Mein Schatz
Sie war zu schlank für ihre Größe. Ihr Haar verströmte einen süßen Duft, doch die Augen glichen Eiskristallen. Ihre Nase war gestutzt und in Bahnen gelenkt, die den Vorstellungen eines virtuosen Plastikchirurgen geschuldet waren, der mehr auf Individualität als auf Funktionalität seiner Kreationen Wert legte. Sie holte tief Luft und schloss ihre Lippen wieder. Schwermut gepaart mit unbeholfener Ungeduld lag in ihrem Blick. Sie fühlte sich unwohl und konnte es nicht verbergen. Der Schatten an der Wand neben dem Badezimmer wurde größer und wieder
kleiner. Er schwoll an und senkte sich gen Boden mit jedem Wippen des Schaukelstuhls, in dem der Mann saß, angeschienen vom Licht der Nachtlampe.
Wie war er in die Wohnung gelangt? Hatte er einen Schlüssel oder brach er das Fenster auf? Und wieso hatte sie es nicht geahnt? Ihre Intuition verließ sie immer öfter, je mehr sie sich der Liebe hingab. Unverantwortlich! Sie war selber schuld an dieser prekären Situation und es würde wohl ihr letzter Fehler werden.
Er erhob sich aus dem Schaukelstuhl. Sein Schatten tauchte die Wand in ein tiefes Schwarz. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Allein am Schatten erkannte
sie, was er tat und als dieser langsam kleiner wurde, hörte sie seine weichen Schritte. Bei jedem Auftreten so sanft wie damals.
Sie spürte seinen Geruch. Er umschlang sie, umarmte ihre Sinne und strömte gewaltsam in sie hinein. Kälte und Feuchtigkeit – Moder, ein Wald im Herbst, nach einem starken Regen – daran erinnerte sie der Geruch.
Er beugte sich zu ihr und roch an ihrem Haar. Es duftete süß wie immer.
„Benutzt du immer noch dasselbe Shampoo“, fragte er flüsternd.
Sie überhörte es.
Ein Lächeln schlich wie Eiskristalle auf Fensterscheiben im Winter sein Gesicht
hoch. Ja, sie war immer noch so temperamentvoll wie damals. Er kannte sie in- und auswendig. Also spielt er weiter sein Spiel. Nun war er am Zug.
„Magst du mich nicht anschauen, Schatz?“, zischte er ihr ins Ohr. Wie eine Schlange wanden sich seine Finger um ihren Hals. Kalt und rau.
„Wer hat dir das mit deiner Nase bezahlt? War wohl ein Billigpfuscher aus Polen oder wolltest du bald im Zirkus anfangen?“
Seine Finger griffen nun nach ihrem Haar und rissen ihren Kopf ruckartig nach hinten. Sie schrie kurz auf, verschluckte aber die nächsten drängenden Töne im Wissen um seine
Warnung. Sie musste still sein. Bloß still sein.
„Na, was ist, du kleines Flittchen? Rede, wer ist dein neuer Maker? Ist er reich? Wo hast du ihn aufgegabelt?“
Sie keuchte vor Schmerzen: „Niemand, ich bin allein.“
„Lüg mich nicht an. Lüg mich bloß nicht an!“, schrie er und zog an ihren Haaren. Sein Gesicht war nun ganz nah an ihrem und er sah ihr in die Augen. Er lachte wieder eisig.
„Ich bin heute nicht umsonst hier. Du fragst dich sicher, wie ich reingekommen bin. Ich kenne dich doch. Ich kann jeden Gedanken von deinen Augen ablesen. Gerade fragst du dich, ob
ich mein Wort halten werde und nicht ins Kinderzimmer gehe. Hab ich recht?“
Sie schien sich wieder gefasst zu haben. Ihr Blick fand die Stärke, seinen Augen zu begegnen.
„Wir können das wie erwachsene Menschen klären. Lass unsere Tochter aus dem Spiel“, antwortete sie selbstsicher. Kein Zittern in der Stimme.
„Nein, das können wir nicht“, antwortete er. „Und ich sage dir auch, wieso.“
Er ließ ihr Haar los und richtete sich wieder auf. Im Licht der Lampe glitzerte das Klebeband um ihren Körper. Sie war so wehrlos, so hilf- und schutzlos. Das gefiel ihm. Er fühlte sich
stark.
„Wir“, fuhr er fort, „wir schulden uns noch etwas.“
Er entfernte sich mit weichen Schritten von ihr und nahm wieder im Schaukelstuhl Platz.
„Weißt du noch, was wir uns damals versprochen hatten?“, fragte er sie, ohne sie anzuschauen.
Sie schwieg.
„Respekt! Wir hatten uns Respekt versprochen. Ich weiß, du siehst mich jetzt als deinen Feind an, als jemanden, der dein Leben zerstören will, aber glaube mir, es ist allein deine Schuld.“
Er begann wieder zu schaukeln. Sein Schatten schlich rhythmisch über die
Wand.
„Du hättest dein Wort halten sollen, dann wäre es nie so weit gekommen. Rache ist nie eine gute Lösung, wenn man am kürzeren Hebel sitzt. Wusstest du nicht, dass ich dich finde? Hattest du nicht genug Zeit, mich kennenzulernen? Und eines solltest du in den sieben Jahren gelernt haben. Ich halte mein Wort. Immer!“ Seine Stimme war gefasst und leise. Bis auf das „Immer!“ hielt er dieselbe Tonlage, dann wurde er lauter. Als ob er sich diese Unbeherrschtheit nicht verzeihen könnte, tadelte er sich spielerisch, indem er seine Hände ausbreitete und sie schlichtend nach unten bewegte. Seinen Lippen entfuhr
wieder ein Zischen.
„Was habe ich dir damals gesagt?“, fragte er kontrolliert und fast lautlos.
Sie öffnete ihre Lippen und holte Luft. Sollte sie schreien? Konnte sie noch etwas retten? Würde er es wirklich tun?
Sie wandte ihr Gesicht zu ihm. Er schaukelte behäbig und schaute aus dem Fenster.
„Schau mich bitte an“, sagte sie mit einem schwachen Zittern in der Stimme. „Bitte, ich kann alles erklären.“
Er reagierte nicht. Sein Kopf begann nun im Rhythmus des Schaukelns mitzuwippen, so als ob er sich selbst eine Vermutung bestätigen wollte.
„Was habe ich dir damals gesagt?“,
wiederholte er seine Frage.
Gut, sie musste jetzt mitspielen. Das war die einzige Chance. Sie musste diesem Psychopathen gehorchen. Nur so konnte sie sich und ihre Tochter vielleicht noch retten.
„Liebe deine Feinde, denn sie sagen dir deine Fehler“, sagte sie laut und deutlich in der Hoffnung, es würde seinen Erwartungen genügen.
Er stoppte das Schaukeln, atmete tief ein und wieder aus.
„Genau“, sprach er langsam und zog die letzte Silbe stimmlos in die Länge. „Und jetzt werde ich dir deine Fehler sogar zeigen, mein
Schatz.“