Ein Blick.
Ein Blick nur.
Ein Blick nur genügte.
Es genügte dieser eine Blick in dieser einen, in dieser bestimmten Sekunde.
Er genügte, um alles zu verändern.
Er genügte, um die ganze Welt aus den Angeln zu heben. Meine Welt.
Meine kleine unbedeutende Welt.
Nein, eigentlich war das, was ich meine kleine Welt nannte, nicht wirklich unbedeutend.
Ich konnte es nur nicht sehen.
Schnell drehe ich meinen Kopf weg und sehe beschäftigt in die andere Richtung.
Mist, er hat zu mir herüber geschaut.
Dabei glaubte ich doch, ihn so unauffällig wie nur möglich gemustert zu haben.
Seinen Wahnsinnskörper, die Muskeln, die sich unter seinem roten Shirt deutlich abzeichnen. Seine starken durchtrainierten Oberarme. Ja, und natürlich auch sein Gesicht, was sonst. Diese blauen Augen, der Dreitagebart, die schön geschwungenen Lippen. Er ist einfach perfekt.
Zu perfekt.
Leise seufzend rutsche ich auf dem Stuhl zurecht, greife nach der Tasse, die vor mir auf dem Tisch steht und nippe kurz an meinem Latte Macchiato.
Zu perfekt.
Für mich.
Einer wie er würde sich nie länger als zwei Sekunden mit einer wie mir beschäftigen.
Kurz gesehen und schon wieder vergessen.
Ich krame in meinem Rucksack und ziehe das Buch heraus, das ich mir vorhin gekauft habe. Zum Glück ist es keiner dieser Liebesromane aus dem Bestsellerregal. Nein, es ist ein Krimi und jetzt in diesem Augenblick beglückwünsche ich mich zu meiner Entscheidung.
Verstohlen sehe ich noch einmal in seine Richtung.
Fast hätte ich das Buch fallen lassen.
Der Schreck sitzt tief.
Er sitzt da und sieht mich an.
Mustert mich.
Zwei Sekunden? Zehn Sekunden? Schon die ganze Zeit?
Irritiert lächle ich ein bisschen. Er lächelt zurück.
Schlagartig wird mir heiß. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Verdammt, warum muss ich immer gleich rot werden wie eine vollreife Tomate?
Vollreif das ist das Stichwort.
Ich bin zu alt für sowas. Immerhin schon Anfang 40. Zu alt wofür eigentlich?
Zu alt zum Schwärmen? Zu alt zum Flirten?
Flirten?
Sicher bilde ich mir das nur ein. Ja, das muss es sein. Ich fantasiere schon. Es wird Zeit, dass ich wieder nach hause gehe. Eigentlich war ich schon viel zu
lange unterwegs.
Dieser Mr. Perfect hat mir den Verstand geraubt.
Ich stopfe das Buch zurück in den Rucksack, nippe noch einmal an der Tasse und rufe den Kellner.
War etwas nicht in Ordnung mit dem Latte, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Nein, nein. Ich schüttel den Kopf. Er ist sehr gut - wie immer. Aber … aber ich muss … zu einem Termin, antworte ich und drücke dem Kellner einen Zehneuroschein in die Hand.
Das Wechselgeld, ruft er mir hinterher, als ich bereits an der Tür bin.
Stimmt so, rufe ich zurück und flüchte auf
die Straße.
Draußen bleibe ich erst einmal stehen. Ich atme tief durch.
Nein, das habe ich mir sicher nur eingebildet. Das kann nicht sein.
Kein Mann, der so aussieht, starrt eine wie mich an.
Höchstens weil er mich unmöglich findet.
Unmöglich klein.
Unmöglich fett.
Unmmöglich angezogen.
Kein Mann, der so aussieht, lächelt mich an.
Sicher hat er über mich gelacht. Sich über mich lustig gemacht.
Sieh mal einer an, wird er gedacht haben, die kleine alte mollige Frau steht auf mich.
Gut, sehr viel jünger als ich ist er sicherlich nicht.
Aber er sieht aus, wie einer, der eher auf solche Frauen steht, wie die hochgewachsene schicke Blondine, die mich gerade anrempelt, als sie an mir vorbei stöckelt.
Steh doch nicht so blöd im Weg herum, zischt sie im Vorbeigehen.
Langsam laufe ich los. Meine Schritte werden schneller. Nur weg. Nur weg von hier. Weg von ihm.
