„Letzter Aufruf für alle Passagiere des Flugs 751 nach Quebec.“ Der 32-Jährige rannte die Halle entlang. Er atmete schwer. Die Jugendliche war jetzt nur noch ein paar Meter von ihm entfernt. Sie stieß allerdings alles, das sie zu fassen bekam um und legte es ihm in den Weg. Mit einem Satz sprang er über einen Koffer und setzte dem Mädchen weiter nach. Dwight war dicht hinter ihm und keuchte. „Scheiße...Das wird einfach, hast du gesagt....“ Das Mädchen hob jetzt ihre Hand und riss wie von Geisterhand den kompletten
Lüftungsschacht aus der Decke. Geräuschvoll krachte das Metall in ihre Richtung. Die beiden Männer konnten gerade noch ausweichen, um nicht zerquetscht zu werden. „....Eine einfache B-Patientin hast du gesagt....“ Die 16-Jährige schlitterte förmlich die Rolltreppe hinunter. Das rote Haar wehte dabei im Auftrieb. Sie hatte sich wieder ein kleines bisschen Vorsprung geschaffen. Ein Monat war seit der Sache mit Wilkins vergangen. Inzwischen hatte man Hammond ersetzt und sie waren wieder im Spiel. Ihr Auftrag hatte eigentlich relativ leicht geklungen:
Naiomi Winchester. 16 Jahre alt. Sie hatte die Fähigkeit Metall jedweder Art zu verbiegen. Ein nettes Mädchen. Dumm nur, dass Foster direkt mit erhobener Waffe auf sie zugeschritten war. Die Patientin hatte die Agentin mit einem Rohr K.O geschlagen und die Flucht ergriffen. Seitdem verfolgten die Männer sie. „Ist ja gut Dwight. Das kannst du mir später alles vorhalten.“ Die Kleine war flink und schlängelte sich wie ein Aal durch die Passanten auf dem Flughafen. Sie überhaupt zu finden war schon schwer genug gewesen. Es wäre wirklich ärgerlich, wenn sie ihnen jetzt entwischen würde. Ihre neue Chefin
war sehr deutlich gewesen dass sie so etwas nicht dulden würde, also war Scheitern hier keine Option. Es ging die Rolltreppe abwärts, zwischen zwei Leuten hindurch wieder über einen Koffer in die Haupthalle wo es von Menschen nur so wimmelte. Ethan brauchte einen Moment, ehe er die gelbe Kapuzenjacke in der Masse erblickte. „Da ist sie! Hinten am Service-Schalter!“ Dwight stürzte und blieb zurück. Jetzt war nur noch er übrig. Die Brust schmerzte bereits vom Rennen. Was das anging war er wirklich außer Übung. Dies war ihr erster Einsatz nach der langen Pause. Wenn er das gewusst
hätte, hätte er mehr Zeit ins Fitness-Studio investiert. Andererseits hatte ihm der Urlaub wirklich gut getan. Die Zeit mit Carrie und Sofia zu verbringen war etwas schönes. Da fiel es ihm nur um so schwerer zurück an seinen Arbeitsplatz zu gehen. Dennoch blieb ihm nichts anderes. Hammond war fort und noch immer trieben da draußen üble Gesellen ihr Unwesen. Leute wie Albert Wilkins zum Beispiel. Trotz angestrengter Suche war keine Spur von dem Blonden zu finden. Er war einfach abgetaucht. Irgendwann würde er sich wieder zeigen. Für diesen Tag mussten sie bereit sein. Jetzt allerdings galt es erst einmal die Entflohene
einzufangen. Die 16-Jährige rannte durch die Haupttür und verbog die Türgriffe ineinander als wären sie aus Butter. Der Arzt seufzte. „Na großartig!“ Er musste durch die Scheibe springen. Mit einem lauten Klirren brach das Glas. Im Gesicht hatte er etwas abbekommen aber das kümmerte im Moment nicht. Er blieb ihr dicht auf den Fersen. Sie sah sich um und fluchte. Es ging den Bürgersteig entlang, wo sie immer wieder Laternen und Parkuhren so verbog, dass sie ein Hindernis darstellten. Erinnerte ein wenig an einen Hürdenlauf aus dem Sportunterricht. Das
war schon damals nicht sein Fall gewesen und im Moment nervte es ihn einfach nur. Vor allem da die junge Frau kein Problem damit hatte ihre Kräfte einfach so in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das würde gewaltigen Ärger geben. Er bog um die nächste Ecke, konnte gerade noch etwas gelbes sehen dass in die Gasse huschte. Warum mussten sie auch immer alle weglaufen? Er seufzte und ging ihr nach, nur um sich als nächstes einem Faustschlag gegenüber zu ziehen. Er taumelte rückwärts. Sie packte ihn am Kragen und schleuderte den Arzt gegen ein paar Mülltonnen. Ächzend kam er auf dem Boden auf. Das
