1 Monat später - Unentwegt prasselte der Regen gegen die Scheibe seines Büros. Das triste grau des Himmels passte sehr gut zur allgemeinen Stimmung im Sanatorium. In der letzten Zeit schien sich alles nur noch schleppend zu bewegen. An Tagen wie diesen kostete es ihn schon Kraft, morgens aufzustehen und sich dazu zu animieren seinen Arbeitsplatz aufzusuchen. Die vergangenen Wochen wirkten wie eine Lethargie aus der man nicht aufwachen konnte, auch wenn man
sich anstrengte. Als wäre ein Schalter umgelegt worden. Nicht zuletzt lag es an den Ereignissen die zum Tod vieler Menschen in diesen Hallen geführt hatten. Die Leute waren nicht mehr dieselben. Wer hier lange genug arbeitete, öffnete sein Herz gegenüber den Anderen. Sie waren Familie und für viele existierte dieser Teil nicht mehr. Veränderungen folgten schlag auf schlag. Heidenreich war fort. Die positive Einstellung, mit der er diesem Ereignis entgegensah, war verschwunden. Immer wieder fragte er sich, wie es überhaupt zu diesem Punkt kommen konnte, in dem er sich so verloren fühlte. Das Gremium hatte nun
die Kontrolle über die Anstalt. Nach Robertas Anhörung hatte man sich dazu entschieden Nathan Rivers, Russel Studwicks Assistenten, zum Leiter der Anstalt zu ernennen. Für viele ein willkommener frischer Wind, doch er wusste, dass dies nur dazu diente um ihnen besser auf die Finger schauen zu können. Nach dem Debakel mit Edward Smith schien das Vertrauen zerstört. Nur wenige begriffen, was hinter dem neuen Anstaltsleiter stand. So war es dem Gremium möglich, sie genau zu überwachen und zu intervenieren, falls sie einen Fehler machten. Man legte sie an die Leine, da man der Ansicht war, ihre Kompetenzen seien ausgeschöpft. In
Anbetracht der Lage stimmte er sogar zu. Der Unbekannte war weiterhin auf freiem Fuß. Die größte Bedrohung, wenn man so wollte. Zwar hielt er sich bis jetzt bedeckt, aber man konnte nie wissen, wann er sich dazu entschied zuzuschlagen. Hinzu kam der Angreifer, der dank Eds Hilfe die Anstalt infiltrieren konnte. Akerman vermutete, dass beide zusammenarbeiteten. Dennoch gab es nichts handfestes. Ethan war etwas auf der Spur gewesen, bevor man ihn und Arnold Griffs überfiel. Als sie endlich am Motel ankamen, konnten sie nur noch die Scherben aufsammeln. Es war überhaupt ein Wunder, dass die beiden
noch lebten. Der Fremde hatte in weiser Voraussicht alle Beweise in einem Feuer vernichtet. Was auch immer für Informationen Rain gefunden hatte. Sie waren vernichtet. Der Arzt selbst lag noch immer im Koma. Zu Anfangs war es nicht einmal sicher, ob er überhaupt überlebt. Ob er jemals wieder aufwachte, war die nächste Frage. Einzig Arnold Griffs hatte wirklich Glück. Mittlerweile hatte man ihn aus dem Krankenhaus entlassen. Eigentlich sollte Leland froh sein, dass sie noch lebten. Die ganze Geschichte hatte schon zu viele Opfer gefordert. Das alte Team gab es nicht
mehr. Außer Peterson und ihm war niemand übrig. Einmal mehr zeigte sich, dass sie diesem Feind nicht gewachsen waren. Das Gremium bemühte sich, die Ordnung wieder aufzubauen. Inzwischen hatte man sogar die Wachen in der Anstalt verstärkt, neue Ärzte eingestellt und eine Art Plan für die übrigen entflohenen Patienten entworfen. Rivers verschwendete damit keine Zeit. Besonders jetzt nachdem Patrick Snyder zum Bürgermeister aufgestiegen war. Die U.F.P.I war so etwas wie die örtliche Kontroll-Polizei geworden. Nachts patrouillierten diese Leute auf den Straßen. Snyder selbst war inzwischen so etwas wie eine Ikone,
