Er lauschte dem Staubsauger aus der Wohnung über seiner, kaute sein Frühstück und fragte sich, ob sie ihn immer noch beobachteten. Eigentlich sollte er hier vorerst sicher sein. Das war nicht einmal eine Wohnung, die ihm von oben besorgt worden war. Er hatte sie ganz alleine organisiert. Ohne irgendjemanden einzuweihen - nicht einmal jemanden von den eigenen Leuten. Schon seit längerem vermutete er einen Maulwurf irgendwo oben in den Büros.
Von seinen wenigen Kartons hatte er erst zwei geöffnet: heute Morgen den mit dem Geschirr und gestern Abend den mit seinen Notizblöcken, eigentlich nur
um sicherzugehen, dass sie wirklich noch da waren. Auf diesen Blöcken waren Dinge vermerkt, deren Veröffentlichung einigen Leuten - großen Leuten - nicht gefallen hätte. Zusammenfassungen der wichtigsten Informationen zu jeder Person lagerten außerdem in versiegelten und beschrifteten Briefumschlägen bei einem vertrauenswürdigen Partner. Sollte er sich zwei Tage in Folge nicht dort melden, würden die Briefe versendet werden, jeder an einen anderen der Männer von oben.
Der Staubsauger von oben war jetzt genau über seinem Kopf und, heiliger Rottweiler, was waren das für Leute, die
morgens um sieben schon staubsaugten? Als er das letzte Stück Brot in seinen Mund steckte, machte Mark sich eine gedankliche Notiz, die Wohnung über seiner zunächst genauer im Blick zu behalten. Er stand auf, spülte den Teller ab und verstaute ihn im Hängeschrank der glücklicherweise möbliert vermieteten Küche - einer weg, fünf fehlten noch. Seufzend und mit einem Blick auf den Koffer unter dem Esstisch beugte Mark sich über den Umzugskarton und begann auszuräumen. Die Klingel erschreckte ihn bei der Arbeit so, dass er die Tasse, die er zu diesem Zeitpunkt in der Hand hielt, fast gegen die Decke geworfen hätte.
Böse schaute er die Tür an. Er mochte keine unangekündigten Besucher. Hing mit seinem Beruf zusammen. Er stellte die Tasse ab, schob mit dem Fuß den Karton vor den Koffer, sodass man ihn von der Tür aus nicht sah, und ging öffnen.
„Ja hallo, Sie sind also der neue Nachbar? Das freut mich aber! Ich bin die Frau Kuchel, Sie dürfen aber Hannelore sagen, unter Nachbarn wollen wir ja nicht so sein, nicht wahr?“
Im Reflex schoss Marks Arm zum Türpfosten, als die alte Frau an ihm vorbeitreten wollte. Bis auf die körperliche Reaktion war er allerdings von dem plötzlichen Redeschwall
überrumpelt.
Hannelore wich wieder einen Schritt zurück und musterte ihn einen Moment lang, bis sie weniger begeistert fragte: „Wie heißen Sie?“
„Meier.“ Kühler hätte seine Antwort kaum klingen können. Was durchaus Absicht war. Diese Frau hatte nichts in seiner Wohnung verloren, Alter und Nachbarschaft hin oder her.
Ohne sich für seinen Tonfall zu interessieren, griff sie in die Tüte in ihrer Hand. „Ich hab Ihnen etwas mitgebracht. Brot und Salz. Das sind so die alten Traditionen, die man wahren möchte.“ Als er nicht sofort reagierte, fügte sie mit mahnendem Unterton hinzu:
„Wir wollen doch die alten Traditionen wahren, nicht wahr, Her Meier?“
„Natürlich.“ Er baute sich breitschultrig im Türrahmen auf und nahm die Geschenke entgegen.
