Kurzgeschichte
Anderssein

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"Anderssein"
Veröffentlicht am 17. September 2014, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Fabiana
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Über den Autor:

Ein alter Prof. Dr. der Theologie, musste einst für zwei Monate sein Patenkind, ein kleines Mädchen, beherbergen. Jeden Abend setzte er sich an das Bett des Kindes und las aus einem Buch vor. Düster und spannend waren die Geschichten, doch zum Leidwesen des Kindes, begann er täglich eine andere, ohne die vorherige zu beenden. So angenehm dem Mädchen auch die Tage gestaltet wurden ... so konnte es doch kaum die Abende erwarten. Brav lernte es, ...
Anderssein

Anderssein

Der Regen prasselt, dämpft das Schluchzen der Umstehenden.

Ihr Heuchler.

Saukalt ist es. Ein pickliger Knabe wischt sich, mangels einer freien Hand, den Rotz mit dem Ärmel des Messgewandes ab. Er hält den Schirm für den Pfarrer. Dieser wirkt wenig gütig im Moment . Seine gehetzt gemurmelten Worte, strafen sein frommes Getue Lügen.Du würdest jetzt auflachen, laut und respektlos, stündest du neben mir. Würdest sagen, geh nach Hause, Alter, dein Gebrabbel nützt der da unten nichts.


Aber du stehst nicht neben mir. Bist die, die da unten liegt und der das Gebrabbel

nichts nützt.


Ich hätte dir gerne deinen Wunsch erfüllt. Weißt du noch? Wir haben geraucht und gesponnen. Du sagtest, wenn ich abtrete, will ich verbrannt werden und du musst meine Asche in die Ostsee streuen. Hoch oben, auf den weißen Kreidefelsen sollst du stehen und warten, dass der Wind mich nach draußen trägt. Dann lauf runter und wirf weiße Rosen in die Spur meiner Asche. Ich versprach es dir. Ahnungslos und leichtsinnig.


Meine Nase läuft, aber ich werde sie nicht putzen. Für dich. Wir sahen gemeinsam diesen Film, mit der Minelli, sie hatte sein

Kind abtreiben lassen und litt wie ein Tier. Verquollen war ihr Gesicht und der Rotz lief. Wie authentisch, sagtest du anschließend, wer aufrichtig leidet, dem ist scheißegal wie er aussieht. Ehrenwort, ich habe nur ganz kurz an mein Taschentuch gedacht. Jetzt spüre ich deinen Ellenbogen in meinen Rippen und höre wieder dein Lachen. Du bist unmöglich. Immer noch.


Ich habe dich beneidet. Jetzt kann ich es sagen, kannst mich ja nicht mehr böse angucken. Ist eine Last, das Anderssein, hast du mir dann erklärt, bleib wie du bist, ein Idiot reicht. Du warst so ziemlich alles, aber kein Idiot. Ehrlich warst du. So sehr, dass es mir manchmal peinlich war. Du

spürtest es, nahmst mich dann in den Arm und meintest, nur Trottel schämen sich fremd.


Ich wollte so gerne sein, wie du.

Manchmal bin ich froh, es nicht zu sein. Der Chef hat dir nie verziehen, dass du den Beschiss mit den Überstunden-Abrechnungen, an die große Glocke gehängt hast.

Ich habe meinen Job noch.


Als deine Mutter deinen Vater anschrie, weil du ihr unverblümt erzählt hattest, dass er sie betrügt, sagtest du, komm endlich runter Mama, du vögelst dafür seinen besten Freund.Ohne Diskussion, nahmst du

den Rausschmiss hin. Zogst hoch erhobenen Hauptes in den stillgelegten U-Bahn-Schacht. Die Penner guckten misstrauisch, wenn ich dich besuchte. Du sagtest, mach dir nichts draus, Menschen sind überall gleich.


Dann brachte sich ein Tunnelbewohner um. Schmiss sich von der Autobahnbrücke, fiel auf ein fahrendes Auto. Drei Insassen riss er mit in den Tod. Arschloch, schimpftest du ganz frei von Trauer, warum die anderen?