nachdem er der Welt die Wahrheit über die Paramenschen offenbart hatte. Viele fraßen ihm aus der Hand. Gleichzeitig gab es viele die sich fürchteten. Proteste und Hassmärsche zählten zum Tagesbild von Detroit. Um ehrlich zu sein, hatte der Bürgermeister alles nur noch schlimmer gemacht. Zwar tat er alles, um jenen zu helfen die ihn aufsuchten, aber seine Augen konnte er nicht überall offen halten. Außerdem war man sich nicht mehr sicher, wie weit man dem Politiker noch vertrauen konnte. Ethan war derjenige, der dazu den Ausschlag gab. Zu gerne wüsste Leland, was der Arzt im Motel gefunden hatte. Zwar arbeitete er immer noch für
Snyder, aber nur weil das Gremium es so verlangte. Akerman lächelte matt und humpelte zu seinem Schreibtisch. Eine der Grundvoraussetzungen für die Hilfe des Gremiums war, dass Er Snyder überwachen sollte. Einfach war es nicht. Immerhin hatte sich Patrick sehr um Akerman bemüht. Man konnte die beiden sogar Freunde nennen. Alleine deshalb kam er sich wie ein Verräter vor. Manchmal glaubte er sogar, dass Snyder davon wusste und nur den Unwissenden spielte. Da war dieser Ausdruck in seinen Augen. Dennoch. Leland hatte ihn nicht darauf angesprochen. Es würde die Dinge nur
noch mehr verkomplizieren, als sie es sowieso schon waren. Im Augenblick hatten sie alle genug zu tun. Hier in der Anstalt war er nach Rains Unfall einer der leitenden Ärzte. Einfach war das nicht. Die Patienten hatten nicht das Vertrauen zu ihm, das sie zu Ethan hegten. Es war schwer, auf sie einzugehen. Bei den neueren Fällen war es leichter. Sie brauchten zwar eine Weile, um aufzutauen, aber irgendwann klappte es einfach. Schwieriger waren die alten Fälle, wie Carl Collins, oder Erik Smith. Man hatte ihnen natürlich nicht die Wahrheit über die Gesundheit Ethans gesagt. Man wollte sie nicht unnötig verunsichern. Dennoch spürten
sie, dass etwas nicht stimmte. Hinzu kamen natürlich die verschärften Wachmaßnahmen. Es war den Patienten nicht einmal mehr gestattet das Gebäude zu verlassen. Zu ihrer Sicherheit. Das sorgte für zusätzliche Unruhe. Die Patienten waren angespannt, was natürlich mehr Gespräche als sonst erforderte. Ob das wirklich half, war eine andere Frage. Es zählte eigentlich nur, dass sie alle viel zu tun hatten. Meistens arbeitete er bis spät in die Nacht. Gut. Zu Hause wartete niemand auf ihn. Mittlerweile lebte er im Penthouse. Da war nur Patrick und Naiomi, die sich ebenfalls dazu entschlossen hatte in der Stadt zu
bleiben. Dem Mädchen ging es nicht gut und so war dies vielleicht besser, denn er hatte die Möglichkeit ein Auge auf sie zu halten. Der Umstand, dass es mit ihrem Lauftraining nur schleppend voran ging und die Tatsache mit Ethans Unfall hatten ihr schwer zugesetzt. Es gab also überall Baustellen, um die man sich kümmern musste. Die erste am heutigen Tag war Michaela Wood, weshalb er zeitig sein Büro verließ. Die junge Frau war mittlerweile gut in die Anstalt eingegliedert. Sie hegte sogar eine Beziehung zu einem ihrer Mitpatienten. Carl Collins. Bei dem Gedanken musste er schmunzeln. Wer
hätte gedacht, dass das Glück ausgerechnet diesen Fettsack erwischte? Wie sagte man dazu? Wo die Liebe hinfällt. Andererseits tat es beiden gut. Es lenkte sie von der allgemeinen negativen Stimmung in der Anstalt ab und das war etwas gutes. Dies war auch einer der Gründe, warum der Anstaltsleiter die Beziehung der Beiden tolerierte. Normalerweise war es so, dass untereinander eine Bindung nicht gerne gesehen war. In den meisten Fällen führte das nur zu Komplikationen. Rivers war jedoch der Ansicht, dass man neue Wege ausprobieren musste und jetzt, wo die Beiden ihre Beziehung nicht mehr