hatte wehgetan. Er sah zu ihr auf. Naiomi war ebenfalls aus der Puste. Die Jagd hatte an ihren Kräften gezehrt. Vielleicht konnte er sie jetzt ergreifen. Langsam rappelte Ethan sich auf. „Warte...Ich will dir nicht wehtun...“ „Netter Versuch!“ Die junge Winchester war von zierlicher Statur. Dennoch wirkte sie mit allen Wassern gewaschen. In Abwehrhaltung stand sie vor ihm, machte aber keinerlei Anstalten ihn anzugreifen. Sie war nicht der aggressive Typ oder in irgendeiner Art verhaltensauffällig. Allerdings tat sie auch alles um zu verhindern dass man sie wieder in die Anstalt zurückbrachte: Sie nutzte falsche
Namen, hatte sich sogar die Haare rot gefärbt und trug offensichtlich Kontaktlinsen. Rote Augen fixierten den Arzt während die Teenagerin langsam auf ihn zu kam. „Ich will nicht zurück! Sie haben kein Recht mich einzusperren!“ Sie klang wütend. Durchaus verständlich. Sie war zwei Jahre in Willow Creek. Damals hatte ihre Mutter sie dorthin gebracht. In der Familie gab es immer Streit und nachdem Naiomis kleine Schwester unterwegs war, schien es eher so als wollten sie das Mädchen einfach nur abschieben, um finanziell besser dran zu sein. Natürlich nutzten sie dann ihre Fähigkeiten als Vorwand.
Keine schöne Geschichte. Ethan stand auf und schüttelte den Kopf. „Naiomi. Du weißt, dass das nicht so ist. Wir wollen nur helfen.“ Sie lachte nur und warf den Kopf in den Nacken. „Klar. Deshalb hat ihre Freundin mich auch mit ner Knarre bedroht!“ Ja, da musste er zugeben hatte Foster nicht ganz so schlau reagiert. Offensichtlich hatte sie ihm nicht zugehört als er sagte, dass sie hierbei umsichtig vorgehen mussten. Sie tat eben ihr bestes nicht auf das zu hören was er sagte. Ihr Verhältnis hatte sich nicht wirklich gebessert und das hier war nur ein Grund mehr die junge
Agentin nicht zu mögen. Verständlich dass die 16-Jährige nicht so gut auf ihn zu sprechen war. Er musste versuchen ihr Vertrauen zu gewinnen, aber das war einfacher gesagt als getan. „Hör zu. Das war alles ein dummes Missverständnis. Du kennst Mich oder? Ich habe dir niemals irgendwelche Lügen erzählt, oder dich falsch behandelt. Ich war immer ehrlich zu dir, oder Naiomi?“ Sie hielt einen Augenblick inne und nickte dann. Sie wirkte ein wenig unsicher was sie jetzt tun sollte. Sie tat ihm leid. So ein Schicksal hatte niemand verdient. Verstoßen von den Eltern und mit einer Fähigkeit leben zu müssen die
alles nur noch komplizierter machte. Früher hatte er sich oft gefragt wie es wohl sein würde solche Kräfte zu besitzen. Mittlerweile wusste er, dass sie meistens nur Leid und Kummer mit sich brachten. So trat er einen weiteren Schritt auf sie zu, als sie plötzlich den Kopf nach oben in Richtung der Feuertreppe richtete. Auch er musste sich unwillkürlich umdrehen. Foster stand dort gegen das Geländer gelehnt. In ihrer Hand hielt sie das Betäubungsgewehr. „NEIN!“ Der Schuss löste sich und er konnte sich gerade noch in die Bahn stellen, damit die Teenagerin nicht getroffen
wurde. Er fühlte einen kurzen Stich im Rücken und verzog das Gesicht. „Das...ist ja mal wieder wunderbar Foster...“ Er konnte gerade noch sehen wie die Patientin davon machte, bevor das Mittel wirkte und er das Bewusstsein verlor. So sollte die Sache mit Sicherheit nicht enden. -Zwei Stunden später „Also um noch einmal alles zusammen zu fassen: Sie haben nicht nur die Patientin entkommen lassen, sondern auch zugelassen dass sie ihre Kräfte in aller Öffentlichkeit wirkt? Über 500 Menschen haben gesehen wie Miss