Mit Menschen hattest du fast immer Probleme. Hast behauptet, da sei was schief gelaufen in der Evolution. Kann nicht so

gewollt gewesen sein, hast du mir erklärt, das größte Gehirn im Schädel und dennoch kein Platz für das Wesentliche.

Irgendwann wurdest du krank. Ich wollte dich zu mir nehmen, wie so oft. Du lehntest ab. Wie so oft. Ich habe es nicht anders gewollt, muss mein Leben selbst ausbaden, sagtest du, ich schwimme in der Scheiße, aber mit geradem Rücken.


Das Gehen fiel dir immer schwerer, überhaupt jede Bewegung. Als es mir zu heftig wurde, schleppte ich dich zu einem Arzt. Mit meiner Krankenkarte. Deine Schwäche begrüßte ich regelrecht. Die Gegenwehr war gering. Dafür die Diagnose um so heftiger. Den Namen habe ich nie

behalten, irgend so eine schleichende Nervenlähmung.

Unheilbar.


Danach fand ich dich nicht im Schacht.

Drei Wochen lang, drehte ich fast durch vor Sorge.

Weihnachten war das Stinksauer-Stadium erreicht.

Dann klopftest du an mein Fenster. Eine Nacht vor Silvester. Komm mit, riefst du leise, ich will dir was zeigen. Ich folgte dir über eine Mauer, in den Zoo. Es tat weh, zu sehen, wie viel Anstrengung dich das Klettern kostete.


Im still gelegten Affenhaus habe ich mich

am Tag versteckt, verrietest du mir grinsend. Komm her und sei ganz still, hast du geflüstert, als wir am neuen Gehege ankamen. Stundenlang saßen wir und beobachteten die Tiere. Da ist so viel Liebe, sagtest du, und wenn mal nicht, dann in aller Offenheit.

Ich sehe dich noch immer dort sitzen. Bei den Affen. Entspannt und lächelnd. Es war ein Moment, in dem die Welt für dich war, wie sie für dich sein sollte.


Zum Jahreswechsel wollte ich mit dir anstoßen. Ging in den Tunnel. Sie ist weg, brummelte eine alte Frau, samt ihrem Bündel.

Am ersten Januar schwelte die

Gerüchteküche, am zweiten war mir kotz elend. Am dritten kam die Polizei. Übergab mir deine Sachen, einen Zettel und eine knappe Erklärung:

«Am Abend des 31.12., ist Ihre Bekannte in die Klinik gegangen. In die sechste Etage. Dort sprang sie aus dem Fenster. Auf diesem Zettel steht Ihr Name und die Anweisung, alles an Sie auszuhändigen. Es war einwandfrei Selbstmord."


Ja, das warst DU.

Ich war so wütend. Wieder und wieder suchte ich in deinen abgewetzten Klamotten nach einem Brief, einer Erklärung, nach irgend etwas. Aber da war nichts.

Dann begriff ich. Ganz langsam. Du

wolltest nicht, dass da mehr ist. Wenn ein Mensch geht, dann geht er. Ist weg. Einfach so. Für immer. Was bleibt, ist nicht von Bedeutung, spielt keine Rolle. Außer ... ja, die Erinnerungen.

Und die habe ich.

Im Übermaß.


Es regnet noch immer.

Alle sind ins Trockene geflüchtet.

Das werde ich jetzt auch tun.

Werde in mein Auto steigen und an die Ostsee fahren.

Unterwegs weiße Rosen kaufen.

Nur die Asche ... die fehlt.

