BLUMENWUNDER
Das kleine Mädchen geht noch nicht zur Schule, aber sie besucht täglich den Kindergarten in der Nachbarschaft. In der letzten Zeit fällt den Erzieherinnen auf, dass sich das Kind verändert hat. Sie ist stiller geworden, sieht immer blass aus. Ihre Fröhlichkeit ist verschwunden und oft sitzt sie teilnahmslos in ihrer Lieblingsecke. Die Rückfrage bei den Eltern erbringt nicht viel. Doch sie gehen jetzt mit ihrem Kind zum Arzt. Die Diagnose ist niederschmetternd. Ob ihr Kind je wieder gesund werden wird, steht in den Sternen.
Die Kleine muss viele Untersuchungen
über sich ergehen lassen, von denen einige auch sehr schmerzhaft sind. Geduldig erträgt das Kind alles. Dann beginnt eine schmerzhafte Therapie. Immer wieder lange Krankenhausaufenthalte, auch in Spezialkliniken. Nichts lassen die Eltern und Ärzte unversucht, um dem Kind wieder zu einer guten Gesundheit zu verhelfen.
Wenn die Kleine wieder einmal sehr tapfer war, machen die Eltern eine Reise nach ihren Wünschen mit ihr. Ein Jahr geht das nun schon so. Hoffnung und Verzweiflung wechseln einander ab. Dann scheint sich eine Wende anzubahnen. Die Kleine kann wieder in
den Kindergarten gehen, freut sich auf die Schule. Der Appetit ist zurück gekehrt und ihre Wangen beginnen sich zu röten. Das Kind lebt auf. Die Krankheit scheint besiegt. Doch bald gibt es einen Rückfall. Neue Untersuchungen und schmerzhafte Behandlungen beginnen. Keiner will aufgeben in diesem endlos scheinenden Kampf gegen die Krankheit. Auch diesmal scheint nach mehrmonatigem zähen Ringen die Krankheit wenigstens zum Stillstand zu kommen.
Noch einige Male gibt es dieses ermüdende Auf und Ab. Das Kind kann keine Schule besuchen. Sie liegt zu Hause in ihrem hübschen Kinderzimmer
mit den vielen Kuscheltieren. Mittlerweile ist es tiefer Winter geworden. Nichts als grauer Himmel, manchmal heftiger Schneefall und bittere Kälte.
Eine wächserne Blässe überzieht das von der Krankheit gezeichnete Gesichtchen. Als ihre Mutter wieder einmal an ihrem Bett sitzt, wie so oft in der letzten Zeit, und ihr eine Mut-mach-Geschichte vorliest, da sagt die Kleine plötzlich: „Ich möchte wieder Blumen sehen. Ist es nicht bald Zeit?“ Die Mutter nimmt die Kleine in den Arm und antwortet: „Ja, mein Kind, es ist bald Frühling. Da kannst du die Blumen sehen. Es dauert nur noch ein paar Tage,
bis die Schneeglöckchen ihre Blüten öffnen.“
An diesem Abend kann die Mutter lange nicht einschlafen. Woher soll sie Schneeglöckchen nehmen? In der Gärtnerei gibt es noch keine, im Blumenladen auch nicht und bis zu den ersten Blüten im Garten dauert es noch etliche Wochen. Doch endlich übermannt sie der Schlaf. In dieser Nacht ist es wieder bitterkalt gewesen, denn ein wunderschöner Sternenhimmel überspannte das Land. Als die Mutter am nächsten Morgen das Krankenzimmer betritt und die Vorhänge öffnet, leuchtet eine sanfte Wintersonne herein. Aber welch ein Wunder! Auf der
Fensterscheibe zeichnen sich die herrlichsten Blumengebilde ab, die sich unsere Fantasie nur einfallen lassen könnte: Eisblumen. Liebevoll weckt die Mutter ihr krankes Kind, das noch blasser wirkt als am Abend zuvor. Dann zeigt sie ihr die zarten Blumengebilde auf der Fensterscheibe. Da geht ein Leuchten über das Kindergesicht und die Kleine flüstert überglücklich: „Ich habe die Blumen gesehen. Danke, Mama.“
Dann schließt sie mit einem Lächeln die Augen und gleitet hinüber in ihren letzten Schlaf.