Winchester ihre Kräfte nutzt während sie das Mädchen verfolgt haben. Hinzu kommen Beschädigungen am Flughafen, von Stadteigentum und sie waren so intelligent sich betäuben zu lassen. Liege ich da richtig?“ Alle drei standen jetzt im Büro der neuen Anstaltsleitung von Willows Creek. Seit Hammond ausgezogen war hatte sich hier einiges verändert: Der Raum hatte einen neuen Anstrich bekommen und leuchtete jetzt im sanften Beigeton. Kakteen und Palmen standen zur Dekoration in den Ecken, sowie ein kleiner Korb in dem ein Pudel schlief. Alles Mitbringsel von Roberta Heidenreich – Ihrer neuen Chefin. Sie
war mitte 50, trug immer viel Make-Up und hatte die grauen Haare meistens hochgesteckt. Sie trug immer dieses beißende Parfum und diese 50er Jahre Klamotten. Das schlimmste jedoch war, dass sie überhaupt nicht mit Norman zu vergleichen war. Sie hatte zum Beispiel verboten dass Katherina sie weiter auf ihren Missionen begleitete. Das Mädchen war wieder in den D-Trakt gebracht worden. Laut ihrer Vorgesetzten war sie es ja überhaupt die für das Debakel verantwortlich war. Das stimmte zwar, aber sie hatte auch dazu beigetragen Patienten zurück zu bringen. Nur zu dumm dass die Chefin das nicht hören wollte. Jetzt saß sie
einfach nur auf ihrem Stuhl und rauchte eine Zigarette. Dabei benutzte sie diese Plastikaufsätze, die früher die französischen Frauen benutzt hatten. Alles in allem hochnäsig und arrogant. Ethan konnte immer noch nicht verstehen wie man sie einsetzen konnte. Ursprünglich saß sie in einem Komitee dass generell alle Anstalten überwachte die von derselben Natur wie Willow Creek waren. Nach der ganzen Geschichte mit Wilkins hatte sie persönlich darum ersucht hier tätig zu werden. Einiges hatte sich verändert. Dass sie noch nicht gefeuert worden waren glich eher einem Wunder. „Ma’am. Miss Winchester ist nicht
gefährlich. Sie hatte einfach nur Angst. Das ist alles. Sie ist keine Bedrohung für die Allgemeinheit. Immerhin wurde sie damals von ihren Eltern abgeschoben. Das lässt sich nicht einfach verkraften. Ich bin mir sicher, dass wenn wir ihr entgegenkommen, dass wir bei ihr gute Chancen haben, dass sie kooperiert.“ Die Alte blies ihm Qualm entgegen und feixte ihn an wie ein Piranha. „Ach wirklich? Wenn es ihnen darum geht, die Leute zu verhätscheln dann hätten sie lieber im Kindergarten arbeiten sollen Mr. Rain. Die Tage in denen sie unter Hammond ihre Disziplin vernachlässigt haben sind vorbei. Ich
erwarte effektive Arbeit von ihnen. Miss Winchester ist flüchtig. Sie ist ausgebrochen und eine Gefahr. Ihre Kräfte sind stark genug um großen Schaden anzurichten. Ein solches Risiko darf man nicht außer Acht lassen. Das wissen sie genau. Die einzige die sich hierbei richtig verhalten hat war Miss Foster. Sie hat die Bedrohung erkannt und gehandelt, nur sie haben mit ihrem dümmlichen Verhalten verhindert dass die Mission abgeschlossen werden konnte.“ War ja klar dass sie jetzt so kam. Eileen musste sich ja in diesem Moment unglaublich bestärkt fühlen. Die Agentin stand neben ihm und hatte die ganze Zeit
einfach nur zugehört. Nach diesem Lob allerdings war sie leicht errötet und lächelte sogar. Na toll. Diese blöde Kuh hatte alles ruiniert und wurde dafür sogar noch gelobt. Fantastisch. Dennoch würde er sich nicht so einfach geschlagen geben. Es musste doch einen Weg geben Heidenreich davon zu überzeugen dass man in dieser Situation auch anders verfahren konnte. „Miss Heidenreich. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt dass nicht alle Patienten gefährlich sind. Katherina-“ „Katherina Compton hat überhaupt erst dafür gesorgt dass all diese Patienten fliehen konnten. Für mich ein Rätsel wie man sie überhaupt zu einem A-Patienten
