Kurzgeschichte
Dement

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"Dement"
Veröffentlicht am 02. Oktober 2014, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Luisa Venturoli - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich bin gar kein Gedichteschreiber und schau nur selten auf die Sterne. In Sachen Liebe wär ich gerne nicht immer nur ein Sitzenbleiber. Ich bin auch nicht der Herzversteher, sonst wäre mir mal eins geblieben. Ich bin schon lange hinterblieben und nur ein Fremdenächteseher. Ich bin ein Träumerutengänger, ich fang mir fremde Träume ein; in meinem aber bleibe ich allein, ich bin ein Nachtmusikeinfänger. Es reicht nur zum ...
Dement

Dement

Zuerst hatte ich nur meine Schlüssel vergessen. Und für Telefonnummern hatte ich noch nie ein gutes Gedächtnis. An die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter, die vor vielen Jahren verstorben sind, erinnerte ich mich, und das beruhigte mich. Die erste Verzweiflung, die man später nicht mehr wahrnimmt, überkam mich, als ich zu Hause anrief und gestand, dass ich nicht wüsste, wo ich meinen Wagen geparkt hatte. „Aber Schatz, der steht doch in der

Garage. Du bist doch mit dem Bus in die Stadt. Wo bist du? Ich hole dich ab.“ Und an dieser Ängstlichkeit und Fürsorge entzündete sich meine Angst. In den Quizsendungen im Fernsehen wusste ich meistens die Antwort, aber als ich am Tag darauf die Zeitung holte, vergaß ich mir die Schuhe zuzubinden. Meine Frau kam immer mit zum Arzt. Sie hat nicht geweint, sie hat mir die Hand gedrückt. Vor einem Jahr habe ich das letzte Mal für sie gekocht. Seitdem ist meine Welt so klein

geworden… Ich registrierte, dass meine Kinder mit mir sprachen, so wie ich mit ihnen sprach, als sie noch Kinder waren, während ich darüber nachdachte, wie sie hießen. Nun sind meine Gedanken ein eigenes Universum. Ich konnte noch schreiben, als ich mich nicht mehr anzuziehen wusste. Und ich erfand Wörter, deren Bedeutung ich nicht kannte. Manchmal sah ich meine Frau lächeln, und manchmal sah ich sie weinen, aber ich wusste nicht warum. In einem Traum weiß man manchmal,

dass man träumt. So geht es mir in meiner Welt. Manchmal weiß ich, wer ich bin. Ein paar Sekunden nur. Dann will ich losrennen und ihr sagen, dass alles gut ist, und sie nicht mehr weinen muss. Und dann schaut sie mich fragend an und streicht mir übers Haar. Durch den Nebel hindurch sage ich: „Blau! Deine Augen sind blau. Blau, glaube ich.“ Und sie nimmt mich in den Arm, und ich will jetzt essen. Die Liebe ist mir nicht mehr bewusst, ich will nur noch erkennen. Und der Schatten an der Hauswand, an

der ich vorbeilaufe, ist länger da als meine Erinnerung. Und ich weiß nicht, ob ich den Menschen liebe, der mich begleitet.

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Hörbuch

Über den Autor

Constantin
Ich bin gar kein Gedichteschreiber
und schau nur selten auf die Sterne.
In Sachen Liebe wär ich gerne
nicht immer nur ein Sitzenbleiber.

Ich bin auch nicht der Herzversteher,
sonst wäre mir mal eins geblieben.
Ich bin schon lange hinterblieben
und nur ein Fremdenächteseher.

Ich bin ein Träumerutengänger,
ich fang mir fremde Träume ein;
in meinem aber bleibe ich allein,
ich bin ein Nachtmusikeinfänger.

Es reicht nur zum Vergissdeinnicht,
beschütz dein Glück, dein Schlaf,
nehm von dir nur das, was ich darf,
ich bin ein Herzenskammerlicht.

Ich bin ein Sternenlicht-Vertreter,
ein Fischer auf dem weiten Meer,
gewiss ein Einsamkeits-Dompteur,
und auch ein Sommernacht-Trompeter.