„Wusste ich es doch. Wissen Sie, ich hatte hier immer ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Nachbarn, alles nette, junge Leute, die nichts dagegen hatten, einer alten Dame auch mal mit ihren Einkaufstüten zu helfen. Sind das nicht schöne Traditionen, Herr Meier?“
„Sehr schöne“, bestätigte er, wobei er seinen Oberkörper immer so bog, dass sie nicht an ihm vorbei in die Wohnung gucken konnte, „Wo, sagten Sie, wohnen Sie noch gleich?“
Jetzt schwenkte ihr Blick endlich zurück zu seinem Gesicht und weg von der Küche. „Exakt über Ihnen“, lächelte sie, „Ich hoffe, ich hab Sie nicht mit dem Staubsauger geweckt, aber das glaube ich ja nicht, so, wie Sie aussehen. Sie sehen eher wie ein Frühaufsteher aus. Ich saug auch nur mittwochs so zeitig, weil Mittwoch mein Treppenhaustag ist, da muss ich gucken, wie ich hinkomm, mit meiner Wohnung und dem Treppenhaus, das ich noch putzen muss. Insofern Sie nicht…“
„Heute nicht, tut mir leid.“ Natürlich hätte er erklären können, dass er gestern erst eingezogen war und zuerst seine Kartons in Ruhe ausräumen wollte, aber
heiliger Rottweiler, das konnte die Alte sich doch auch selbst denken. Er ballte seine linke Hand um den Salzstreuer zu einer Faust, die er gegen den Türrahmen drückte, um aus seinem Arm eine Schranke zu errichten. Die alte Frau sollte verschwinden.
„Wenn das so ist…“ Sie machte einen Schritt rückwärts. „…, geh ich jetzt mal wieder. Die Hausarbeit ruft, wissen Sie, im Alter macht sich das nicht mehr von allein. Wir sehen uns ja bestimmt einmal im Treppenhaus. Tschüss! Auf eine gute Nachbarschaft.“
„Schönen Tag noch. Auf Wiedersehen.“ Bis sie aus seinem Blickfeld gehumpelt war, schaute er
Hannelore Kuchel hinterher, dann ging er zurück in die Wohnung, schloss die Tür hinter sich und drückte noch einmal fest auf eine Stelle dicht neben dem Schloss, um sicherzugehen, dass es auch wirklich eingerastet war.
Hannelore Kuchel… Den Namen hatte er jetzt in seinem mentalen Register verzeichnet. Dass sie eine alte Frau als Spionin einsetzten, fand er relativ unwahrscheinlich, doch die werte Frau Kuchel war neugierig und neugierige Menschen taten schnüfflerische Dinge und wer bei ihm herumschnüffelte, konnte ausversehen auf Geheimnisse stoßen, die eigentlich nur für die Augen einer ausgewählten Gruppe Menschen in
den Büros einer mächtigen Organisation bestimmt waren, über die nicht einmal die Bundesregierung sonderlich viel wusste. Weniger zumindest, als sie öffentlich zugeben wollte.
Bis zum zweiten Klingeln hatte Mark den Küchenkarton komplett ausgeräumt. Der letzten Gegenstand, ein Fleischmesser, scharf und schön groß, lag noch in seiner Hand - und es lag gut in der Hand -, als das nervtötende Geräusch wieder ertönte.
Diesmal erschrak er nicht. Den bösen Blick warf er trotzdem auf die Tür, ließ das Messer kurz rotieren, griff es fester, wog es in der Hand… Dann warf er es achtlos auf den Tisch und platzierte den
Umzugskarton wieder so, dass man den Koffer von außen nicht sehen konnte. Anderer Nachbar, Postbote oder Hannelore: Der Koffer ging sie alle nichts an.
Vor der Tür stand eine Jugendliche, die Hände hinter dem Rücken versteckt, sodass Marks Körper in eine unauffällige Alarmbereitschaft überging, die Haare schlecht gefärbt, zu Zöpfen gebunden, Pickel im Gesicht. „Hi, ich bin Mandy, Mandy-Chantal. Meine Freunde nennen mich meistens nur Mandy… wobei…“ Sie runzelte die Stirn und ließ den Blick nachdenklich nach oben wandern. „… viele nennen mich auch nur Chantal. Ist schon irgendwie…“
„Meier.“
Die Stirn glättete sich, der Blick sprang zurück zu ihm. „Was?“
„Ich heiße Meier.“ Genauso abweisend wie beim ersten Mal.
„Ah. Ist schon irgendwie ein schöner Name. Ich will Ihnen was willkommensschenken, Herr Meier.“ Jetzt kamen die Hände hinter dem Rücken hervor. Sofort machte Marks Alarmbereitschaft einen Sprung nach oben, er konnte die Bewegung wie in Zeitlupe beobachten, aber was nach vorne kam, war nur ein Teddybär. Sie streckte ihm das Plüschtier entgegen. „Bitte!“
„Was?“
„Ein Teddy!“ Sie wackelte mit ihm. „Für Sie!“
Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. „Ich denke nicht, dass…“
„Wollen Sie etwa ein Willkommensgeschenk ablehnen?“ Mit vorgeschobener Unterlippe legte sie den Kopf schief - und da war er, versteckt in diesem Gesichtsausdruck, den das ungeschulte Auge für das Schmollen einer Jugendlichen gehalten hätte: der versuchte Blick an ihm vorbei in die Wohnung.