Mein Handy summt. Wann kommst du, lese ich.
Ich bleibe noch einmal stehen. Gleich, bin schon auf dem Weg, tippe ich mit zitternden Händen.
Ich schlage den Weg zu unserer Siedlung ein. Mit jedem Meter, den ich gehe, beruhige ich mich.
Einbildung, das alles war nur Einbildung. Ich spiele nicht in seiner Liga. Das ist doch klar.
Was zählen für Menschen wie ihn schon Herzlichkeit, verständnisvoll und mitfühlend sein, Musikalität oder Kreativität, Empathie und Gerechtigkeitsliebe? Ich stelle mir vor, dass Männer wie er eher auf Attraktivität, Schönheit, Stil und … ja, worauf eigentlich noch stehen.
Besser, ich vergesse diesen einen Augenblick, sage ich mir. Diesen Blick. Jeder Gedanke daran verschwendet
wertvolle Zeit. Zeit, in der ich an Wichtigeres denken kann. Vielleicht daran, was ich heute zum Abendbrot …
Eilige Schritte, die ich hinter mir vernehme, reißen mich aus meinen Gedanken, die das Familienmenue des heutigen Abends betreffen.
Ich weiche zur Seite aus. Ich will nicht schon wieder von irgendso einem Businessmenschen angerempelt werden. Man hat mir heute schon viel zu oft dass Gefühl gegeben, anderen irgendwie im Weg zu stehen. Schon am Morgen beim Bäcker war es so, als ich nur noch mal kurz nachgeschaut habe, ob ich mein Portemonnaie eingesteckt hatte. Wird`s heute noch, fragte mich dieser Anzugtyp,
der nach mir dran war und zwei probiotische Körnerbrötchen gekauft hat. Natürlich nachdem er ziemlich verächtlich auf meine Croissants geschielt hatte. Die hat es ja wohl nötig, wird er dabei gedacht haben. Ich hatte förmlich seine taxierenden Blicke gespürt, als er seine Augen an meinem unförmigen Körper hat auf- und abgleiten lassen.
Als ich nach dem langen Tag im Büro hinaus auf die Straße trat und in meinem chaotischen Rucksack nach der Sonnenbrille suchte, schubste mich ein trendiger Radfahrer mit seinem superschnittigen Bike fast an die Hauswand. Pass doch auf, knurrte er mir zu.
Naja, und dann noch die langbeinige Blondine vorhin vor dem Cafè …
Mist, schon sind meine Gedanken wieder zurück ins Cafè geflogen.
Ich muss ihn vergessen.
Den Typen.
Die Blicke.
Den gesamten Nachmittag.
Am besten diesen ganzen verdammten Tag.
Ich laufe weiter. Immer schön an der Seite, damit der Eilige hinter mir freie Bahn hat.
Doch ich höre, dass seine Schritte langsamer werden.
Plötzlich spüre ich jemanden neben mir.
Ich wende meinen Kopf ein wenig und sehe aus dem Augenwinkel …
… ihn.
Irritiert bleibe ich stehen.
Was ist, fragt er. Hattest du es vorhin nicht eilig?
Wie? Was? Ich sehe ihn verwirrt an. Meine beste Freundin sagt immer, ich sähe damit verflixt bescheuert aus.
Aber er? Ihn scheint das gar nicht zu stören. Er sieht mich an und lächelt. So wie vorhin im Cafè.
Dein Termin, hast du ihn vergessen, fragt er.
Welchen Termin, frage ich. Und sehe keinen Augenblick später in sein lachendes Gesicht.
Lachst du mich aus, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. Nein, ich lache dich
nicht aus.
Verlegen sehe ich zur Seite.
Wirklich, flüstere ich. Und warum nicht?
Warum sollte ich dich denn auslachen, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern. Weiß nicht, vielleicht weil du mich seltsam findest.
Ich finde dich nicht seltsam, ich finde dich interessant.
Ich lache kurz auf. Interessant. Mich.
Ja, gibt er zurück, weshalb denn nicht?
Weil … weil ich so sagenhaft bin. So sagenhaft langweilig.
Komm, gehen wir ein Stück, sagt er.
Schweigend laufe ich neben ihm her. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Meine Gedanken sitzen im Kettenkarussell.
Und meine Welt gerät aus den Fugen.
Meine kleine unbedeutende Welt.
Durch einen einzigen Blick.