Ich schlendere durch die gut gefüllte Innenstadt, alle Leute starren mich an. Einige tuscheln hinter meinem Rücken, denken, ich könnte sie nicht hören. Andere zeigen ganz offen mit ihrem Finger auf mich. Manche sind bestürzt, schockiert oder bemitleiden mich, andere machen sich lustig, sind froh, dass es nicht sie selbst getroffen hat. Die Ampel piept, ich überquere die Straße.
Vor mir geht ein junger Kerl in meinem Alter, den Blick starr auf sein Handy gerichtet. Da passiert es: ich habe eine Sekunde nicht aufgepasst und schon scheppert es neben mir. Der Junge bleibt stehen, blickt sich erschrocken um. In diesem Moment kommt auch schon die
Ladenbesitzerin auf den Gehweg gerannt und brüllt den Jungen an. „Hast du keine Augen im Kopf, du Idiot!? Das bezahlst du mir!“ Ich trete auf eine der Scherben, die sich auf dem Pflaster verteilen. „Tut mir Leid, das war meine Schuld. Ich bin wohl irgendwo hängen geblieben.“ Die wütende Frau starrt mich an. Ihr verwirrter Blick huscht zwischen den Scherben, dem Jungen und mir hin und her. Dann gleitet ihr Blick an mir herab und bleibt an dem weißen Stock in meiner rechten Hand hängen. Ihre zu Schlitzen verengten Augen weiten sich. „Natürlich bezahle ich den Schaden“, sage ich schnell. Ruckartig schüttelt die Frau ihren Kopf und stammelt:
„Nein...kein Problem...kann ja mal passieren.“ Mit einem letzten Blick auf mich und den Jungen kehrt sie in ihr Geschäft zurück, um einen Besen zu holen. Ich setze meinen Weg fort.
Ein paar Meter weiter bleibe ich mit meinem Stock in einem Kleiderständer hängen. Es ist mühsam, ihn unter dem Metall hervor zu ziehen, denn die Kugel am Ende hat sich verhakt. Das passiert mir ständig, denn überall stehen Werbetafeln, Tische und Stühle, sowie Auslagen irgendwelcher Läden auf den Gehwegen, mal links mal rechts – es gibt kein Entkommen!
An der Kreuzung bleibe ich stehen, lausche ob ich eine herannahende
Straßenbahn höre. Doch ich komme gar nicht dazu, denn im nächsten Moment packt mich eine starke Hand am linken Oberarm. Erschrocken fahre ich herum und sehe mich der Gestalt eines älteren Herren gegenüber. Er würdigt mich keines Blickes, starrt nach links, in die Richtung aus der in diesem Moment eine Straßenbahn heranfährt. Ich reiße mich von dem Mann los, der mir nun doch seine Aufmerksamkeit schenkt. „Na hörn´ se mal! Ich wollt Ihn´ ja nur helfen!“, schnaubt er leicht angesäuert. „Vielen Dank, aber ich bin durchaus in der Lage selbstständig eine Straße zu überqueren“, entgegne ich leise. Doch er hört es und wirft mir einen bösen Blick
zu.
Leicht genervt komme ich an der Haltestelle an. Ich stelle mich direkt vor die Anzeigetafel, die mir verrät, dass ich noch fünf Minuten Zeit habe, bis die nächste Bahn kommt. Um mir die Zeit zu vertreiben, ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Dicht halte ich es vor mein Gesicht, um die verschwommenen Buchstaben zu lesen, die sich über das Display ziehen. Schnell tippe ich eine Antwort und drücke auf „Senden“. „Die tut nur so...“, höre ich ein Flüstern neben mir. Ich hebe nicht den Kopf, um nachzusehen, denn ich weiß, dass die junge Frau auf der Bank mich meint. „...sowas armseliges...“, pflichtet ihr der
Mann daneben bei.
Die Menschen strömen aus der Bahn, ich suche mir einen Platz am Fenster. Um mich herum sind alle Plätze belegt. An der nächsten Haltestelle steigen noch mehr Leute ein, sie füllen den letzten freien Platz aus, stehen im Gang. Der Platz neben mir jedoch bleibt leer. Immer wieder wirft jemand einen verstohlenen Blick in meine Richtung. Ich lasse mir nichts anmerken und blicke starr geradeaus. Nach zehn Minuten Fahrt steige ich aus. Sofort setzten sich zwei Jugendliche auf meinen Platz und den daneben.
An der Haltestelle ist eine kleine Nebenstraße, in die ich mich ungesehen
zurückziehe. Dort klappe ich meinen Stock zusammen und verstaue ihn in meiner Handtasche. Ich mache das nicht auf offener Straße, da ich weiß, dass die Leute sich nur wieder das Maul zerreißen und mir Blicke hinter vorgehaltener Hand zuwerfen würden. Aber wozu sollte ich mir den Einkauf unnötig erschweren, wenn ich den Weg in die Geschäfte in und auswendig kenne?
