Titel
„Steh auf! Na los! Wir wollen hier nicht verrecken!“ „Beweg deinen Arsch!“ „Los, heute noch!“ „Komm in die Gänge Oma!“ „Beeilung, du Versager!“
Er greift mit seiner rechten Hand nach dem Geländer. Seine Finger umschließen das kalte Metall und seine Sehnen spannen sich. Aus mehreren kleinen Wunden tropft Blunt und sammelt sich auf dem schmutzigen Boden.
„Jeah, das wollen wir sehen!“ „Weiter, eine Hand geht noch!“ „Immer vorwärts, du Made!“ „Das war erst der Anfang, weiter machen!“ „Auch wenn es weh tut, musst du jetzt aufstehen, wenn schon
nicht für dich, dann für sie!“
Sein zweiter Arm zuckt. Er versucht ihn zu heben, doch er kann nicht. Sein Oberarm meldet gewaltige Schmerzen und er verzieht das Gesicht. Der Sack hat mir wohl doch den Arm gebrochen …
„Wir müssen weiter.“ „Der Arm wird schon wieder.“ „Es gibt noch mehr Wege, also los!“ „Du kommst doch sicher mit einem Arm hoch und deinen Beinen hoch!“ „Du hast deine Primärwaffe verloren, ich werde Ausschau nach Ersatz halten.“
Er richtet seinen linken Fuß, sein Zehen schmerzen, doch nicht so schlimm wie beim Arm und er belastet sie vorsichtig. Ein stechender Schmerz, doch nichts,
was er für sie nicht aushält.
„Dafür gibt’s eine Eins!“ „Eins Plus.“ „Mit Sternchen“ „Jetzt nur noch die rechte Seite, dann hast du’s.“ „Du musst die beeilen, theoretisch hast du kaum noch Chancen, vor ihnen dort zu sein, jetzt zählt jede Sekunde.“
Er hebt vorsichtig den anderen Fuß, und setzt ihn neben den Linken. Er fühlt sich gut an, eigentlich tut er nur nicht weh, aber das ist in seinem Fall schon gut.
„Energie vorhanden!“ „Muskeln bereit!“ „Weg berechnet!“ „Verletzungsniveau hoch, aber alles startklar!“ „Umgebung geprüft, pass auf das wacklige Geländer auf und der Boden ist nass.“
Er spannt alle Muskeln und schwingt
sich kraftvoll auf. Das Geländer wackelt verdächtig, aber hält seinem Gewicht stand. Sein ganzer Körper schmerzt und seine Lunge brennt, doch er kann sich auf den Beinen halten. Der gerade noch so unangenehme Asphalt wirkt plötzlich so angenehm und verlockend, doch er widersteht ihm.
„Und jetzt wollen wir den Usain Bolt sehen!“ „Von null auf Sprint in drei Sekunden!“ „Wir wollen die Teufel nicht warten lassen!“ „Gut gemacht, mein Freund.“ „Jetzt zeig mal, was der wahre Tempelrun ist!“
Er setzt den ersten Fuß vor, verlagert sein Gewicht auf diesen und zieht den anderen nach. Schon etwas schneller
macht er den zweiten. Und sofort den dritten und beim vierten joggt er bereits. Bei jeder Erschütterung sticht sein Bauch, doch er ignoriert den Schmerz. Beim fünften beginnt er bereits zu laufen und bei sechsten sprintet er schon.
„Ole, ole, ole, immer weiter!“ „Bis in den Tod und noch viel weiter!“ „Sie wartet auf dich.“ „Mach dich für einen Adrenalinkick bereit!“
Er sprintet immer schneller, fliegt fasst schon über den schwarzen Boden. Das Adrenalin schießt durch seine ganzen Körper und er genießt die neue Kraft. Mit einem riesigen Sprung hechtet er über eine Mülltonne. Schon verlässt er die dunkle Gasse und gelangt zur
belebten und hellen Hauptstraße.
„Sie wird im Park sein! Nur über die Straße und dann noch drei Gassen weiter!“ „Gerade drüber, du hast es eilig!“ „Immer der Nase nach!“ „Es sind gerade nicht viele Autos unterwegs, also los!“
Wie vom Teufel gejagt rennt er auf die Straße. Er weicht knapp einem weißen Auto aus, dass ihn sogleich anhubt. Doch ihm ist es egal, zu wichtig ist sein Mission. Schon erreicht er den Mittelstreifen. Ohne zu schauen rast er los. Reigen quietschen und der Fahrer des Polizeiautos hubt. Doch der Junge dreht sich nicht um, läuft einfach immer weiter und erreicht das Ende der
Straße.