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Habibi Sehr beeindruckend geschrieben Constantin, ich habe einmal mehrere Monate eine alte Dame mit Demenz gepflegt. Ihre Kinder wohnten nebenan und dadurch konnte sie sie noch erkennen und sie lebte auch noch mit ihrem Mann. Interessant war, dass sie zwar nicht wusste was sie auf der Toilette machen soll oder dass sie ihren Fuß nicht hob um in die Badewanne zu steigen aber wir gemeinsam Weihnachtslieder gesungen haben und sie den ganzen Text konnte. Angst steht immer im Vordergrund, Angst haben solche Menschen sehr viel und heiter war sie. Im Grunde jedenfalls ist es ein leeres Leben von Ängsten beherrscht und doch auch noch lebenswert für die Betroffenen und ich habe auch viel gelacht mit ihr.
Es macht aber Angst selbst betroffen zu sein, ich möchte es nicht erleben, auf keinen Fall.Interessant wie Du Dich als vollkommener Laie an dieses Thema gewagt hast und das bewundere ich wie Du Deine Vorstellung zu Papier gebracht hast.
Schönes Wochenende wünscht
Barbara
Vor langer Zeit - Antworten
Constantin Ich danke Dir sehr, liebe Barbara, für Deine ausführliche Schilderung. Und herzlichen Dank für Dein Lob und für den Favo!
Liebe Grüße zu Dir Constantin
Vor langer Zeit - Antworten
Caliope Ich habe Demenz anders erlebt. Oh ja, er stimmen alle Aspekte, die du beschreibst, doch i ich habe, die dementen Menschen als recht glücklich in ihrer Welt erlebt und auch in "nicht klaren Momente" sich ihre sehr bewusst. Ich weiß das klingt widersprüchlich, doch ich meine sie lebte bewusst in ihrer Welt, der Vergangenheit und des Vergessenhabens, fühlten sich im Recht. Eine Neunzigjährige Klientin, war der Überzeugung, dass ich ja viel älter wäre, denn sie sei ein junges Mädchen.
Eine andere rief nach ihrer Mutter und als die Schwester sie in die Realität zurückholen wollte erreichte sie nur Verwirrung u nd die sehr alte Dame war verzweifelt, weil man ihr gesagt hatte, dass ihre Mutter tot sei. Als ich sie anlog und sagte sie wäre einkaufen,war alles wieder gut und die Mutter vergessen.
Auch habe ich erlebt, das die Person, die am meisten auf der Welt geliebt wurde, in allem und jedem gesehen wurde..
Aber ja, das mit dem Nichterkennen, die Ängste, aber auch doch immer wieder die Überschätzung der eigenen Kraft, kenne ich eben so , wie das immer mehr nicht nur in einer eigenen Welt leben , sondern, wie du es beschreibst, sich aus ihr zu verabschieden Doch konnte und kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Dementer, es so , bewusst, wie es auf mich , von dir geschrieben wird, erlebt. Klar, es gibt Momente der Klarheit aber so?
Ich liebe es, Texte, von denen ich will, dass sie besonders berühren, in der 1.Person zu schreiben. Aber ich sitze ihr und denke: "Wäre die 3.Person,nicht doch noch intensiver gewesen? Keine Ahnung..
,Dennoch es ist einabsolut guter Text, der Lob un viele Favos verdient.
lG
Cali
Vor langer Zeit - Antworten
Constantin Liebe Cali, natürlich ist die Form der ersten Person völlig irreal, ich habe sie auch mehr als Stilmittel benutzt. Zudem sind alle Schilderungen reine Mutmaßungen, da ich keine Betroffenen persönlich kenne. Ich denke auch, dass sich je nach Stadium, bei den Erkrankten unterschiedliche Reaktionen und Wahrnehmungen zeigen, die man als Außenstehender gar nicht nachvollziehen kann. Vom Verständnis her bin ich also völlig hilflos und schildere nur ein abstraktes Bild, das hauptsächlich die zunehmende Einsamkeit eines Betroffenen schildern soll.
Ich danke Dir herzlich für Deinen umfangreichen Kommentar und für deine lieben Worte!
Liebe Grüße Constantin
Vor langer Zeit - Antworten
Caliope Lieber Constantin,
eben weil ich annahm , dass deine Schilderungen Mutmaßungen sind, hab ich dich so vollgeschrieben, mit meinen Erfahrungen und es ist sicher auch ein Unterschied, dass meine Erfahrungen sich, wenn auch nicht ausschließlich auf den Umgang mit dementen im Seniorenwohnheim beziehen, wo die Einsamkeit, die Isolation etwas aufgefangen werden kann
Schönes WE
glG
Cali
Vor langer Zeit - Antworten
Sylke Diese Sicht ist so eindrücklich. Ich sehe es als Außenstehende bei meiner Mutter. Immer kleiner wird die Welt, immer weniger Reaktionen gibt es und immer weniger werde ich erkannt....und doch dreht sich die Welt weiter.
LG schickt Sylke
Vor langer Zeit - Antworten
Constantin Es ist furchtbar, wenn die Welt des Betroffenen immer kleiner wird, und so schmerzhaft für die Angehörigen.
Herzlichen Dank für Deinen Kommentar!
Lieben Gruß Constantin
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Lieber Constantin,
wieso ich Dich heute "entdeckt" habe - ich weiß es nicht. Ich habe mich eingeloggt und da war Dein sympathisches Gesicht ganz oben auf der ersten Seite. Ja und neugierig wie ich bin, musste ich natürlich gleich in Deiner "Bibliothek" stöbern.
Als erstes habe ich mir diese Geschichte ausgesucht - sie ist unwahrscheinlich beeindruckend erzählt, so stelle ich mir die Demenz vor ... Gebe Gott, es bleibt uns noch lange erspart.
Liebe Grüße
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
Constantin Liebe Gertraud, was für ein lieber Kommentar! Ich freue mich sehr, dass ich Dich zum Bleiben bewegen konnte und bedanke mich auch für den Favo und das Abo!
Liebe Grüße Constantin
Vor langer Zeit - Antworten
Gabriele Du hast in deinem Text einige wichtige Aspekte der Demenz angesprochen und ich bewundere, wie gut du dich eingefühlt hast, um so schreiben zu können!!
Ich glaube, so könnte das "Innenleben" aussehen....
Bei meiner Mutter mußte ich jedoch feststellen, dass sie lange Zeit sehr viel Angst hatte, inzwischen wohl nicht mehr.
Liebe Grüße, Gabriele
Vor langer Zeit - Antworten
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