machen konnte. Das Mädchen ist instabil und gefährlich. Ihre Kräfte sind unkontrollierbar. Allein der Gedanke dass sie damit leben konnten dass sie frei umher spaziert ist für mich unfassbar. Versuchen sie nicht mit mir zu diskutieren Mr. Rain. Naiomi Winchester wird wie jeder anderer Patient behandelt. Sie finden sie und bringen sie in die Anstalt zurück. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Von jetzt an wird Agent Foster den Einsatz leiten. Sollten sie wiedermal eine ihrer tollen Ideen haben, behalten sie diese für sich verstanden? Sie dürfen gehen!“ Das war doch nicht zu fassen! Nicht nur dass Sie nicht mal einen Augenblick
lang zugehört hatte. Nein, Sie hatte auch noch Foster als Leiterin der Mission ernannt. Ethan schloss die Bürotür hinter sich und marschierte durch den Flur geradewegs in sein Büro. Die Tür flog krachend ins Schloss. Er war wütend angesichts der Tatsache dass er nichts unternehmen konnte. Diese Frau ließ einfach nicht mit sich reden und handelte allein nach ihrem eigenen Ermessen. Kein Wunder dass die Patienten die Anstalt hassten wenn sie von so jemandem geführt wurde. Allerdings ließ sich dagegen kaum etwas unternehmen. Natürlich, er hätte einfach gehen können, aber Dwight mit der ganzen Sache alleine zu lassen kam nicht
in Frage. Foster und Heidenreich würden ihn in der Luft zerfetzen. Es war gut wenn er wenigstens ihn als Unterstützung hatte. Dennoch waren ihm die Hände gebunden. Alles hatte sich verändert. Katherina versauerte im D-Trakt, Patienten wurden jetzt wie Tiere gejagt und eine Besserung war nicht in Sicht. Er seufzte und zündete sich eine Zigarette an. Er war sich sicher dass er Naiomi hätte überzeugen können. Eileen hatte alles zunichte gemacht. Das passierte eben wenn man Leute auf die Sache ansetzte die überhaupt keine Ahnung von der Materie hatten. Sie war keine Psychologin oder Ärztin, sondern eine ehemalige
Regierungsbeamte die sich mit der Waffe besser verstand als mit Worten. Er konnte immer noch nicht fassen dass man ihr die Führung überlassen hatte. Der 32-Jährige setzte sich. Noch immer war ihm ein wenig schwummrig von der Betäubung. Die Ladung hatte ihn voll erwischt, aber wenigstens wusste er jetzt wie sich die Patienten fühlten. Angestrengt suchte er nach einer Lösung für die Situation. Vielleicht sollte er auf eigene Faust weiter suchen und Naiomi finden. Allerdings würde das Heidenreich nur noch mehr Kanonenfutter darbieten und das war nicht der Sinn hinter dem ganzen. Ungeduldig tippte er mit den Fingern auf
dem Tisch herum und zog an seiner Zigarette. Norman hätte niemals zugelassen, dass es soweit kommt. Dass man Katherina wieder in den D-Trakt sperrte. Er wollte gar nicht daran denken. Wie es ihr wohl gerade ging? Besuchen durfte er sie nicht und Informationen über ihre derzeitige Verfassung wurden ihm verschwiegen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er war machtlos dagegen. Es klopfte an der Tür. Dwight trat ein und schloss die Tür hinter sich. Der Afroamerikaner wirkte angespannt. Kein Wunder nach dieser Predigt. Der 23-Jährige ließ sich auf dem Stuhl gegenüber des Arztes nieder
und begann seine Brille zu putzen. Ein Seufzer entkam seiner Kehle. „Die alte kann echt garstig sein. Man. Jetzt ist Foster auch noch unser Boss. Wenn du mich fragst, müsste diese Heidenreich mal dringend ordentlich geschaukelt werden.“ Ethan nickte. Sich zu beschweren brachte allerdings nichts. Sie mussten sich ihrer Situation vorerst fügen. Mit Foster als Zugpferd war dies denkbar schwierig. Keiner der beiden Männer kam sonderlich gut mit ihr aus. Sie war stets nur auf den Job fixiert. Ein klassischer Erfolgstyp. So eine musste ihre neue Chefin ja lieben. Unfassbar, warum Hammond sie damals ins Team
