurde. Das Problem bei Mohamed Abdi war, dass es verdammt schnell gehen musste. Jussuv half, so gut es ging. Etwas Proviant, einen Wasserschlauch und eine Karte. Das Wertvollste, welches er ihm mitgeben konnte, das war eine Adresse und ein Name. Wenn er es schaffte die weit entfernte, libysche Hafenstadt Misrata zu erreichen, dann solle er Ahmid Issa aufsuchen. Ein geradezu aberwitziges
Unterfangen von über 3000 Kilometer.
Abdi verspürte nun gar keinen Schmerz mehr. Es ging ihm offensichtlich besser. Wie war das noch gewesen? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern. An der Libyschen Grenze war irgendetwas mit einem Streifschuss vorgefallen. Dann war da noch ein Ziegenhirte gewesen, der ihm geholfen hatte. Aber sonst? Er erinnerte sich verschwommen an die Eisenbahn, auf die er aufgesprungen war. Ja, richtig, da hatte er zum ersten Mal nach langer Zeit warm in der kalten Wüstennacht im Viehtransporter schlafen können. Aber mehr war seinem Gedächtnis nicht zu entlocken. Der Kopf war nun schwerer, so hatte er das Gefühl. Die Augen
strengten an und deswegen schloss er sie. Es war weniger Energie. Prompt erschien Ahmid Issa, wie auf einer Filmleinwand.
Ahmid Issa bewohnte eine große Villa. Sie lag direkt an der Küste des Mittelmeeres. Er hatte vier reizende Kinder und verfügte über glänzende Verbindungen. Sein Büro hingegen war äußerst unscheinbar und befand sich mitten im Hafen von Misrata. Als geborener Libyer war er äußerst anpassungsfähig, ein Feilscher, wie er im Buche stand und ein Intrigant par Excellanze. Neben dem üblichen Geschäft des Drogenschmuggels, hatte er rechtzeitig erkannt, dass die Zukunft im Menschentransport lag. Dieser Erlös war weit
weniger gefährlich. Kommt die Ware Mensch zu Schaden, verläuft es sich im Sande. Wird ein Drogentransport aufgebracht, dann hat man nur Ärger am Hals. Es wird nachgeforscht, man muss ordentlich bestechen, kurz gesagt, es drohen unter Umständen immense, vor allem kaum kalkulierbare Unkosten. Eine gar betrübliche Geschäftsentwicklung.
Aus demselben Grund ließ er neuerdings auch die Finger von der Piraterie. Zu hohes Risiko, wenn auch der ansehnliche Gewinn nicht von der Hand zu weisen war.
Heute stand seine bevorzugte Ware schon wieder vor seinem Büro, Import-Export Issa Schlange. Polizist Shahid bekam auch schon
seinen Kaffee inklusive der obligatorischen Serviette mit dem verstecktem Obolus. Auch er hatte schließlich Kinder zu versorgen und er durfte nicht wankelmütig werden.
Ahmid Issa konnte sich auf seine Sekretärinnen verlassen. Ohne Bares war das Ersuchen abzulehnen. Nun schob sich ein drahtiger junger Mann heran. Er hatte einen Verband am Oberarm, der im Gegensatz zu seinem geblümten Hemd auffiel. Ahmid äugte neugierig herüber und hörte sich die Story an. Wahrscheinlich das übliche Gewinsel. Der vielversprechende Mann sagte, dass er Mohamed Abdi genannt würde. Er hatte sogar Papiere dabei. Als aber dieser Ahmid ein Bündel Dollarscheine
zückte, da sprang Issa fix herbei.
"Ich kümmere mich schon darum", wies er die Sekretärin Aya an. Er zog Abdi zur Seite.
"Wir gehen erst einmal in ein Cafe."
Bei einer türkischen Tasse Kaffee fragte Issa kameradschaftlich nach.
"Du heißt also Abdi, Mohamed. Du weißt, dass der Name Verpflichtung ist? Und du weißt, dass Dollars gefährlich sein können?" "Ich habe nichts anderes", erklärte Abdi. "Woher?"
"Mein Bruder war Journalist. Er hatte ein wenig durch seine Auslandsreisen horten können und bei einem Bergwerksstollen vergraben. Da habe ich es mir genommen." "Nicht nett gegenüber Deinem Bruder", mahnte Ahmid.
"Die muslimische Religion sieht es wahrlich nicht gern sich gegen die Familie zu versündigen, oder?" "Mein Bruder ist tot!"
"Du hast recht getan, bei Allah.
Wie viel ist es?" "1000 Dollar", sagte Abdi.
Issa hatte sich bewundernswert im Griff. Er verhinderte die Schnappatmung und lehnte sich entspannt zurück.
"Du kannst Allah danken, dass er sich so gnädig zeigt. Du bist ein Auserwählter", resümierte er.
"Da kannst du 100-prozentig Dein Glück finden!"
"Das habe ich mir erhofft", sprach Mohamed Abdi.
"Mein Bruder, Allah hab ihn selig, riet mir mich an Euch zu wenden."