Mark verlagerte seine Oberkörper etwas, um ihr die Sicht zu versperren. „Genau das will ich“, knurrte er, „Und
ich will, dass du verschwindest. Auf der Stelle!“ Damit machte er einen ruckartigen Schritt nach hinten und donnerte die Tür zu, drückte noch einmal auf das Holz dicht neben dem Schloss, lauschte.
Für einen kurzen Moment herrschte draußen Stille. Dann polterte das Mädchen wütend fluchend davon. Natürlich war sie sauer, er hatte sie durchschaut. Als Nächstes hätte sie versucht, sich an ihn ranzumachen, ihn zu erregen. Vielleicht hätte sie mit einer zweideutigen Stimme darauf bestanden, den Teddybären persönlich in sein Schlafzimmer zu bringen.
Er glaubte nicht einmal, dass sie selbst
spionieren wollte. Das war ein politischer Komplott. Man wollte ihn ausschalten, indem man ihn ins Gefängnis stecken ließ oder wenigstens seinem Ruf dauerhaft schadete. Die besten Waffen gegen einen Verteidiger des Rechts waren die Mittel des Rechts, das er verteidigte. Das hatte Mark, seit er in den Besitz des Koffers gekommen war, lernen müssen: Sie waren nicht unbedingt erpicht darauf, ihn umzubringen - auch wenn es Anschläge gegeben hatte. Sie zogen es vor, ihn in seinem Bewegungsfreiraum einzugrenzen und auszuspionieren, sein Wissen zu ihrem zu machen, ihn daran zu hindern, mehr herauszufinden.
Natürlich hatten sie seinen Umzug beobachten können. Wie naiv war er denn gewesen, diese Möglichkeit als unwahrscheinlich anzusehen? Er erinnerte sich noch gut an das Motelzimmer. Zwei Wochen lang hatten sie ihn darin gefangen gehalten. Nicht mit Gewalt oder mit Ketten, nicht einmal, indem sie ihn eingeschlossen hatten, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, nein. Was ihn gefangen gehalten hatte, war das Wissen, dass er ununterbrochen beobachtet wurde. Selbst nachts. Im Dunkeln konnte er manchmal das Glühen einer Zigarette an der Bushaltestelle vor seiner Tür sehen.
Die Männer waren immer ähnlich gekleidet, hatten meistens eine Zeitung dabei. Sie kamen mit den Bussen, derjenige, der die ganze Zeit Wache gehalten hatte, stieg ein, der nächste stieg aus, höchstens fünf Sekunden, in denen keiner von beiden seine Tür beobachtete. Und sie trugen Waffen. Der allererste Mann, dessen Zigarette nachts glühte, hatte seine kurz bedrohlich gezückt, als Mark aus dem Fenster schaute, um die Gefahrenlage einzuschätzen. Sie hätten ihn verfolgt und wahrscheinlich umgebracht, hätte er das Motelzimmer verlassen. Und sie hätten Zugriff auf all seine Informationen gehabt - und auf den
Koffer. Deshalb verbarrikadierte er sich damals. In dieser Situation schrieb er zum ersten Mal Zusammenfassungen seiner Arbeitsergebnisse, die er für später in versiegelte Briefumschläge steckte. Für seine Flucht musste er schließlich auf die Kanalisation zurückgreifen, doch selbst dort verfolgten ihn die Männer. Er war nicht entkommen, bevor er nicht jeden einzelnen von ihnen umgebracht hatte.
Mittlerweile räumte Mark den Karton mit der Beschriftung Badezimmer aus. Den Koffer hatte er aus der Küche mitgenommen und in seinem Blickfeld platziert. In seinem Hosenbund steckte das Fleischmesser. Er fragte sich gerade,
wo beim heiligen Rottweiler er jetzt noch seine Duschgels unterbekommen sollte, als die Bässe von unten den Boden beben ließen und drohten, seine frisch platzierten Sachen wieder aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken hüpfen zu lassen.