geholt hatte. Okay, sie hatte sich als hilfreich erwiesen und ihm sogar das Leben gerettet. Jedoch hatte das alles nicht geholfen, um mit der jungen Frau warm zu werden. Sie zeigte höchstens Interesse daran ihren Vorgesetzten in den Arsch zu kriechen. Das war auch schon alles. „Kaum zu glauben dass Katherina nicht mehr mit macht. Sie wie eine Irre einfach wegzusperren. Hammond hätte das niemals zugelassen.“ „Hammond ist aber leider nicht mehr hier und wir müssen uns den Anordnungen des neuen Führungspersonals unterordnen, auch wenn mir das nicht gefällt. Wir können nichts machen. Mir gefällt das auch
nicht. Für’s erste ist es wie es ist. Wir müssen eben versuchen das beste aus der Situation zu machen.“ Der Schwarzhaarige drückte seine Zigarette aus. Ihm gefiel es ja ebenso wenig, aber sie konnten gegen Heidenreich nichts ausrichten. Jeder Versuch mit ihr zu reden wurde von der Frau einfach abgeschmettert. Mit ihr konnte man einfach nicht verhandeln. Was sie sagte war Gesetz. Klang zwar mehr nach einer Diktatur als nach allem anderen, aber ihnen waren die Hände gebunden. Sie mussten den Auftrag so erledigen wie es verlangt wurde, auch wenn das hieß Naiomi Winchester zu jagen und einzusperren anstatt ihr zu
helfen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Wie hatte er nur übersehen können dass sich mit einem mal alles so drastisch verändert hatte? War er wirklich so blind? Er stand auf. „Ich fahr nach Hause. Hier können wir heute eh nichts mehr machen. Du solltest auch fahren. Wir treffen uns dann morgen. Vielleicht fällt mir ja irgendwas ein wie wir Heidenreich überzeugen können die Schlinge nicht ganz so eng zu ziehen.“ Carrie umarmte ihn stürmisch, als er den Weg zur Haustür hinauf kam. Seine
Tochter umklammerte sein Bein. In der anderen Hand hielt sie wie üblich ihren Stoffelefanten Dumbo, der so aussah als hätte er mal dringen wieder einen Waschgang nötig. Ethan war froh wieder hier zu sein. Er gab seiner Frau einen Kuss und nahm Sofia auf den Arm, bevor er damit begann sie wild am Bauch zu kitzeln. Egal wie schwer ein Tag auf war. Seine Familie half ihm dabei diese Strapazen zumindest für eine Weile wieder zu vergessen. „Ihr habt mir gefehlt“, erklärte er langsam während die drei nach drinnen gingen. Eigentlich war es ja nicht seine Art und Weise einfach aufzugeben, aber für heute hatte er einfach genug.
Vielleicht würde ihm morgen etwas einfallen. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit allerdings nur noch seiner Frau und seiner wunderschönen Tochter. Die beiden waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide dieses rote Haar. Sofia hatte seine Augen. Das war aber auch alles was sie von ihm hatte. Das Mädchen summte vergnügt während es hinter ihrem Vater herwatschelte. Im Wohnzimmer angekommen ließ sich der Arzt seufzend aufs Sofa fallen. Den Aktenkoffer stellte er auf dem Fußboden ab. Carrie brachte ihm einen Kaffe und setzte sich neben ihm. Sanft schmiegte sie sich an seine Schulter. Sofia nahm
einfach auf seinem Schoß Platz. „Wie war die Arbeit Schatz?“ „Ach. Reden wir nicht drüber. Du weißt ja, mein Chef ist jetzt im Ruhestand und jetzt haben wir diese neue. Verhandeln ist nicht und sie ist stur wie ein Esel.“ „Klingt nach einer die mal ordentlich geschaukelt werden müsste.“ „Carrie! Sofia ist hier!“ Das Mädchen lachte nur und knuddelte ihren Elefanten. Er bemühte sich schon,+9 dass sie nicht jedes Wort nachplapperte dass sie hörte. Das war allerdings immer etwas schwierig. Besonders da sie den ganzen Tag im Kindergarten war, wo sie allerhand Blödsinn aufschnappte. Der