„Das war verdammt knapp!“ „Jetzt nach links.“ „Dräng dich einfach durch die Menge.“ „Weiter so mein Freund.“
Mit seinen zerrissenen Hemd fällt der Schüler den Passanten auf und alle machen einen Bogen um ihn. Er nützt die Gelegenheit und eilt durch die entstandene Lücke. Die Menschen starren ihn schockiert an, erwarten sie doch keinen Verletzen, der über die Straße und den Gehweg rennt. Doch für ihn sind es nur Hindernisse in Schwarzen Anzügen und Blazern. Er läuft weiter und passiert die erste Straße. Die Ampel ist Grün und er geht in den Menschenmassen unter. Schnell löst er sich wieder von ihnen und
kommt zur zweiten Querstraße. Auch hier ist die Ampel grün, doch die Menge ist schon auf der anderen Seite. Wie der kalte Wind, der durch kleine Ritzen in einer Wand dringt, schlängelt er sich vorwärts. Vorbei an unzähligen Geschäften, die ihn zu verführen versuchen. Da erreicht er die dritte Ampel, sie ist rot.
„Wenn du deswegen zu spät kommst, wirst du dir nie vergeben!“ „Da kommt kein Auto, mein Freund“ „Kannst du sie schon schreien hören! Nein, dann beeile dich und beschütze sie!“
Noch nie ist er so leicht über die Bordsteinkante getreten, es fühlt sich befreiend an. Beflügelt vom leichten
Wahnsinn und der Sorge um den geliebten Menschen betritt er die Straße, ein Auto, das einbiegen wollte hupt, doch wieder erreicht ihn kein Ton. Sein Tunnelblick verengt sich zunehmend und er hat nur noch Augen für sein Ziel. Dann erreicht er die andere Seite, den geliebten sicheren Bürgersteig.
„Jetzt nur noch nach recht, dann bist du fast da!“ „Du schaffst das!“
Er drückt sich durch eine letzte Gruppe, die ihn nicht durchlassen will und da erheben sich wie aus dem nichts die Bäume des Parks vor ihm. Dunkle große Fichten, mit Nadeln, die wie kleine Messer beherrschen den Park. Nur noch dreißig Stiegen trennen ihn von dem
Grün der Hoffnung und der Sorge.
„Spring los und nimm so viele Stiegen wie möglich mein Freund.“ „Wir sind so weit gekommen, jetzt bloß keine falsche Scheu!“
Mit aller Kraft stößt er sich ab und überspringt die ersten sechs Stufen, mit dem übrigen Schwung nimmt er immer gleich vier Stufen, ein halsbrecherisches Unterfangen, dass ihm nochmals ein paar Sekunden bringt. Dabei reißt er fasst eine alte Frau um, die ihm nachschreit, doch sofort verstummt, als sie seine frischen Verletzungen sieht.
„Los! Los! Los! Da vorne ist sie und da sind sie auch schon, das schaffst du!“
Wie ein tollwütiger Hund im Blutrausch
stürmt er auf die Schläger zu. Mit aller Kraft und er Macht seiner Schwungs reißt er den ersten um. Beide stürzen hart zu Boden. Die anderen Mobber drehen sich schlagartig zum ihm und treten auf ihn ein. „Du kleiner Scheißer hast es noch nicht gelernt?“, schnauzt der Anführer, „vielleicht müssen wir dir zeigen, was passiert, wenn du nicht zahlst!“ Er zieht sein Jagdmesser und legt es dem Mädchen an die Kehle. „Hannah!“, keucht der Verletzte mit kaputter Stimme und hustet. „Bruder!“, flüstert das kleine Mädchen und beginnt zu weinen. „Eigentlich, wollte ich sie nur leicht verletzen und ihr Angst einjagen, aber jetzt wird es persönlich,
Kleiner!“, lacht der Messermann. „Bitte tut ihr nicht weh, ich flehe euch an! Ich zahle auch, irgendwie treibe ich das Geld auf!“, fleht der blutende Junge. Doch mit einem Grinsen, lacht der Ältere: „Zu spät!“
„Es ist vorbei, mein Freund!“
Eine Träne sucht sich den Weg von seinem zugeschwollenen Auge zum Boden und vermischt sich mit seinem Blut. Er sieht in die Augen seiner Schwester und lügt: „Alles wird gut, Hannah.“
Dann löst sich ein Schuss. Blut strömt zu Boden und alle sehen zu dem Anführer der Gang. Er lässt das Messer fallen und fällt tot um. „Polizei! Wenn sich einer
von euch Gangstern bewegt, war das euer letzter Fehler“, schreit der Polizist und visiert die Gangster an. Sofort holen die anderen Kollegen aus dem Polizeiwagen auf und nehmen die Verbrecher fest.
In Tränen aufgelöst rennt die kleine Schwester zu ihrem Bruder und schließt ihn schreiend in die Arme.