Sofort riss Mark den Koffer an sich, begrub ihn unter seinem Körper und hielt sich auf dem Boden kauernd die Ohren zu, blieb aber so aufmerksam und angespannt, dass er jeden Augenblick losspringen konnte - was nicht notwendig war. Irgendwann hörten die Fliesen einfach auf zu vibrieren und es war vorbei. Zitternd stand Mark auf. Er blinzelte zur Deckenlampe.
„Das war alles?“, flüsterte er, sah sich um, „Hör hin… hör hin… hör hin, hör hin, hör hin du sollst hinhören, du verdammter…!!!“
„Herr Meier!?“ Vor seiner Wohnungstür polterte es. „Herr Meier, sind Sie das!?“ Klopfen, Klingeln - Frau Kuchel.
Mark entspannte sich. Für ihn war das ein antrainierter Prozess. Er konnte aus jeder Gefühlslage zur Gelassenheit zurückkehren. Auch so etwas war eine Art von Tarnung.
„Komme gleich!“, rief er ruhig und ohne die tiefen Halbmonde, die seine Fingernägel in seine Handflächen gebohrt hatten, zu beachten.
Die Flüssigkeit fiel ihm sofort auf, als er sich der Tür näherte. Durchsichtig wie Wasser verbreitete sie sich vom Türschlitz aus im Eingangsbereich. Dass es wirklich Wasser war, konnte er natürlich nicht ausschließen, aber wenn sie Teenager benutzten, um ihn in eine Falle zu locken, gossen sie vielleicht auch Chemikalien oder Nanobots in seine Wohnung.
Vorsichtig streckte Mark sich über die Lache, um die Tür zu öffnen. Auf seinem Treppenhausabsatz kniete Hannelore Kuchel und richtete einen umgefallenen Putzeimer auf, hinter ihr lag ein Wischmopp.
„Herr Meier, ist das Wasser in Ihre…
Entschuldigen Sie!“ Die alte Frau richtete sich schwerfällig auf. „Ich hab Schreie gehört und vor lauter Schreck den Eimer umgestoßen. Lassen Sie mich das wegmachen…“
Sofort trat Mark nach vorne, um ihr den Weg abzuschneiden. „Das ist gerade unpassend.“
Die Alte sah ihn verwirrt an, dann lachte sie auf: „Haben Sie etwa eine Frau mitgebracht, die Sie Ihrer alten Nachbarin noch vorstellen müssen? Ich bin ja immer so begeistert, wenn junge Menschen sich finden… Und kleine Streits kommen mal vor, keine Sorge.“ Mit einem verschwörerischen Augenzwinkern begann sie, ihren Hals zu
recken, um über seine Schulter zu gucken. „Wie heißt sie denn?“
„Nona.“
„Nona, was für ein schöner Name! Wollen Sie sie mir nicht vorstellen?“
Mark antwortete nicht, sondern drehte sich aus dem Weg. Natürlich so, dass Frau Kuchel das Messer nicht sehen konnte. Als sie die Wohnung betreten hatte, schloss er hinter ihrem Rücken langsam die Tür, verbarg das Messer dabei weiter vor ihr.
„Lassen Sie doch auf, sonst ziehen Sie die Tür nochmal durchs Nasse!“
„Nicht schlimm“, antwortete Mark, „Sehen Sie sich ruhig um.“
„Nun gut…“ Etwas verunsichert kehrte
Hannelore ihm den Rücken zu. Nach einem kurzen Augenblick fragte sie: „Fangen Sie an, Ihre Kartons auszuräumen? Da kommen einem ja immer so schöne Erinnerungen hoch, nicht wahr, Herr Meier?“
Er zog das Messer aus seinem Hosenbund, hob es über den Kopf. „So gestochen scharf, dass man Fleisch damit schneiden könnte.“
„Das ist aber kein schöner Vergleich, Herr Meier!“ Die Alte trat einen Schritt nach vorne und sah sich um. „Wo ist denn nun Ihre Freundin?“
„Tot!“ Blitzschnell schloss Mark zu Frau Kuchel auf, rammte das Messer von oben zwischen ihre Schulterblätter. Ihr
blieb nur Zeit für einen einzigen, gellenden Schrei, dann hatte er sie auf den Rücken geworfen und das Fleischmesser schräg unter ihrem Brustbein hindurch in ihr Herz gestoßen.