verheimlichten mussten, schien es ihnen nur noch besser zu gehen. So steuerte er das Besprechungszimmer an, in dem die junge Frau wartete. Das Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden. Die grauen Augen musterten Akerman neugierig, als er eintrat. Er nickte ihr zur Begrüßung entgegen. „Guten Morgen Miss Wood!“ Er ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder und kratzte sich an seinem Kinnbart. Michaela wirkte zufrieden. Zur Abwechslung mal einem freundlichen Gesellen gegenüber zu sitzen, war erfreulich. „Guten Morgen Doktor. Sie sehen ein wenig müde aus. Ist alles in
Ordnung?“ Er lächelte freundlich und nickte dabei. „Eigentlich sollte ich solche Fragen stellen. Das Wetter könnte besser sein, aber ansonsten ist alles gut. Ich hatte ein gutes Frühstück, einen guten Kaffee. Alles in allem sehr aufbauend. Und wie ist es bei ihnen?“ „Es ist okay. Ich mache mir nur Sorgen. Den Anderen geht es nicht so gut. Außerdem fehlt uns Doktor Rain. Geht es ihm schon besser?“ Er seufzte und runzelte die Stirn. „Er wird schon wieder.“ Was sollte er sonst sagen? Die Wahrheit war in diesem Fall nicht hilfreich. Außerdem konnte er ihre Sorge gut
nachvollziehen. Immerhin hatte Ethan sie damals überzeugt in die Anstalt zu kommen. Er war so etwas wie ihre Hauptperson. Gut. Sie öffnete sich ihm gegenüber zwar auch, aber es fehlte dieses blinde Vertrauen. Dies war einer der Gründe, warum er diese Gespräche eigentlich nicht mochte. Es war wie in der Schule. Man hatte eben seine Lieblingslehrer. Alle anderen wurden nur geduldet. Hier war es ähnlich. Immerhin war dies etwas. Den neuen Ärzten schenkten die Patienten noch weniger Vertrauen. Also konnte er sich wohl glücklich schätzen, ihr zumindest ein paar Worte zu entlocken.
„Doktor? Darf ich sie etwas fragen?“ Da war er plötzlich. Dieser seltsam unsichere Blick in ihren Augen. Zögerlich nickte Akerman und stützte einen Ellbogen auf dem Tisch ab und musterte sie. Michaela suchte nach den passenden Worten. In den Sekunden ihres Schweigens war nur das Ticken der Wanduhr über der Tür zu hören. „Stimmt es, was sich manche Patienten erzählen? Ist es wirklich gefährlich für uns? Ich meine: Wir dürfen ja nicht einmal mehr hinaus in den Garten. Gab es wirklich einen Angriff auf die
Anstalt?“ Er seufzte. Zumindest hatte er gehofft dass sich dieser Umstand verschleiern lies. Hier wurde er eines besseren belehrt. Manche Patienten waren eben nicht so dumm und machten sich ihre Gedanken. Ein Umstand den Nathan Rivers offenbar nicht in seiner Rechnung hatte. Es war klar, dass sie sich irgendwann fragen würden, warum die Dinge auf einmal anders gehandhabt wurden als bisher. Ein Wunder, dass sie sich solange Zeit damit ließen. Wie hätte Ethan wohl reagiert? Der hatte den Dreh raus. Er wusste genau, wie man sich in dieser Situation verhalten musste. Er war leider nicht Ethan. Diese sensible
feine Art fehlte ihm einfach. Er war kein Mensch, der auf gut Freund tun konnte, wenn es angebracht war. Trotzdem bemühte er sich und ergriff zögernd ihre Hand. „Die Dinge sind nicht so einfach. Es läuft nicht alles immer so, wie man es gerne hätte. Dir kann man nichts vor machen. Was du nur wissen musst ist: Hier wird euch nichts zustoßen. Ihr seid hier sicher.“ Sie wirkte unentschlossen. Er hätte es wissen müssen. Wäre er an ihrer Stelle, würde er kein Wort davon glauben. Daher war es wohl besser, wenn er einfach das Thema wechselte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Das
funktionierte meistens. „Wie geht es Carl? Ihr beide macht einen fröhlichen Eindruck.“ Woran das lag wusste er natürlich. Wichtig war nur, dass Sie keine unangenehmen Fragen stellte. Er war nicht der Typ für solch tiefsinnige Gespräche. Wäre Ethan jetzt hier, wüsste er sicher was die richtigen Worte wären. Er hätte keine Schwierigkeiten damit, den Patienten die Unsicherheit und die Angst zu nehmen. Er war nur Leland. Und er hasste es, so zu tun als wäre alles in Ordnung. „Es ist schön, einen Gleichgesinnten zu haben. Es war nicht leicht für mich.