Familienvater nahm einen Schluck von seinem Kaffee und streichelte seiner Tochter durchs Haar. Ein Lächeln wanderte über seine Lippen. Wenn er so darüber nachdachte, konnte er sich wirklich glücklich schätzen. Er hatte eine Familie, die ihn über alles liebte. Was brauchte es mehr? Egal wie schwer es auch im Augenblick war: Das war etwas, dass ihm Heidenreich niemals nehmen konnte. Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab, als es an der Tür klingelte. „Kommt deine Schwester heute noch zu Besuch?“ Carrie schüttelte den Kopf und stand auf um zu sehen wer das war. Ethan
stupste Sofia gegen die Nase. „Wir kriegen Besuch.“ Die Kleine lachte nur, als seine Frau wieder im Wohnzimmer auftauchte. Er war ziemlich erstaunt Naiomi neben ihr zu sehen. Sofort setzte er Sofia neben sich und stand auf. „Sie wollte dich sehen. Sie meint sie ist eine Patientin von dir.“ Er nickte. Dass sie hier auftauchte hatte er nicht erwartet. Stumm geleitete er das Mädchen in die Küche, wo er ihr einen Platz am Tisch anbot. Sie ließ sich dort nieder und zog ihre gelbe Jacke aus. „Haben sie was zu mampfen? Ich bin am verhungern!“, entkam es ihr nur, während sie ihre Füße auf einen der
anderen Stühle legte. Ethan war viel zu verwundert um ihr zu antworten. „Wie bist du an meine Adresse gekommen?“ „Hab mich in ihrem Kofferraum versteckt.“ Na großartig. Wenn Heidenreich davon Wind bekam dann konnte er seinen Job echt an den Nagel hängen. Vor allem sollte seine Frau niemals mit seinen Patienten konfrontiert werden. Er hatte immer gehofft diesen Teil seiner Arbeit vor ihr geheim halten zu können. Blieb nur zu hoffen dass die 16-Jährige nicht auf die Idee kam ihre Kräfte hier einzusetzen. Langsam schritt er zur Arbeitsplatte und reichte ihr die
Obstschale, aus der sie sich eine Banane nahm. Der Schwarzhaarige ließ sich am anderen Ende des Tisches ihr gegenüber nieder und faltete die Hände ineinander. Er hatte überhaupt keine Ahnung wie er damit umgehen sollte. Im Wohnzimmer war seine Familie und hier in der Küche eine seiner Patienten, von der er nicht wusste was sie im Schilde führte. „Also“, begann die Rothaarige schließlich nachdem sie die Bananenschale einfach auf den Tisch geworfen hatte. Mit Benehmen hatte sie es nicht so. Sogleich biss sie auch schon in einen Apfel und sprach einfach mit vollem Mund weiter. „Fie fhaben gefagt fie felfen mir. Alfo da
bin if.“ Darum ging es ihr also. Wie es schien war er zu ihr durchgedrungen. Das war gut. Vielleicht konnte er die Situation ja doch so lösen ohne dass Foster und Heidenreich sie auf brachiale Art und Weise zurück nach Willow Creek brachten. Fürs erste würde er niemandem davon erzählen. Es war besser wenn er diese Geschichte für sich behielt. „Natürlich. Dafür musst du mir aber erst einmal sagen was du genau von mir willst.“ „Wie schon gesagt: Ich gehe auf keinen Fall zurück. Ich wollte nie in die Anstalt. Das war alles diese
Wahnsinnsidee meiner Mutter. Nur weil sie sich von dem nächstbesten Typen vögeln lässt muss ich drunter leiden.“ Er hob die Hand und räusperte sich. „Naiomi bitte. Meine Tochter ist nebenan.“ Dieses Mädchen nahm wirklich kein Blatt vor den Mund. Das konnte ja heiter werden. Er konnte sich gut vorstellen dass sie nicht in die Anstalt zurückwollte. Vor allem wenn er bedachte wie Heidenreich sie behandeln würde. Sie würde die Teenagerin einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Nicht wirklich ein Schicksal das er ihr wünschte. Fragte sich nur was die 16-Jährige jetzt
genau von ihm erwartete. Sie begnügte sich fürs erste jedoch einfach nur damit sein Obst zu verspeisen anstatt mit ihm zu reden. Sie sah müde aus. Vielleicht war es ganz gut ihr ein wenig Zeit zu lassen um zur Ruhe zu kommen. „Ganz der Papi hm? Also, ich hab n Onkel in Wisconsin. Da will ich hin. Dauert nur n bisschen bis ich alles geregelt habe. Sie haben nicht solange n Bett frei oder?“ Perplex sah er sie an. Das war doch jetzt nicht ihr Ernst? Er schüttelte nur den Kopf. „Das geht nicht.“ „Ach, auf einmal? Vorher warn sie noch so hilfsbereit und jetzt interessiert’s sie