Er zitterte. Mit blutigen Händen erhob er sich. Irgendwie musste er die Leiche loswerden. Sonst würden sie kommen und sie finden…
Fast wäre Mark sich mit einer Hand durch die Haare gefahren, als er sich nervös umsah. Die Männer mit den Regenmänteln… Das war die Chance, auf die sie gewartet hatten!
„Das war aber keine gute Idee, Mark…“
„Was!?“ Entsetzt wich er von der
Leiche zurück, das konnte doch nicht… aber ja, die Leiche bewegte sich langsam auf dem Boden, versuchte aufzustehen.
„Jetzt werden sie dich kriegen, das weißt du. Sieh dir deine Welt hier an. Du denkst, deine Festung wäre so sicher, aber sie kommen durch deine Wände, als wären sie Papier…“
Und tatsächlich: Die Tapeten lösten sich, rollten nach unten, dahinter Kameralinsen, nichts als Überwachungskameras mit blinkenden roten Lichtern.
Die Leiche kämpfte sich auf ihre Beine. „Du solltest dich nicht selbst belügen. Die Einwohner dieses Hauses
wollen alle den Koffer haben. Und heute ist der Tag, an dem die zeitungslesenden Männer sich rächen.“
„Nein!!!“ Mark schrie, wirbelte herum und rutschte fast in der Chemikalie aus, als er zur Wohnungstür stürzte. Er riss sie auf, stolperte über den Putzeimer, fiel gegen das Treppengeländer… Nach unten konnte er nicht, das Mädchen mit dem Teddybär rannte die Treppe nach oben. Weiter hoch konnte er auch nicht, da saß ein Mann im Regenmantel auf den Stufen, eine glühende Zigarette zwischen dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, eine eingerollte Zeitung in der linken und mit Sicherheit eine Pistole in der Manteltasche.
Kurz ließ Mark den Kopf hin- und herfliegen, dann packte er einfach das Geländer und wuchtete sich darüber. Als sein Gesicht eine Etage tiefer mit dem Treppengeländer kollidierte, spürte er nur einen sehr kurzen Schmerz. Mandy-Chantal hatte bis dahin auch die letzten Stufen genommen und stand in der Pfütze vor seiner Wohnung. Ihr Blick klebte starr an der Leiche und Übelkeit krabbelte ihren Hals hoch. Doch da war auch ein anderer Impuls. Als sie verschiedene Wohnungstüren im Haus aufgehen hörte, verspürte sie irgendwie den Drang, hineinzugehen und dafür zu sorgen, dass ihr noch etwas Zeit zum Suchen blieb, bevor der nächste vom
Schrei aufgeschreckte Hausbewohner hier auftauchte. Immerhin musste es einen Grund haben, dass sie als Erste die Wohnung erreichte.
Weit aus der Ferne rief ihr Verstand das Wort Zufall, es wäre Zufall, dass sie die Erste war, läge nur daran, dass ihre Eltern ihr die Musik abgestellt hatten und sie deshalb zu Frau Kuchel den Kochunterricht nehmen gehen wollte, den die alte Frau ihr schon so lange versprach, doch in ihren Ohren ergab diese Begründung irgendwie keinen Sinn. Sie glaubte vielmehr an so etwas wie eine Bestimmung, eine höhere Macht, die diesen Zufall herbeigeführt hatte, damit ihr mehr Zeit zum Suchen
blieb.
Zum Suchen von was? Mandy wusste es nicht genau, stieg aber wie in Trance über die Leiche, begriff, dass sie ins Badezimmer musste. Und da stand er: der Koffer. Auf einem Regal über der Badewanne.
Mandy blickte noch einmal in den Spiegel: Gut, sie war alleine in der Wohnung. Dann griff sie nach dem Koffer. Ihr kam es so vor, als tickte irgendwo eine Uhr. Die Kombination für das Schloss lautete 148-726, das wusste sie - warum auch immer. Und als die beiden Kofferhälften vor ihren Augen auseinanderdrifteten, begriff sie, dass sie als Erste hier hatte ankommen
müssen, weil der Koffer für sie bestimmt war. Doch es würde andere Leute geben, die ihn ihr abnehmen wollten. Und das durfte auf keinen Fall geschehen…
Mit entschlossenem Blick schloss Mandy den Koffer. Sie nahm ihn in die linke Hand, drehte sich um, beugte sich nach ein paar Schritten über die Leiche. Das Fleischmesser zog sie genau in dem Augenblick aus Hannelore Kuchels Herz, in dem ihre Eltern die Wohnung betraten.