Besonders nach dem Unfall mit meinem Ex-Freund im Aquarium. Ich habe mich verloren gefühlt, aber Carl, er hat mich gefunden. Er hat mir geholfen.“ Er nickte nur und kratzte sich an der Oberlippe. Die Geschichte kannte er. Sie war Tierpflegerin gewesen. Ihre Kraft bestand darin jedes Meerestier kontrollieren zu können. Zu Beginn war sie sich dessen allerdings nicht bewusst. Ihre Fähigkeiten waren von ihrer Stimmung abhängig und nachdem sie glaubte, ihr Freund ginge ihr Fremd wurde er zum ersten Opfer in ihrem Fall. Zum Glück auch zum einzigen. Er hatte die Akte gut studiert. Ethan war rechtzeitig gekommen, bevor sie noch
mehr Schaden anrichten konnte. Hier ging es ihr gut. Es gab auch nicht wirklich eine Möglichkeit für sie, ihre Kraft anzuwenden. Außer vielleicht beim kleinen Aquarium im Aufenthaltsraum, aber ein Goldfisch war nicht wirklich gefährlich. Mittlerweile hatte man sie sogar der A-Kategorie zugeordnet. Sie kümmerte sich um die Fische und das sehr gut. Besser, als sie einfach nur wegzusperren. Hier gab es keine Orcas, die sie auf jemanden hetzen konnte. „Leland Akerman. Bitte begeben sie sich umgehend in das Büro des Anstaltsleiters. Ich wiederhole: Leland Akerman. Bitte begeben sie sich in das Büro des
Anstaltsleiters.“ Er zuckte beinahe zusammen. Gladis krächzende Stimme schallte aus den Lautsprechern und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Seit Nathan Rivers hier das sagen hatte, wurden die Dinger endlich mal wieder benutzt. Eine lange Zeit waren sie nur Dekoration und hatten wohl deshalb einen Knacks bekommen. Es piepte jedes mal furchtbar, wenn man eine Ansprache beendete. Ein willkommener Schmaus für das Trommelfell. Er streckte die Glieder und gähnte herzhaft. Besser, er machte sich sofort auf den Weg. „Die Pflicht ruft. Du kannst jetzt wieder zurück in den A-Trakt gehen. Es war
schön mit dir zu sprechen.“ Damit erhob er sich und machte sich auf den Weg. Rivers rief ihn öfters zu sich, um die aktuellen Begebenheiten zu besprechen und die neusten Informationen über Snyder zu erfahren. Das letzte Gespräch war gestern, weshalb es ihn eigentlich wunderte, so schnell wieder auf seiner Türschwelle erscheinen zu müssen. Er seufzte, während er durch den Korridor zum Aufzug humpelte. Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. So betätigte er den Rufknopf und wartete. Wenig später kam der Fahrstuhl auch schon und Akerman trat ins Innere. Eigentlich mochte er die Dinger
nicht, aber sein Bein war in letzter Zeit schlimmer geworden. Nachts konnte er wegen der Schmerzen kaum Schlaf finden. Daher versuchte er in seiner Freizeit das Ganze mit Alkohol zu betäuben. Für den Augenblick half es, doch jedes mal der Brummschädel danach, war die Sache nicht wert. Schließlich erreichte Leland die richtige Etage. Nach Heidenreichs Kündigung hatte Rivers sein Büro in einen anderen Teil der Anstalt verlegen lassen. Es war größer, als das der Vorgänger. Außerdem besaß er eine Assistentin, die für ihn die Termine ausmachte. Seine eigene kleine Sekretärin. In den ersten Tagen wurde
sie mehrmals ausgetauscht. Die Ansprüche des Anstaltsleiters waren hoch und nicht jeder wurde ihnen gerecht. Das derzeitige Modell hieß Molly. Ein hübsches junges Ding mit einem Abschluss von der University of Toronto. Ein unschuldiges blondes Geschöpft, das bei jedem Lächeln ihre strahlend weißen Zähne zeigte. Die Sommersprossen auf den Wangen verliehen ihr einen zusätzlichen Touch. Sie war genau Lelands Geschmack. Seiner Meinung nach gab es eine gewisse Chemie zwischen ihnen. Es war die Art, wie sie ihn anlächelte, jedes Mal wenn er durch die Tür kam. „Oh. Leland! Äh – ich meine natürlich.