n feuchten Dreck, wo ich unterkomme? Es ist nur für ein paar Tage. Mehr nicht. Ich fall gar nicht auf.“ Das kam überhaupt nicht in Frage. Vor allem – wie sollte er das seiner Frau erklären? Carrie würde dem ganzen mit Sicherheit nicht zustimmen. Nein. Da musste ihm etwas anderes einfallen. Vielleicht konnte er sie solange in einem Motel unterbringen, bis sie die Papiere hatte. Allerdings stellte sich da die Frage, ob Foster sie nicht vorher finden würde. Die Sache war kompliziert. „Wir haben ein Gästezimmer“, kam es plötzlich von seiner Frau, die im Türrahmen stand und die Arme vor der Brust
verschränkte. „Wenn sie nur ein paar Tage hier ist. Eine Frau mehr im Haus kann nicht schaden. Wenn sie deine Hilfe braucht wieso nicht?“ Er starrte sie an. „Was?! Nein sie kann nicht hierbleiben.“ Alleine von der Tatsache abgesehen dass Carrie überhaupt nicht wusste was Naiomi für Fähigkeiten hatte. Wie viel von dem Gespräch war ihr zu Ohren gekommen? Hoffentlich nicht alles. Das würde nur unangenehme Fragen geben. Vor allem wusste er nicht wie sich die 16-Jährige gegenüber seiner Familie verhalten würde. Wieso war Carrie dafür? Das musste wohl ihre gute Seite
sein. Sie konnte einfach nicht anders als den Leuten zu helfen. Sie würde wahrscheinlich auch einem Obdachlosen Unterschlupf geben der in ihrem Garten herumlungerte. „Ich helf auch im Haushalt. Ihre Alte hat nichts dagegen! Fällt gar nicht auf dass ich da bin!“ Er seufzte. Es brachte nichts gegen zwei Frauen gleichzeitig anzureden. Wohl oder übel musste er sich damit abfinden, dass die Teenagerin eine Weile bei ihnen bleiben würde. Natürlich nicht ohne ein paar Regeln. Sie durfte das Haus nicht verlassen. Das war zu riskant. Wenn Heidenreich herausbekam dass er einer Patientin Unterschlupf gab
würde sie garantiert wie ein Fass explodieren. Das beste war es überhaupt niemandem davon zu erzählen. Nicht einmal Dwight. Er wollte ihn mit dieser Sache nicht belasten. Das war seine Angelegenheit und in ein paar Tagen würde sich das erledigt haben. Besser sie kam bei ihrem Onkel unter als dass seine neue Chefin sie einfach wegsperrte. „Also gut. Nur ein paar Tage.“ Der 32-Jährige wandte sich zu seiner Frau um. „Lässt du uns einen Augenblick allein?“ Sie nickte und verließ die Küche. Ethan schloss die Tür und wandte seinen Blick Naiomi
zu. Nachdenklich kratzte er sich am Bart. Heute morgen hätte er sicherlich nicht gedacht dass sie jetzt bei ihm in der Küche sitzen und um Obdach ersuchen würde. Die Welt war manchmal eben ziemlich seltsam. Allerdings war es besser, denn hier konnte er sie teilweise im Auge behalten ohne sich Sorgen darüber zu machen was sie da draußen alles anstellte. „Haben sie ne Kippe? Ich bin am verschmachten?“ Er schüttelte den Kopf. „Reicht schon dass ich meine Prinzipien vergesse und dich bei mir wohnen lasse. Da muss ich nicht auch noch gutheißen
dass Minderjährige rauchen.“ „Hey! Ich werd in ein paar Monaten 17!“ „Trotzdem. Wo wir schon mal dabei sind. Solange du hier lebst gibt es Regeln an die du dich hältst. Du gehst nicht raus. Wenn du etwas brauchst sagst du meiner Frau oder mir Bescheid. In der Stadt besteht die Gefahr dass dich Leute vom Sanatorium finden. Hier bist du sicher. Zweitens: Deine Kräfte darfst du nicht benutzen. Meine Familie hat keine Ahnung davon dass es solche Leute wie dich gibt. Ich möchte sie nicht da mit hinein ziehen. Drittens: Keine Zigaretten.“ Schnaubend verschränkte die Rothaarige die Arme vor der Brust. Das schien ihr