"Wohl getan", bestätigte Issa. „Ich befreie dich von deinem Dilemma!
Dieses, sein Geld, verschafft dir das Paradies. Ach, könnte ich mit Dir tauschen, denn gerade jetzt ist dir Allah hold. Ich habe ein sensationelles Boot organisieren können. Ein Klacks zum gelobten Land für dieses einmalige Boot. Für die paar Seemeilen bis nach Lampedusa." "Lampedusa? Wieso dort?"
"Ach du Unwissender! Lampedusa liegt in Europa, gehört zu Italien! In der EU! Von hier aus ist es nur ein Katzensprung entfernt. Da schenken sie dir Kleidung, Essen, Telefon und Frauen. Da bist du jemand! Und Arbeit drängen sie dir auf. Du brauchst nur noch auswählen. Natürlich ist es nicht einfach
dorthin zu kommen, aber du hast eben Glück. Ich habe alles organisiert. Besonders natürlich für solch tolle Kerle, wie Dich!"
Abdi blickte beschämt zu Boden.
"Was ist mit der Verletzung", fragte Issa.
"Streifschuss!"
"Aha, dann wollen wir mal sehen. Wir gehen gleich zu Ibrahim. Der schaut sich die Sache an. Du musst doch fit für drüben sein."
Der sogenannte, ehrwürdige Ibrahim, seines Zeichens Quacksalber mit elitärem Drang nach oben, besah sich die Wunde, die für 10.000 Dirham keinerlei Anlass zur Besorgnis bot.
Danach führte Issa Abdi in den Hafen Qasr Ahmed von Misrata. Am abseits gelegenen Kai zeigte er auf die Himilcon.
"Das ist dein Boot", brüstete sich Issa stolz. "Na, was sagst Du?"
Mohamed konnte nur staunen. Er sah einen ehemaligen Fischkutter von ca. 20 Meter Länge. Die Aufbauten waren fast alle demontiert worden und nur noch die Brücke fragmentarisch vorhanden. Im hinteren Teil war lediglich eine Jutesack-Plane auf Holzstelzen als Kajütdeck angebracht. Einem Teil des Achterdecks spendete sie Schatten. Die Takelage, sowie das eigentliche Bootsdeck waren bis auf einen Mast verschwunden. Die Himilcon mochte 5 Meter breit sein. Der Tiefgang würde nur 2,2 Meter betragen, erklärte Issa schlitzohrig. Außerdem sei sie praktisch nur aus Holz und so von dem schweinischen Radar der widerlichen
Ungläubigen kaum erfassbar.
"Sie hat einen deutschen Motor! Du kannst sogar nach Deutschland, wenn du erst in Lampedusa bist."
" Wie lang dauert es denn?"
"Ach, die paar Seemeilen sind ruck, zuck erledigt. Es sind genau 420 Kilometer. Bei diesem Prachtstück, das bis zu 15 Knoten macht, lächerlich!
Da bist du in 30 Stunden dort."
Er verschwieg, dass die antike Maschine von Henschel, gebaut 1936, allenfalls 5-8 Knoten auf den drei Blatt-Propeller bringen konnte, ganz zu schweigen von Wellengang und Strömung. Ein Unwetter würde die ganze Aktion sowieso den Garaus machen,
weswegen sich Issa schon seit geraumer Zeit nach einem Ersatz-Seelenverkäufer umschaute. Man muss vorausschauend sein.
"Schon nächste Nacht geht’s los, guter Freund. Du sollst nicht solange warten. Ich bringe Dich bis morgen unter, aber es muss natürlich geheim ablaufen."
Abdi befand sich in einem Stall auf Stroh. Es war sogar trocken. Neben ihm lag Aisha mit ihrem 6 Monate alten Kind. Sie war nett, aber Abdi war todmüde und erfuhr von ihrem Schicksal wenig, das sie ihm breit erzählte, weil er völlig erschöpft eingeschlafen war.
Die hundert Strohschläfer wurden plötzlich aus der Baracke heraus getrieben.
"Schnell, schnell zum Strand. Es sind nur 3
Kilometer!"
Am Strand, um drei Uhr früh, fand die Übergabe statt. Aus mehreren Richtungen strömten die Passagiere herbei. Im Hafen wäre das natürlich nicht möglich gewesen.
Die arme Himilcon nahm über 500 Flüchtlinge an Bord. Im Gedränge des hohlen Rumpfes war Abdi direkt an Aisha gepresst. Sie hatte ihren Sohn im Arm und versuchte Zuversicht auszustrahlen.
"Nur noch bis übermorgen", flüsterte sie, "dann wird alles gut."
Ahmid Issa lag in seinem gemütlichen Bett und schlief tief und fest. Die Übergabe der Ware erfolgte grundsätzlich durch „Angestellte“. Diese Rotzlöffel waren für die
Handlanger Dienste gut genug.
Mohamed Abdi registrierte nur im Unterbewusstsein, dass seine Glieder erstarrten und doch blitzten intensive Gedanken auf. Wie war die Katastrophe herein gebrochen?