Mr. Akerman.“ Er lächelte freundlich. Sie stand direkt von ihrem Tisch auf, auf dem mehrere Unterlagen verteilt waren. So wie es aussah, gab es wirklich eine Menge zu tun. Das Mädchen hatte dicke Ringe unter den Augen. Es schien wohl eine Weile her zu sein, dass sie mal richtig geschlafen hatte. Dennoch arbeitete sie hart und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie immer noch hier war. Ein weiterer positiver Aspekt an ihr war, dass sie immer gut gelaunt schien, egal zu welcher Tageszeit. Genau wie jetzt. Der süßliche Duft ihres Parfums drang ihm in die Nase, als sie sich ihm
nährte. „Molly. Ist schon in Ordnung. Ich sagte ja: Du darfst mich ruhig Leland nennen. Ich habe nichts dagegen.“ Sie nickte und errötete. Sie mochte zwar schon 22 sein, aber manchmal wirkte sie wie eines dieser verschüchterten Schulmädchen. Hinzu kamen diese süßen grünen Augen, die ruhig in ihren Höhlen leuchteten. Sie war schon etwas besonderes. Sie verlieh diesem tristen Ort ein wenig Fröhlichkeit und das war wichtig. „Okay. Also Leland. Mr. Rivers wartet schon. Sie können einfach zu ihm durch gehen.“ Er hob beruhigend die
Hand. „Bitte Molly. Wenn du mich schon mit Vornamen ansprichst, dann kannst du mich auch duzen.“ „Äh-Ok!“ Er tat einen Schritt auf sie zu und wischte ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war wirklich nervös. Diese jungen Dinger hatten eben ihren ganz eigenen Charme. „Hör mal Molly. Wenn du hier fertig bist, warum gehen wir dann nicht zusammen einen Happen Essen? Du siehst aus, als könntest du eine warme Mahlzeit vertragen. Ich lade dich ein.“ Das schien sie nur noch mehr zu
verunsichern. „Äh...also ich äh-“ „Soll ich ihnen ein Kissen und eine Decke besorgen, damit es für sie gemütlicher ist Mr. Akerman?“ Erschrocken zuckte Molly zusammen. Leland wandte den Blick zur Tür des Büros. Rivers stand im Rahmen und rauchte eine Zigarette. Wie üblich trug er ein weißes Hemd mit umgekrempelten Ärmeln und die dazu passende Hose, die mit Hosenträgern befestigt war. Mit einem Wink seiner Hand deutete er dem Arzt, ihm ins innere seines Büros zu folgen, was er natürlich sofort tat. Er erhaschte einen letzten Blick auf Molly,
die sich ein wenig beschämt wieder hinter ihren Schreibtisch setzte. „Sie werden sie doch nicht wegen mir feuern oder?“, entkam es ihm, während er die Tür hinter sich schloss. Nathan schüttelte nur den Kopf und führte ihn zu seinem Schreibtisch. Das Büro war wirklich viel größer. Viele Bücherregale hatten hier Platz. Meistens mit Wälzern über Psychologie und dergleichen. In der Mitte vor dem Schreibtisch stand ein Tisch auf dem eine Stadtkarte ausgerollt war. Überall klebten Notizzettel. Akerman warf einen flüchtigen Blick darauf, während Rivers das Wort ergriff. „Wenn ich jedes Mal meine Sekretärinnen
feuern würde, nur weil ich befürchten muss dass sie sie entjungfern, dann hätte ich kein Personal mehr. Keine Sorge. Ihr Liebchen wird uns erhalten bleiben. Zigarette?“ Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Leland schüttelte den Kopf und nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz. Bevor er etwas entgegen konnte, fuhr der Braunhaarige bereits fort. „Ich nehme an eher nicht. Sie bevorzugen sicher die Zigarren des Bürgermeisters. Ist schwer den Gestank aus den Kleidern zu kriegen, nicht wahr? Nun wie dem auch sei. Kommen wir zum wesentlichen.“ Er griff nach einem Glas Cognac, das
auf dem Schreibtisch stand. Was den Alkohol anging, so hatte er einen guten Geschmack. Das musste Leland ihm lassen. Auch wenn Rivers sie alle meistens wie Kakerlaken zu betrachten schien. Immerhin war er nur als Anstaltsleiter ausgewählt worden um das Chaos wieder auszubügeln, das Heidenreich angerichtet hatte. Manchmal wirkte er so, als wäre ihm dieser Job zuwider. Er konnte es ihm nicht verübeln. „Sie schlagen sich gut als Ersatz für Rain. Die Patienten scheinen zufrieden, auch wenn sie sich manchmal mehr anstrengen könnten. Sie schienen die mit Brüsten zu bevorzugen, aber wir sind