Ich brauche beide Hände, um mich durch die neuen Kollektionen zu wühlen, Schuhe anzuprobieren oder einen Kleiderhaufen in die Umkleidekabine zu tragen. Die Läden sind mit hellem Licht durchflutet, was mir sehr entgegenkommt und ich mich so frei bewegen kann. Doch
das verstehen die Menschen einfach nicht. Sie sehen nur ein Mädchen, das gerade noch an einem Blindenstock gegangen ist und im nächsten Moment ohne dessen Hilfe weitergeht als wäre nichts gewesen. Sie ziehen dann wie immer die falschen Schlüsse daraus, denken ich simuliere, will Aufmerksamkeit und bemitleidet werden.
Sie haben Vorurteile, denken sobald man so einen Stock benutzt oder eine Binde am Arm trägt, ist man ohne Ausnahme in der Dunkelheit gefangen. Die wenigsten wissen, dass man auch als „Blind“ gilt, wenn man noch ein wenig Sehschärfe besitzt. Man kann sich schlechter in der Außenwelt orientieren, kann vielleicht
nur einen Meter oder wenige Zentimeter weit sehen und benötigt deshalb einen Führhund oder einen Stock. Doch man kann sich auch ohne weitgehend bewegen, bekannte Orte, ebene Flächen, gut ausgeleuchtete Räume, oder wenn jemand dabei ist, an dessen Geräuschen man sich orientieren kann.
Das Shoppen ermüdet mich schon bald. Die vielen Menschen im Geschäft, ihre vielen Düfte und Geräusche, ihr Drängen und Schubsen, ihre Ungeduld sind zu viel für mich. Doch wenigstens war der Tag nicht ganz umsonst, mit einer neuen Jeans über dem Arm, mache ich mich auf den Weg zur Kasse.
Doch wo war die noch gleich? Ich habe
es vergessen! Eine Frau rempelt mich an und motzt, ich solle doch aus dem Weg gehen. Desorientiert laufe ich die Gänge rauf und runter. Bin ich im Kreis gelaufen? Eine gefühlte Ewigkeit irre ich durch das große Geschäft, am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ich muss total verrückt aussehen.
Zum wiederholten Male stehe ich nun in der Männerabteilung, wobei ich mir darüber noch nicht einmal ganz sicher bin. Die ganzen Stoffe sehen alle gleich aus. Ich könnte auch vor einer Gardine stehen und denken es wäre ein Ballkleid. Ein stechender Kopfschmerz setzt ein und ich bin versucht, die Hose einfach irgendwo abzulegen und nach Hause zu
gehen, doch in diesem Moment höre ich das leise vertraute Piepsen der Kasse.
Ich folge dem Geräusch und lege kurz darauf meine neue Errungenschaft vor die Kassiererin. Sie entfernt die Diebstahlsicherung und zieht das Schildchen über den Scanner. Noch bevor sie mir den Preis nennen kann, halte ich ihr meine EC-Karte entgegen. Ihr Blick wandert meine linke Hand, die die Karte hält hinauf und bleibt an meinem Oberarm hängen, an dem ihr die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten entgegen leuchtet. Unsicher nimmt sie das Stück Plastik entgegen und steckt es in das Kartenlesegerät. Wieder wirft sie mir einen unsicheren Blick zu
als sie sagt: „Pin eingeben und bestätigen?“ Es klingt eher wie eine Frage als eine Aufforderung.
Ich tippe die vier Zahlen ein, doch da bemerke ich, dass ich zu schnell war. Also suche ich den Korrekturknopf und berichtige meine Eingabe. Wieder hebe ich das Gerät näher an meine Augen, um den grünen Knopf zu suchen. Die Schlange hinter mir wird länger. Ungeduldig wippt die Frau hinter mir hin und her. Also schnappe ich mir schnellstmöglich meine Karte, werfe sie achtlos in meine Handtasche, nehme die Tüte entgegen, die mir die Verkäuferin reicht und steuere den Ausgang an.
Doch auch hier habe ich einen Fehler
begangen. Der Laden hat mehrere Ein-und Ausgänge, ich habe den falschen gewählt, denn ich stehe in einer leeren Seitenstraße und habe keine Ahnung in welche Richtung ich nun gehen muss. Ich ziehe meinen Stock aus der Tasche und klappe ihn auseinander. Unentschlossen biege ich nach rechts. Ich habe die richtigen Weg gewählt, denn wenige Minuten später stehe ich wieder auf der Haupteinkaufsstraße.
Für heute habe ich die Nase voll, ich will einfach nur nach Hause und mich ausruhen also begebe mich zurück an die Haltestelle. Auf dem Weg komme ich an einem Bäcker vorbei, die Brötchen duften einfach herrlich. Aber ich gehe
einfach weiter, denn ich kenne diesen Bäcker nicht, weiß nicht was sie anbieten und was alles im Einzelnem kostet. Ich müsste die Produkte erst erfragen und das Geld erst mühselig aus meinem Geldbeutel zusammensuchen. Das würde wieder den ganzen Betrieb aufhalten und die Leute hinter mir würden sich beschweren. Zu Hause habe ich noch Aufbackbrötchen, damit werde ich mich heute begnügen.
An der Haltestelle ziehe ich dieses Mal nicht mein Handy heraus, auch nicht als es unablässig vibrierend einen eingehenden Anruf verkündet. Ich hefte meinen Blick auf einen Punkt direkt vor mir und starre ihn nieder. Ich verhalte
mich ganz so, wie es die Menschen um mich herum von einem (beinahe) blinden Mädchen erwarten.