zwar nicht wirklich zu gefallen, aber wenn sie hier leben wollte musste sie sich an die Regeln halten. Das war ja wohl das mindeste das man von ihr erwarten durfte. Immerhin setzte er einiges dabei aufs Spiel. Dessen war sie sich wahrscheinlich nicht einmal bewusst. Was sollte man aber auch anderes erwarten? Sie hatte ewig nur in Willow Creek gelebt. Sie brauchte nie für sich selbst oder für andere zu sorgen. Hier jedoch würde sie sich in die Gemeinschaft integrieren müssen. „Ist ja schlimmer als im Knast. Aber alleine pinkeln gehen darf ich schon noch oder?“ „Sehr witzig. Ich versuche dich zu
schützen. Das kann mich eine Menge kosten, also sei ein wenig dankbarer!“ Das war nicht viel verlangt. Er ging hinüber zum Fenster. Das hier war eine gute Entscheidung. Ihr zu helfen. Das sagte ihm einfach sein Gefühl. Nicht jeder der Patienten war gefährlich nur leider verstand Heidenreich das nicht. Für sie waren das alles Monster. Wenn er sie doch nur irgendwie zur Vernunft bringen könnte. Hammond hätte sicher keine Schwierigkeiten damit gehabt. Er vermisste den alten Mann sehr. Mit ihm war so vieles einfacher. Er hätte einfach zu ihm gehen und seinen Plan erzählen können. Die Zustimmung dafür hätte er alle Male bekommen. Soviel war sicher.
Da hätte er nicht hinterrücks die ganze Sache aufziehen müssen. Hinter sich konnte er die Teenagerin seufzen hören. „Sie sind nicht so gesprächig oder? Eher der grüblerische Typ. Jedenfalls, danke Doc. Dafür dass ich bei ihnen wohnen darf und so.“ „Gewöhn dich nur nicht zu sehr daran. Sobald du das okay von deinem Onkel hast musst du hier weg.“ Vielleicht würde sie dort ihren Frieden finden und ein einigermaßen normales Leben führen können. Das war etwas dass er sich für die meisten seiner Patienten wünschte. Solche Leute wie Naiomi oder Katherina waren nicht
gefährlich, auch wenn andere dieser Ansicht waren. Sie wurden dazu gemacht weil die Menschen ihre Kräfte nicht verstanden. Sie hatten Angst davor und sahen etwas böses darin. Er konnte sich gut vorstellen dass Heidenreich so dachte. Kaum vorzustellen dass es keinen Weg gab dem entgegen zu wirken. Im Moment musste er wohl solche Dinge einfach im geheimen regeln. Zumindest würde er sich besser dadurch fühlen. Er tat hier das richtige. „Können sie nicht irgendwas mit Hammond ausmachen? Der war doch immer so nett.“ „Hammond ist im Ruhestand. Die neue
Leitung geht anders vor.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Schon klar. Tod den Freaks. Sehr witzig. Ich hab nie darum gebeten so zu sein.“ Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. Er konnte sich durchaus vorstellen wie sie sich fühlte. Man wurde einfach in diese Schublade gesteckt, obwohl man eigentlich gar nichts dafür konnte. Man konnte es sich nicht aussuchen wie man geboren wurde. Man musste nun mal damit leben. Das war nicht immer leicht und manchmal konnte das ganze Richtungen annehmen von denen es kein Zurück mehr gab. Albert Wilkins war ein Beispiel dafür. Von Hass zerfressen
würde er nie wieder der Mensch sein der er mal war. Zum Glück war Naiomi nicht auf solch einem Pfad. Bei ihr gab es eine Chance dass sie ein gutes Leben führte, wenn man sie nur ließ. Manchmal musste man eben einfach Beiseite treten und dem Leben eine Gelegenheit geben sich zu entwickeln. Man konnte nicht immer daneben stehen und eingreifen wenn man es gerade für richtig hielt. „Warum ist Hammond weggegangen?“, wollte die 16-Jährige schließlich wissen. Ethan seufzte. „Die Dinge haben sich anders entwickelt als gedacht. Jetzt ist Roberta Heidenreich die Leiterin von Willow
Creek und verfolgt eine andere Politik.“
„Das heißt sie könnten echt Ärger kriegen wenn das mit mir rauskommt. Wow. Das...das hat noch nie einer für mich gesagt. Ist irgendwie süß. Schade dass sie so alt sind Doc.“
„Sehr witzig.“
Noch hatte er überhaupt keine Ahnung, wie sich das hier entwickeln würde. Er konnte ihr helfen. Das stand außer Frage, aber er konnte dabei auch alles verlieren...