ja alle nur Männer, nicht wahr? Jedenfalls leisten sie gute Arbeit, auch wenn sie dabei eher nur das tun, was sie wollen. Mir ist das gleich, solange sie Ergebnisse liefern. Ich werde sie nicht wie meine Vorgängerin traktieren, nur weil sie nicht springen, wenn ich es Befehle. In ihrer Verfassung dürfte das sowieso schwierig sein.“ Er deutete auf seine Krücke und setzte ein süffisantes Lächeln auf. Leland runzelte die Stirn und nickte. Dieser selbstgefällige Penner. Sollte er ruhig seinen Spaß haben. Immerhin hatte er sich diese Sache selbst eingebrockt. Er war es, der Kontakt zum Gremium aufnahm und jetzt musste er die Suppe
auslöffeln. Das war nicht immer leicht, aber immer noch besser, als mit Roberta als Vorgesetzter. „Ich tue was ich kann. Bevor sie mich von meiner Arbeit abhielten war ich bei Miss Wood. Es geht ihr soweit gut. Bis auf die Tatsache, dass sie und andere sich Gedanken über die Situation machen. Manche unserer Patienten sind nicht so blöd wie sie es gerne hätten. Sie wissen das etwas nicht stimmt und das sorgt für Unruhe.“ Rivers nickte und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. „Deswegen sind sie ja hier Akerman. Sie sollen dafür sorgen, dass sich die
Gemüter nicht zu sehr erhitzen. Das ist das mindeste was sie hier drinnen tun können. Das ist ihre wichtigste Aufgabe. Halten sie die Leute bei der Stange. Alles andere lassen sie unsere Sorge sein.“ Diese Zurechtweisung hätte er nicht gebraucht. Er wusste wo sein Platz war. Seit Rivers Übernahme war er derjenige, der sich um alles hier drinnen kümmerte, während Peterson damit beschäftigt war die entflohenen Patienten zurückzubringen. Wahrscheinlich glaubte Nathan, er konnte die Arbeit keinem Krüppel überlassen. Nun gut. Er beschwerte sich ja auch nicht. Besser hier drinnen, als da
draußen jedes Mal das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Peterson machte seine Sache gut. Bis jetzt hatte er bereits zwei Patienten zurück gebracht. Zwar nur aus der Kategorie A und B, aber es war ein Anfang und besser als nichts. „Klar doch. Aber es bringt auch nichts, die Situation schön zu reden, wenn sie diesen Kommentar erlauben. Snyder ist jetzt Bürgermeister und streckt seine Fühler in Richtung Willow Creek aus. Das wissen sie genau so gut wie ich. Hinzu kommt die verstärkte Aktivität der U.F.P.I. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Rivers nickte zustimmend. „Durchaus. Deshalb sind sie ja auch
derjenige, der mich über die Vorgehensweise Snyders auf dem Laufenden hält. Sie sagen mir genau was er gerade tut, selbst wenn er nur aufs Klo geht. Das war unser Deal Akerman. Sie erinnern sich doch sicher. Natürlich bin ich mir bewusst dass Snyder ein Risiko ist und nachdem wir eine Zusammenarbeit ablehnten scheint er mir auf eigene Faust versuchen zu wollen, seinen Weg in die Anstalt zu finden. Das Wachpersonal berichtet ständig von Leuten die um das Gelände herum schleichen. Heute Morgen haben wir wieder einen verjagt. Hinzu kommt natürlich die Neugierde der normalen Leute. Ihre Freundin Miss Winchester
hat die ganze Stadt mit ihrer Geschichte aufgeweckt. Jedes Mal wenn sie im Sessel in Snyders Studio sitzt kann ich schon hören, wie wieder neue Leute an unserer Tür kratzen. Reporter, Journalisten und das ganze Geschmeiß.“ Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Leland senkte den Blick. Vor der ganzen Geschichte hatten die Menschen der Anstalt nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nach Naiomis ersten Auftritt in Snyder Sendung hatte sich alles geändert. Die gesamte Grundstimmung in der Stadt war umgeschlagen. Das alles war wie ein Pulverfass, das allmählich zu explodieren drohte.