Die gute Himilcon machte prächtige Fahrt. Das Meer war ruhig. Sie stampfte tapfer durch das Mittelmeer. Die gequetschte Ware wurde ordentlich durchgeschüttelt. Wasser war kaum an Bord. Nur diejenigen, die vorgesorgt hatten, führten eine Plastikflasche Getränk mit sich. Abdi hatte eine bevorzugte Behandlung erfahren. Er hatte einen Apfel und eine Flasche Limo mit viel Zuckergehalt
mitbekommen. Außerdem hatte ihm Ahmed eine geblümte Jacke geschenkt.
Issa war richtig selbstlos gewesen, als der Handel und die Übergabe der 1000 Dollar perfekt gewesen waren.
In Europa bräuchte er kein Geld. Die sorgen für Dich wie verrückt, versicherte er. Da kommst du raus aus dem Dreck.
Lampedusa war schon seit längerem zu aller Freude der dicht gedrängten Menschen, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, in Sicht.
Da machte der Motor nach 39 Stunden, - es war 19:03 Uhr - , Probleme.
Der Kapitän, ein erfahrener Seebär aus Tunesien Namens Kerim Marzouki, hatte
Mühe sich bei der dichtgedrängten Menschenmasse einen Weg zu dem nur leicht verschalten Motor durchzukämpfen. Lediglich sein mit einer Uzi bewaffneter Assistent vermochte die drängenden Leiber mit Hieben auseinander zu stoßen.
Der Motor produzierte Rauch. Die Welle war festgefressen. Es war nichts zu machen.
Die Schiffsschraube war tot. Marzurki erkannte die Gefahr. Die Strömung würde sie an Lampedusa vorbei ziehen. Es musste etwas geschehen.
Das, was man vorher sorgsam zu vermeiden gesucht hatte, nämlich entdeckt zu werden, wurde nun zur einzigen Rettungsmöglichkeit. Aber was tun?
Elektronische Geräte? Fehlanzeige!
Selbst ein einfacher Funk war ausgebaut worden, weil die widerlichen Europäer das orten könnten.
Es blieb nichts anderes übrig, als zu uralten Hilferufen zurück zu greifen.
Das Sonnensegel im Heck des Kutters bot eine Möglichkeit für Signale. Der Jutedecke wurde hektisch von den Holzpfählen abgefriemelt, als eine Bö das losgelöste Leinen herum wirbelte.
Dabei kam es mit dem offenliegenden Motor in Berührung und fing Feuer.
Die Menschenmasse geriet nun endgültig in Panik.
Kapitän Marzouki brüllte sich umsonst die Lunge aus dem Leib. Die ersten weggestoßenen Passagiere an der Bordkante
stürzten mit einem Schrei über Bord. Unter den ersten war auch Abdi.
Neben ihm paddelte Aisha, die ihrem entrissenen Kind hinterher tauchte und danach verschwunden war.
Ein offensichtlich vergessenes Ruderblatt dümpelte vor ihm und er ergriff es in letzter Anstrengung, während das Feuer gefangene Schiff durch die Panik der Menschenmassen kenterte. Danach tat er das einzig Richtige. Er gab es auf sich gegen das Meer zu wehren, hielt sich nur noch fest und ließ sich treiben.
Als das Zittern durch Unterkühlung begann, da hatte er noch die Kraft sich etwas einzuigeln. Ein gekrümmter Körper hält Wärme länger. Außerdem war er froh um seine Jacke, weil es doch im Europa so kalt
sein sollte. Jetzt wärmte sie ihn, schwer wie sie war.
Abdi war am Ende. Wie nah und doch so fern, dachte er noch. Seine letzten Gedankengänge waren von Depression
beherrscht.
Und doch, alles umsonst!
Inspektor Cavalli betrachtete die Leiche zwischen den Felsen.
„Auch ein Toter von dem Flüchtlingsunglück? Wasserleiche?“
„Nee, eben nicht! Er muss noch gelebt haben, als er hier angeschwemmt wurde. Herzversagen durch Unterkühlung, würde ich sagen.“ Der Arzt schwieg.
"Der hat sogar noch Papiere! Mohamed Abdi
heißt er", klärte der Carabinieri auf.
"Und? Wen interessiert’s?"
"Was sollen wir machen?"
"Äschern sie ihn ein. Diese faulen Hunde! Wollen sowieso nur Sozialschmarotzen! Sollen sie doch in ihrem Krahl bleiben und endlich ordentlich arbeiten.
Mann, was habe ich diese Flut von Schmarotzern dick! Aber meinetwegen. Geben sie den Leichenfund behördlich weiter. Aber dann muss Schluss sein!"
"Okay, wird gemacht."
Im Weggehen flüsterte der eine Polizist dem anderen zu: „Für mich war es trotzdem ein bedauernswertes Schwein. So kurz vor der Ziellinie!“"
Das Recht auf Flucht ist nun mal teuer",
sinnierte der andere.
(Tagesanzeiger - Schweiz - 22.07.2008
Screenshot: La Repubblica)