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Hörbuch

Über den Autor

Fabiana
Ein alter Prof. Dr. der Theologie, musste einst für zwei Monate sein Patenkind, ein kleines Mädchen, beherbergen. Jeden Abend setzte er sich an das Bett des Kindes und las aus einem Buch vor. Düster und spannend waren die Geschichten, doch zum Leidwesen des Kindes, begann er täglich eine andere, ohne die vorherige zu beenden.
So angenehm dem Mädchen auch die Tage gestaltet wurden ... so konnte es doch kaum die Abende erwarten. Brav lernte es, die Tischgebete vor den Mahlzeiten fehlerfrei aufzusagen, denn ohne Artigkeit und Fleiß, hätte sich der gütige, aber auch strenge Betreuer, nicht zum Vorlesen bewegen lassen.
Die Tage flogen dahin und die Seiten, die noch zu lesen waren, wurden weniger und weniger. Man schrieb das Jahr 1965, eine Zeit, in welcher Kinder nicht ungefragt redeten und nervige Bettelei nicht geduldet wurde. Deshalb schluckte der kleine Gast auch tapfer die Tränen hinunter, nachdem der alte Herr am letzten Abend die letzte Geschichte unterbrach, das Buch zuklappte und sich erhob. Doch er ging nicht wie sonst, direkt aus dem Zimmer, sondern stand am Bett und lächelte das Mädchen an. "Du kommst in einigen Monaten zur Schule. Lerne fleißig Lesen. Wenn du es kannst, dann lerne die alte Schrift. Komm zu mir, wenn du sie beherrschst und ich schenke dir dieses Buch. Nur so wirst du jemals erfahren, wie all diese Geschichten ausgehen."

Nach dem Ende des ersten Schul-Halbjahres, war das Kind in der Lage, dem Patenonkel aus einem alten Buch fehlerfrei vorzulesen. Als es mit der Mutter auf dem Heimweg in der Straßenbahn saß, hielt es seinen Schatz ganz fest. Ein kleines, aber dickes, rot eingebundenes Buch von Wilhem Hauff. Und darin waren alle Geschichten aus "Die Karawane" und "Das Wirtshaus im Spessart".
Die Liebe zu Gott zu finden, dafür haben zwei Monate nicht gereicht.
Für die Liebe zum Lesen, reichte der Anfang einer ersten Geschichte.

Herzliche Grüße an alle, Fabiana

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Doreeni Anderssein,
so ein anders sein ist es vom eigentlichem Sinne gar nicht, viele von uns sind genauso wie sie, nur wir tragen es nicht so offen, haben nicht den Mut.

Toller Text !

LG Doreen
Vor langer Zeit - Antworten
Fabiana Ja, Doreen, aber genau dieser Mut, mit all seinen Konsequenzen, der macht solche Menschen eben ganz anders. ;-))
Ich danke dir herzlich für deinen Besuch und deinen Kommentar.
Liebe Grüße, Fabiana
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek 
Gedanken, die einem kommmen können, wenn m,an so am Grab steht, und über jemanden anchdenkt, der sein Leben gelebt hat - ohne Rücksicht auf Verluste, weil es für ihn keine waren.

VLG Roland
Vor langer Zeit - Antworten
Fabiana Ja, Roland, genau so. Einerseits bewundernswert, andererseits ...
Wir haben doch alle nur dieses eine kleine Leben.
Herzlichst, Fabiana
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ein starker Text! Die Beiläufigkeit des Erzählstils unterstützt die Eindringlichkeit der Thematik. Gefällt mir sehr, liebe Fabiana.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Fabiana Herzlichen Dank, Kara und einen lieben Gruß,
Fabiana
Vor langer Zeit - Antworten
TaraMerveille Du hast da eine sehr schöne, emotionale Geschichte geschrieben. Ich habe sie gern gelesen. Und musste dabei an eine Freundin denken, die auch keinem zur Last fallen wollte in ihrem dunklen Loch ...
Vor langer Zeit - Antworten
Fabiana Ja, liebe Tara, es gibt sie wirklich, diese Menschen ... die Gesellschaft macht sie zum Außenseiter.
Danke für deinen Besuch und liebe Grüße, Fabiana
Vor langer Zeit - Antworten
Papiertiger Wunderschön. Berührend. Und erfrischend frei von Kitsch. Nur: Da oben, auf den Kreidefelsen, da scheint der Wind immer landeinwärts zu wehen :)

lg
Helmut
Vor langer Zeit - Antworten
Fabiana Lieber Helmut ... wenn man "raucht" ... ist die Realität hin und wieder ein wenig verschwommen. ;-)
Ich danke dir herzlich und sende einen lieben Gruß, Fabiana
Vor langer Zeit - Antworten
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