„Ich habe keinen Einfluss auf Naiomi Winchester. Das Mädchen hat ihren eigenen Kopf. Das war schon immer so. Snyder hat sie vollkommen im Griff. Es ist sinnlos in diese Richtung etwas zu versuchen. Das können sie mir glauben. Einzig Ethan Rain hätte genügend Einfluss auf die Kleine. Was wir tun können, ist den Schaden zu begrenzen. Mehr nicht. Aber was reden wir hier eigentlich? Sie haben mich doch sicher nicht nur, wegen meiner Meinung hergerufen.“ Rivers schüttelte den Kopf und drückte seine Zigarette aus, bevor er den letzten
Rest Cognac aus seinem Glas leerte. „Natürlich nicht. Wie sie wissen besteht mein Job hier nicht nur darin, in diesem Büro zu sitzen und sich durch alte Akten zu wälzen. Sie wissen wie schwierig die derzeitige Lage ist Akerman. Wir haben bereits darüber gesprochen. Der Unbekannte treibt dort draußen noch immer sein Unwesen.“ Leland nickte. „Und sie meinten, dass wir ihn gewähren lassen sollten. Was sagten sie doch gleich? Er ist ein Übel das wir brauchen. Nicht wahr?“ „Darum geht es im Augenblick nicht. Er ist auch ein Risiko, doch im Augenblick haben wir andere Dinge, um die wir uns
kümmern müssen. Dort draußen gibt es noch immer Patienten, die sehr gefährlich sind. Wir dürfen es uns nicht erlauben hier tatenlos herumzusitzen, wenn Individuen der Kategorie D weiterhin auf freiem Fuß sind. Sie haben gesehen, zu was sie im Stande sein können, oder muss ich noch einmal den Compton Fall für sie aufrollen?“ Natürlich musste er das nicht. Leland wusste genau, dass D-Patienten eine Gefahr für die Allgemeinheit sein konnten. Es war ihr Glück, dass bis jetzt nichts geschehen war. Zumindest nichts, von dem sie gehört hatten. Er fuhr sich mit der Hand durch das stellenweise graue Haar und seufzte.
Nathan zog ein paar Akten vom Schreibtisch und erhob sich. Schnurstracks ging er zur Mitte des Büros an seinen Kartentisch und breitete die Unterlagen dort aus. Akerman folgte ihm langsam. „Im letzten Jahr ist viel geschehen. Seit dem Ausbruch sind die Patienten in alle Winde verstreut und Dr. Rain war bis jetzt nicht im Stande die wirklich gefährlichen Fälle in die Anstalt zurückzubringen. Lediglich Phillip Binns, ein gefährlicher Kandidat, wurde unschädlich gemacht. Sie haben die Akte gelesen, oder?“ Leland nickte. Binns war ein Patient der Kategorie C. Ein Empath, der anderen
seinen Willen aufzwingen konnte. Nach seinem Ausbruch war er nach Tilbury geflohen und hatte sich dort niedergelassen. Ein Pech für ihn, dass er seine alten Gewohnheiten nicht ablegen konnte. Dies war letztendlich auch der Grund warum Rain ihm auf die Schliche kam. Eileen Foster musste ihn in Notwehr erschießen. Das stand zumindest in der Akte. Keine schöne Geschichte. Es zeigte, dass man nicht immer nur mit netten Worten vorankam, aber das musste er Rivers kaum erklären. „Es ist nicht so, als wäre uns dieser Umstand fremd Sir. Im Augenblick ist unser Team, wie drücke ich es am besten
aus? Ein schlechter Witz. Sie haben Peterson, gut. Aber der kann nicht alles alleine stemmen. Er hat nicht die jahrelange Erfahrung des Berufs. Er kennt die meisten Patienten nicht einmal. Verlangen sie wirklich, dass er eine Ahnung davon hat, wie er zum Beispiel mit einem Albert Wilkins umgehen soll, wenn er auf ihn trifft? Ihr Engagement in allen Ehren Rivers, aber sie wollen hier Bollwerke mit Papierkügelchen bewerfen.“ Er seufzte und schüttelte den Kopf. Der Andere legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn ernst an. „Wir wissen was wir zu tun haben Mr. Akerman. Zweifeln sie nicht. Immerhin
waren sie derjenige, der kam und das Gremium um Hilfe bat. Wir sind auf ihren Wunsch hier. Denken sie daran. Wir tun, was wir können. Außerdem haben sie den wichtigsten Bestandteil vergessen: Es gibt bereits ein Team. Wir besitzen fähige Mitarbeiter. Das Problem ist nur, dass einige von ihnen mittlerweile in andere Richtungen gehen. Wir müssen umdenken. Ein neues Team aus diesen alten und neuen Mitgliedern zusammenstellen, die uns zur Verfügung stehen. Sie und Peterson werden einen Teil davon bilden. Hinzu kommt Mr. Griffs als Ersatz für Miss Foster, die im alten Team ihre Rückendeckung darstellte. Sie werden
das ganze leiten, nun da Mr. Rain nicht mehr verfügbar ist.“ Er sah ihn perplex an. Das war doch ein Witz. „Ich weiß nicht aus welchen Hirngespinsten sie sich das wieder zusammengereimt haben, aber das können sie vergessen. Ich bin ein Krüppel, schon vergessen? Ich leiste gut Arbeit, in dem ich hier mit den Patienten spreche. Vergessen sie das nicht. Das haben sie selbst gesagt: Ich sorge dafür, dass sich die Gemüter nicht erhitzen.“ Nathan grinste und zündete sich eine Zigarette an.
„Das ist keine Verhandlungssache Mr. Akerman. Sie arbeiten für das Gremium. Sie leisten unserer Order folge. Sie werden sich schon damit arrangieren. Außerdem kennen sie die meisten Mitglieder. An einem sind sie auf ihrem Hinweg sogar vorbei gestolpert.“ Noch einer dieser Witze, die er absolut nicht leiden konnte. „Sie meinen Molly?“ „An dem Mädchen ist mehr dran, als man auf den ersten Blick sieht Mr. Akerman. Sie war eine der Neuzugänge, die Mr. Peterson in die Anstalt brachte. Natürlich habe ich meinen Einfluss geltend gemacht, damit sie nicht als
Patientin aufgelistet wird. Sie besitzt eine nützliche Gabe. Welche, werden sie noch feststellen. Ich sage nur so viel: Für ihre Arbeit wird sie unschätzbar wertvoll sein. Finden sie sich damit ab. Molly Green wird ebenfalls ein Mitglied ihrer Gruppe sein. Zusammen mit Dirk Peterson und Arnold Griffs. Sie werden die Einheit bilden, die dafür Sorge trägt die übrigen Patienten wohlbehalten nach Willow Creek zurückzubringen. In Zeiten wie diesen können wir es uns nicht leisten, wenn sie weiterhin die Städte durchstreifen. Besonders mit dem Unbekannten dort draußen. Manche Fähigkeiten sind zu gefährlich und sollten nicht in die falschen Hände
geraten.“ Leland biss sich auf die Lippen. Hier brachte es nichts ein Veto einzulegen. Rivers saß am längeren Hebel und hatte deutlich gemacht, dass er keinerlei Widerspruch duldete. Besser, man fügte sich seinem Willen. Vorerst. „Wie sie meinen. Wäre das dann alles?“ „Nicht ganz. Ein wichtiges Mitglied fehlt noch. Ich sagte bereits, ihr Team setzt sich aus neuen und alten Mitarbeitern zusammen. Ihre Aufgabe wird als erstes lauten den letzten Mann aufzusuchen und ihn von der Wichtigkeit seiner Mitarbeit zu überzeugen. Sie kennen ihn. Das wird ein Vorteil sein. Ein grundlegendes
Vertrauen ist wichtig, um ihn für diese Sache zu gewinnen.“ Damit griff der Anstaltsleiter nach einer weiteren Akte, die vor ihm auf dem Kartentisch lag. Das letzte was Leland wollte, war herum zu touren und irgendwelche Leute einzusammeln. Besonders, wenn er keine Ahnung hatte, um wen es ging. Rivers zeigte ihm die Akte. Leland konnte nicht anders, als zu lachen. „Er?! Vergessen sie's. Der wird niemals zustimmen. Da können sie Pamela Anderson aus einer Torte Hüpfen lassen. Den können sie abschreiben Rivers!“ Nathan blieb kühl und zeigte sich von Akermans Reaktion unbeeindruckt. Er
zog an seiner Zigarette und blies dem Arzt einen Schwall blauen Dunstes entgegen. „Sie werden einen Weg finden. Nehmen Sie Molly mit. Vielleicht kann ihnen das Mädchen nützlich sein. Fahren sie am besten direkt los und verlieren sie keine Zeit. Das wäre dann alles Mr. Akerman. Sie dürfen gehen.“ Wortlos sah Leland ihm nach, als er hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte. Er warf einen Blick auf die Akte. Rivers verlangte unmögliches. Immerhin war dieser Mann nicht einfach gekündigt worden. Er ging freiwillig, mit der Betonung darauf nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Er seufzte. Das
würde nicht einfach werden.